chilli – das Freiburger Stadtmagazin

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Hochschule corona

„Irgendwie alles Mist“ K

aum eine Gruppe stresst der Lockdown so sehr wie Studierende. Nur Erwerbslose trifft es schlimmer. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der AOK Baden-Württemberg. Der Fall eines Freiburger Studierenden unterstreicht das. Er sagt: 99 Prozent meiner Kommiliton·innen habe ich nicht einmal gesehen. Jonas Müller (Name geändert) kennt das Präsenzstudium: Wenigstens ein Semester konnte der 30-Jährige 2019 noch regulär in Freiburg Bildungswissenschaften studieren. Heute ist er im vierten Semester an der Uni Freiburg und hat genauso gute Noten wie früher, aber psychisch zu kämpfen: „Am meisten fehlt mir der Austausch mit den Kommilitonen“, sagt Müller. In Lerngruppen zusammensitzen, sich spontan in der UB verabreden, gemeinsam produktiv sein? Fehlanzeige. Schmerzlich vermisst er auch etwas ganz Banales, „die Präsenzmöglichkeit, irgendwie mit Menschen zu sprechen“. Vor allem Kleinigkeiten gingen im Distanzstudium verloren. JemanAnzeige

20 CHILLI April/Mai 2021

dem schnell was auf einem Arbeitsblatt zu zeigen, „das ist halt alles mit einer empfundenen Hürde verbunden“. 99 Prozent seiner Kommiliton·innen habe er nicht einmal gesehen. Seine Bilanz nach einem Jahr Lockdown: „Irgendwie ist alles Mist.“ Wie Jonas Müller leiden viele Studierende: Laut einer AOK-Umfrage fühlen sich rund 56 Prozent der Befragten stark belastet. Sie klagen über Antriebslosigkeit, Einsamkeit und Müdigkeit. Auch die fehlenden Reisemöglichkeiten schlagen ihnen überdurchschnittlich aufs Gemüt. Laut der Studie leiden nur Erwerbslose noch stärker unter dem Lockdown (73 Prozent). Auch eine Befragung der Uni Freiburg im Sommer 2020 unterstreicht das: Von rund 8500 Studierenden „gaben viele an, dass sie diese Zeit als belastend empfinden“, informiert Rimma Gerenstein von der Uni-Pressestelle. 52 Prozent klagten über fehlende soziale Kontakte, 36 Prozent über mangelnde Selbststrukturierung, 30 Prozent über Stress. Dennoch kam auch positives Feedback: „Die Studierenden zeigten sich zufrieden mit dem digitalen Semester“, so Gerenstein. Auch Jonas Müller lobt die Albert-Ludwigs-Universität: „Ich war erstaunt, wie schnell die Sachen liefen.“ Obwohl alle am „schwimmen seien“, hätten sich viele bemüht, den Studierenden das Leben leichter zu machen. Die Prüfungskommission habe ihnen sogar einen Freiversuch eingeräumt. Trotzdem sagt Müller: „Den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen ist einfach gar nichts für mich.“ Regelmäßig falle er in tiefe Löcher. Auch eine Therapie, die er vor dem Lockdown angefangen habe, könne das nicht ändern. „Ich brauche viel sozialen Austausch.“ Ein Studium lebe davon, die Fähigkeit zu entwickeln, Hilfe zu suchen und gemeinsam Probleme zu lösen. Genau das scheinen Studierende derzeit aber nicht zu tun. Die AOK-Umfrage zeigt, dass keine Gruppe so wenig professionelle psychologische Hilfe sucht wie sie. Für die gesamte Bevölkerung sind es 7,5 Prozent, bei den Studierenden nur 1,2 Prozent. Das merkt auch Matic Rozman von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Freiburg. Statistisch gesehen hätten sich 2020 so viele gemeldet wie im Vorjahr. Doch die Pandemie ist spürbar: „Unser Gesamteindruck

Foto: © iStock.com/fizkes

Wie ein Studierender im Lockdown verzweifelt


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