„90 Prozent ist Arbeit“
Langsam schickt sich Marie Lemor an, der FC Bayern des Freiburger Poetry Slams zu werden. Drei Mal in Folge hat die 31-Jährige die Stadtmeisterschaften gewonnen. Dabei scheut sich die junge Mutter nicht vor schwierigen Themen. 2024 steht ein außergewöhnliches Heimspiel an.
Slammer Sebastian 23 zu ihrem ersten Text. Als 19-Jährige trug sie den 2011 im Café Atlantik vor. „Die Präsentation war nicht so geil“, erinnert sich Lemor. Ein Tisch hätte sie für den Herzschmerz-Liebe-Text sogar ausgebuht.
von Till NeumannBewegende Themen: Marie Lemor slamt zum Leben als junge Mutter, aber auch zu Sexismus oder Depression. Das kommt an.
„Ich hab keine Zeit übrig, deswegen fange ich jetzt an.“ So trocken hat Lemor im Juli ihre Performance bei den Stadtmeisterschaften im Poetry Slam begonnen. Was dann folgt, sorgt für viele Lacher: Sie erzählt von einer Tochter, die ausschließlich Nudeln mit Pesto mag –und das nur vom Teller mit den Eulen drauf. „Ich wurde viele Dinge genannt, aber Mama ist das Krasseste“, lautet ihr Schlusssatz. Und der sitzt.
Was ihr Erfolgsrezept ist? „Wahrscheinlich Authentizität“, sagt Lemor zwei Wochen später dem chilli. Sie schreibe nur über Sachen, die sie persönlich oder gesellschaftlich bewegen und berühren. Nur so werde es gut.
Inspiration zieht die angehende Psychotherapeutin aus dem Alltag. Ideen nimmt sie mit dem Handy als Sprachmemo auf. Konkret wird es, wenn Auftritte anstehen. „Das macht den nötigen Druck, um fertig zu schreiben“, sagt Lemor. „Inspiration sind vielleicht so 10 Prozent, 90 Prozent ist halt einfach Arbeit.“
Bühnenaffin war Lemor schon immer. Erst interessierte sie das Schauspiel, dann kam sie über einen Workshop mit dem
Heute performt sie souverän, eloquent und charmant-trocken. In ihren Texten geht es auch um sexualisierte Gewalt, Depressionen oder Mental Health. „Es ist eine Gratwanderung“, sagt Lemor. Poetry Slam sei zwar ein Unterhaltungsformat, aber Kleinkunst dürfe auch einen anderen Anspruch als Klamauk haben.
Laut dem Freiburger Slam-Moderator Ansgar Hufnagel gelingt ihr das hervorragend: „Sie schafft es, mit fast allen Texten am Zahn der Zeit zu sein.“ Drei Titel in Folge seien kein Zufall. Hufnagel schätzt ihre Kunst als „lustig, ernst und tiefgründig. Einfach wahnsinnig schöne Texte“.
Für Lemor ist die Kunst Leidenschaft und Nebenerwerb: „Ich kann und will nicht davon leben.“ Ambitioniert zu Werke geht sie trotzdem. Auch mit kleinen Texten auf ihrem Instagram-Kanal „plauderpoesie“. Bei den Deutschen Meisterschaften 2021 schaffte sie es auf den vierten Platz. 2024 tritt sie bei den Landesmeisterschaften an – für Freiburg, in Freiburg.
Dass sich Lemor über den Breisgau hinaus einen Namen macht, scheint keineswegs ausgeschlossen. „Ich nehme alles mit, was ich kriegen kann“, sagt die Künstlerin. Sebastian 23 hat den Breisgau ja auch längst verlassen.
MARIE LEMOR BRILLIERT ALS DREIFACHE FREIBURG-SLAM-MEISTERIN Fotos: © Michaela KlaehnRätselhafter Einzelgänger
BEYELER ZEIGT DIE WERKE DES GEORGISCHEN MALERS NIKO PIROSMANI
von Erika WeisserWer ist dieser Niko Pirosmani, dem die in Sachen hochkarätige Ausstellungen von internationaler moderner Kunst sehr renommierte Fondation Beyeler ihre Jahresabschlussschau widmet, diese gar als Höhepunkt bezeichnet? Ist das Werk des in seiner Heimat als legendär gefeierten Malers, der 1862 in der Nähe der georgischen Hauptstadt Tbilisi geboren wurde und 1918 dortselbst starb, wirklich so großartig, dass es jetzt unbedingt auch hier entdeckt werden muss?
Offenbar schon: Kunsthistoriker sehen in Pirosmani einen „einflussreichen Vorboten der modernen Kunst“. Vielen von ihnen gilt er neben dem französischen Maler Henri Rousseau heute als wichtigster Exponent der naiven Malerei. Dennoch, heißt es in der Mitteilung zu der Ausstellung weiter, seien seine Bilder außerhalb Georgiens und der früheren Sowjetunion fast nur in – vorwie-
gend avantgardistischen – Insiderkreisen bekannt. Würden dort „fast schon kultisch verehrt“. Der westeuropäischen Öffentlichkeit hingegen sei sein Werk „in einem Maß verborgen geblieben wie bei kaum einem anderen angesehenen Künstler des 20. Jahrhunderts“.
Kunstinteressierte können bei Beyeler bald selbst beurteilen, ob die besagten Kunsthistoriker mit ihrer Einstufung richtigliegen oder nicht. Von 17. September bis 28. Januar 2024 sind hier 50 teils großformatige Malereien des „rätselhaften Einzelgängers“ und Autodidakten zu sehen, über dessen Leben nicht viel bekannt ist.
So manche biografische Hinweise geben jedoch die oft in leuchtenden Farben auf dunklem Grund gemalten Exponate: So verweisen Gemälde von Nutztieren wie Schaf oder Stier auf Pirosmanis kleinbäuerliche Kindheit auf dem Land, das natürlich auch von Wildtieren wie Bär, Hirsch oder Wildschwein bevölkert war. Auf das trotz relativer Nähe zur Stadt archaische Landleben verweist auch die Darstellung einer Frau, die mit ihren
Kindern und einem riesigen Krug zu einer Wasserstelle geht. Oder die eines Arztes, der auf seinem Esel Dorfpatientenbesuche macht. Oder eines Fischers im roten Hemd, der stolz seinen Fang präsentiert.
Sicher auch biografisch ist das an ein Poster erinnernde, besonders eindrückliche Bild eines Zugs der transkaukasischen Eisenbahn vor dem mächtig auftürmenden Gebirge: Bevor er in Tbilisi ein Milchgeschäft gründete und dann wieder aufgab, arbeitete der später teilweise obdachlose Bohemien, der sich mit der Anfertigung kunstvoller Wirtshausschilder durchschlug, als Schaffner in den Zügen dieser Linie.
In seinen Werken erweist sich der Künstler als einfühlsamer Meister der Reduktion aufs Wesentliche; die eigentümlichen Abbildungen seines Alltags werden durch ihre brillante und radikale Einfachheit zu wahrhaft ikonischen Bildern, die über seine Epoche hinaus wirken. Ja, es gibt gute Gründe, sein Werk hier zu entdecken.
Info: www.fondationbeyeler.ch
Landleben vor den Toren der Stadt: In Niko Pirosmanis bäuerlicher Welt am Fuß des Kaukasus spielen sowohl Nutz- als auch Wildtiere eine Rolle – als Transportmittel für den Landarzt, Nahrungsmittel oder Einkommensquelle für den Fischer oder als mögliche Jagdbeute.Herr Hasemann fand das Glück
AUSSTELLUNG ZEIGT „DIE ERFINDUNG DES SCHWARZWALDS“
Heute gilt der knallrote Bollenhut als Markenzeichen des Schwarzwalds. Aber wer hat diese Kopfbedeckung so bekannt gemacht und damit auch das Bild der Region geprägt? Antworten – visuell – gibt die Ausstellung „Wilhelm Hasemann und die Erfindung des Schwarzwalds“ im Augustinermuseum.
Hasemann (1850–1913) war 1880 in Gutach angekommen. Mit der Eisenbahn. Für einen Auftrag. Er war entzückt von Land und Leuten. Er blieb. Er gründete eine Malerkolonie. Herr Hasemann fand das Glück in Gutach. In der Schau ist nun zu bestaunen, worüber er gestaunt hat.
Zu sehen sind in der von Mirja Straub kuratierten Ausstellung 65 Gemälde, zahlreiche Reprofotografien,
Vorstudien, Zeichnungen und Skizzen, Buchillustrationen, Postkarten und auch originale Trachten. An einer virtuellen Hutstation können die Besucher selbst einen Strohzylinder oder einen Bollenhut anprobieren. Ein Nachbau der präferierten Atelier-Kulisse des Malers, der „Herrgottswinkel“, lädt Neugierige ein, sich selbst zu inszenieren. Zu sehen sind unberührte Landschaften, die traditionellen Bauernhäuser mit den weit ausragenden Dächern, das bäuerliche Leben, rotwangige junge Frauen mit traditioneller Kleidung.
Hasemanns Arbeitsweise offenbart erstaunliche Parallelen zu den sozialen Medien der Gegenwart mit Filterfunktionen, Optimierungswahn und der Jagd nach dem perfekten Bild. Der gebürtige Sachse war ein Meister der Inszenierung, komponierte mal wie ein Dokumentar bis ins letzte Detail, deutete dann wieder das Reale ins Irreale.
Die Bollenhüte, damals nur in Gutach, Kirnbach und Reichenbach gebräuchlich, hatten es ihm angetan. Die Bilder Hasemanns tragen eine mächtige Mitschuld an der Berühmtheit des Kopfschmucks. Es ist ein Verdienst der Schau, das zu transportieren.
„Wir freuen uns sehr, dass wir Hasemanns künstlerischen Prozess in 14 Themenbereichen so anschaulich zeigen können“, sagt Jutta Götzmann, die Leitende Direktorin der Städtischen Museen Freiburg. Das wäre ohne die zahlreichen Leihgaben, von persönlicher Korrespondenz des Künstlers über idyllische Landschaftsbilder bis hin zu detaillierten Porträtgemälden, nicht geglückt. Hasemann hat das Bild der Region deutlich mitgeprägt.
Info: Der nicht minder sehenswerte Katalog zur Sonderausstellung ist für 26,95 Euro im Museumsshop (auch online) erhältlich.
Idyllisch? Der rote Bollenhut war früher ein Erkennungszeichen für unverheiratete Frauen. von Lars BargmannHollywood im Schwarzwald
DER FREIBURGER KÜNSTLER ULRICH KLINKOSCH UND DER UNERNST DER KUNST
Die einen sind amüsiert, wenn sie seine Bilder sehen, die anderen empört – der Freiburger Künstler Ulrich Klinkosch setzt Ikonen aus der Popkultur den Schwarzwälder Bollenhut auf und regt damit nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken an.
Jeder kennt dieses Bild: Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen, mit einer überlangen Zigarettenspitze in der Hand, einem Diamantencollier um den Hals und einer funkelnden Tiara in der Hochsteckfrisur. Doch bei Klinkosch trägt sie anstelle des Diadems einen Bollenhut und frühstückt nicht bei Tiffany, sondern im Schwarzwälder Hof. Für viele ist diese Verbindung von Hollywood-Glanz und badischer Tradition ein echter Hingucker. Aber es gibt Gegenstimmen. „Mir wird auch vorgeworfen, ich hätte keine Achtung vor dem Bollenhut und würde ihn diffamieren“, sagt der Künstler, „doch das sind Menschen, die nicht weiter über den Rand hinausdenken wollen und die die Hintergrundgeschichte nicht hinterfragen.“ Der Bollenhut stammt ursprünglich aus den drei benachbarten Gemeinden Gutach, Kirnbach und Hornberg-Reichenbach. Seit etwa 1800 wurde er von evangelischen Frauen zur Tracht getragen. Gerade die Aufteilung in rote Bollen für unverheiratete Frauen und schwarze für verheiratete und Frauen mit unehelichen Kindern sieht Klinkosch kritisch. Für ihn sei das eine „Stigmatisierung“ und eine „Kategorisierung von Frauen“, die er ablehnt. Indem er bewusst Filmdiven, die mehrfach verheiratet waren, den roten Bollenhut
aufsetzt, setzt er das Kleidungsstück in einen neuen Kontext.
Gesellschaftskritische Kunst? Klinkosch lacht, hält sich mit einer klaren Antwort zurück. Er will ohnehin nicht viel über seine Bilder erzählen: „Ich möchte meinem Publikum nichts vorgeben, jeder kann das reininterpretieren, was er oder sie möchte.“
Der 74-jährige gelernte Dekorateur lebt seit 1970 in Freiburg. Er ist Vater von fünf erwachsenen Kindern und wohnt mit seiner zweiten Ehefrau in einem idyllischen Häuschen mit großem Garten in Freiburg-Hochdorf. Dort ist auch sein Atelier. Gemalt hat er schon als Kind, anfänglich Comics, später Tierbilder. „Ich habe den Tieren Artefakte oder Waffen gemalt. Die Botschaft war: Wehrt euch gegen die Menschen!“ Klinkosch ist Vegetarier. „Doch die Bilder ließen sich nicht gut verkaufen, sie waren den meisten zu düster.“ Inspiriert zu seiner Bollenhut-Reihe
wurde er von Sebastian Wehrle, einem bekannten Fotografen aus Freiamt, der ebenfalls das Motiv der Schwarzwälder Tracht in seine Arbeit einfließen lässt. 2018 entstand Klinkoschs erstes Bollenhut-Bild. Es ist sein bisher kommerziell größter Erfolg.
Anstatt sich auf nervenaufreibende Diskussionen mit seinen Kritikern einzulassen, hebt Ulrich Klinkosch heute lieber die humoristischen Aspekte seiner Kunst hervor. Die Kunstwelt sei ihm ohnehin viel zu ernst. Humor sei auch in seinem Privatleben „essentiell“. „Früher habe ich mich viel zu ernst und wichtig genommen, das ist jetzt nicht mehr so.“ Die meisten Menschen würden seine Bollenhut-Bilder wohlwollend aufnehmen. „Ich kann immer wieder beobachten, wie die Augen der Menschen aufleuchten, wenn sie meine Werke sehen. Und dann lachen sie herzlich auf. Das ist für mich das Größte.“
Klinkoschs beliebtestes Motiv: Audrey Hepburn in „Frühstück bei Tiffany“. Fotos: © Lynn Ph ạ m; Ulrich KlinkoschJeanne Du Barry – die Favoritin des Königs
Frankreich 2023
Regie: Maïwenn
Mit: Maïwenn, Johnny Depp, Benjamin Lavernhe, Pierre Richard, Melvil Poupaud u.a.
Verleih: Wild Bunch
Laufzeit: 116 Minuten
Start: 24. August 2023
Lust am Spott
MAÏWENNS KOSTÜMSPEKTAKEL ÜBER DIE MÄTRESSE VON LOUIS XV IST EIN ECHTES KINO-VERGNÜGEN
Jeanne ist die uneheliche Tochter einer Köchin und eines Franziskanermönchs. Dennoch wächst sie Mitte des 18. Jahrhunderts in einem Schloss in Lothringen auf – bei ihrer Mutter im Personaltrakt. Der Schlossherr mag das aufgeweckte Mädchen, er lehrt sie lesen und schreiben. Bis es seiner Frau zu bunt wird: Eifersüchtig auf den unstandesgemäßen Umgang ihres Gatten, sorgt sie dafür, dass Jeanne in ein Kloster verbannt wird.
Nach wenigen Jahren fliegt sie wieder hinaus – wegen unanständiger Gedanken und Handlungen. Die junge Schönheit kehrt nur kurz zurück aufs Schloss: Die Frau ihres Gönners fürchtet Jeannes unübersehbare Verführungskräfte und entlässt kurzerhand ihre Mutter. Auf der Suche nach Einkommen gehen die beiden nach Paris. Dort lernt die selbstbewusste, ehrgeizige, doch recht oberflächliche Jeanne sehr schnell, ihren Körper gewinnbringend einzusetzen – in einem Etablissement, in dem Männer aus den höchsten Dunstkreisen um König Louis XV verkehren.
Bald fällt sie dort dem Marquis du Barry auf, der sie seinerseits gewinnbringend an ebendiesen König vermitteln will, der auf Kurtisanen steht, aber irgendwie seine Lebenslust verloren hat.
Vom Marquis bekommt Jeanne den letz
von Erika Weissernem Empfang in Versailles öffnet. Dort funkt es sofort: Jeannes unverstellte und respektlose Art (sie schaut ihm in die Augen, statt den Blick zu senken) gefällt dem müden Witwer. Und das, was sie beim Tête-à-tête in seinem privaten Gemach zu bieten hat, wohl noch mehr.
Jedenfalls erklärt er sie bald zu seiner Favoritin, stellt ihr ein eigenes Schloss und Bedienstete zur Verfügung, überhäuft sie mit Geschenken und tritt bei offiziellen Anlässen mit ihr an der Seite auf – zum Entsetzen seiner Töchter und einiger missgünstiger Höflinge. Ein eher närrisches als höfisches Ränkeschmieden beginnt, doch vergebens: Über die kindlich-anarchische Lust an Spott und Provokation hinaus verbindet die beiden offenbar auch eine tiefe echte Zuneigung.
Dass Jeannes Stellung bei Hofe dennoch wackelt, liegt am wiedergewonnenen Appetit des Königs auf Mätressen, der zu einem allmählichen Überdruss an ihr führt. Und schließlich an seiner fortschreitenden Krankheit, die ihn um sein Seelenheil nach dem Tod bangen lässt: Obwohl er ihr auf dem Sterbebett seine Liebe schwört, lässt er sie in ein Kloster verbannen. Wieder einmal.
Doch bevor es so weit kommt, bietet dieses grandios inszenierte Kostümspektakel mit bestens aufgelegten Darsteller·innen ein echtes Kino-Vergnügen.
PASSAGES
FALLENDE BLÄTTER
DIE EINFACHEN DINGE
Frankreich/Deutschland 2023
Regie: Ira Sachs
Mit: Franz Rogowski, Ben Winshaw u.a
Verleih: MUBI
Laufzeit: 93 Minuten
Start: 31. August 2023
Toxische Eifersucht
(ewei). „Das passiert immer, wenn du einen Film beendest, du vergisst es nur“, stellt Martin fest, als Ehemann Tomas morgens in der gemeinsamen Wohnung aufkreuzt. Abends zuvor hatte sich der narzisstische Regisseur bei der rauschhaften Party zum Drehschluss erfolgreich an die junge Agathe herangemacht und die Nacht bei ihr verbracht. Martin hatte dem Treiben eine Zeit lang zugesehen und das Fest dann verlassen.
Obwohl tief gekränkt, macht er Tomas keine Szene und begibt sich zu seiner Arbeit in einer Druckerei. Und Tomas, dem die Gefühle der anderen ohnehin egal sind, merkt nicht einmal, dass er dieses Mal ein Grenze überschritten hat. Er zieht bei Agathe ein, will Martin aber nicht aufgeben. Er schlägt eine Dreiecksbeziehung vor –mit ihm als zentraler Figur.
Als Martin eine Affäre mit einem Schriftsteller eingeht, gerät Tomas in eifersüchtige Raserei und läuft Gefahr, durch sein toxisches Verhalten die ihm wichtigsten Menschen zu verlieren. Großartig gespielte Amour fou.
Finnland 2023
Regie: Aki Kaurismäki
Mit: Alma Pöysti, Jussi Vatanen u.a.
Verleih: Pandora Films
Laufzeit: 81 Minuten
Start: 14. September 2023
Love-Story mit Hindernissen
(ewei). Ansa ist Regaleinräumerin in einem von martialischen SecurityMännern bewachten Supermarkt. Sie lebt allein mit Radio in einer kleinen Wohnung. Holappa arbeitet auf einer großen, zeitlich streng getakteten Baustelle. Er teilt sich eine Container-Unterkunft mit einem Kollegen und trinkt viel Schnaps.
Beide sind auf der Suche nach Wegen aus der Einsamkeit – doch für mehr als gelegentliche Abende in einer bescheidenen Karaoke-Bar in Helsinki reicht es nicht. An einem solchen Abend lernen sie sich kennen – allerdings kommen nur Ansas Kollegin und Holappas Kollege miteinander ins Gespräch. Als sie sich zufällig wieder treffen, haben beide keinen Job mehr: Sie wurde erwischt, als sie eine Wurst mit überschrittenem Verkaufsdatum einsteckte. Und ihm war sein ständiger Alkoholkonsum zum Verhängnis geworden.
Der trägt auch dazu bei, dass sie zunächst nicht zusammenfinden. Doch dann entwickelt sich eine zauberhafte, zarte und ganz und gar kaurismäkische Love-Story.
Frankreich 2023
Regie: Éric Besnard
Mit: Lambert Wilson, Grégory Gadebois u.a.
Verleih: Neue Visionen
Laufzeit: 95 Minuten
Start: 21. September 2023
Verloren im Gebirge
(ewei). Vincent Delcourt lebt auf der Überholspur. Der nicht nur an Erfolg reiche Tech-Unternehmer rast von Meeting zu Meeting – im schicken Cabrio, versteht sich. Dass sein Terminkalender aus allen Nähten platzt, gefällt ihm. Und über seine nicht vorhandenen Beziehungen denkt er nicht weiter nach.
Eine Autopanne auf einer abgelegenen Landstraße in den französischen Alpen zwingt ihn innezuhalten: weit und breit keine Spur von menschlicher urbaner Zivilisation, kein Handynetz – also auch kein Notruf. Doch die Rettung naht. Ein Eigenbrötler namens Pierre kommt zufällig auf seinem Motorrad vorbei und gabelt Vincent auf.
Nächster Halt: Ein Berghof vor traumhafter Gebirgskulisse. Dorthin hat sich der wortkarge Pierre vor Jahren zurückgezogen und lebt als Selbstversorger. Und während er die Wortschwälle des Großstädters über sich ergehen lässt, schnuppert Vincent zum ersten Mal richtige Landluft – und fragt sich, ob er vielleicht doch etwas falsch macht in seinem Leben.
Foto: © MUBI Foto: © Pandora FilmsDie Selbsteinlader
WIE SICH „DIE LETZTE REIHE“ AUFS „HEROES FESTIVAL“ GEBRACHT HAT
Vier Rapper. Ein Lieblingsthema: Alkohol. Die Freiburger Crew „Die letzte Reihe“ ist bisher nur wenigen ein Begriff. Doch am 8. September treten die 20-Jährigen beim „Heroes Festival“ an der Messe auf. Wie sie sich dazu selbst eingeladen haben, erzählen Kacksen und Amadeus79 im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann.
cultur.zeit: Ihr seid „Die letzte Reihe“. Wie kamt ihr zusammen?
Amadeus79: Eigentlich durchs Abi. Wir haben 2021 dafür einen Schlager gemacht. Das war unser erster Song, er heißt „Abitur saufen“. Das war noch sehr schlecht produziert. Daraus hat sich das entwickelt.
Kacksen: Wir saßen alle in Reli in der letzten Reihe. Eigentlich war es nur so ein Joke: Lass mal ’nen neuen Abitur-Schlager bringen. Irgendwie geht der alte auf den Sack. Dadurch hat sich das zum Rap entwickelt, was eigentlich nie geplant war.
cz: Wie kam das Ding an?
Amadeus79: Bei der Abifeier kam der Song dreimal vom DJ. Alle sind abgegangen.
cz: Ihr habt nicht live gespielt?
Kacksen: Wir haben noch nie live gespielt. Der Plan ist, das erste Mal auf dem Heroes Festival in Freiburg aufzutreten. Davor brauchen wir genug Probe, dass wir da abreißen können.
cz: Seit wann macht ihr Musik mit dem Anspruch, was zu reißen?
Kacksen: Eigentlich noch nie. Ich sehe mich ein bisschen als Witz, als ernsten Witz. Und ich glaube, das ist genau die Kunst. Auch darüber sind wir aufs Heroes gekommen.
cz: Auf dem Tisch stehen Williams und Wasser. Was trinkt ihr heute Morgen?
Kacksen: Nur Wasser. Wahrscheinlich auch, weil er normalerweise nicht vor 11 Uhr aufsteht (zeigt auf Amadeus79).
cz: Habt ihr schon mal einen Track gemacht, in dem es nicht um Alkohol geht?
Kacksen: Ja. Ein paar ernstere, die nicht wirklich Gehör gefunden haben. Alkohol zieht besser (lacht).
Stehen auf Alkohol und „Abriss“: Die Freiburger Rapper Amadeus79 (von links), Joshii289, Kacksen und Daany.cz: Wenn man eure Texte hört, könnte man meinen, ihr seid Alkoholiker. Wie schlimm ist es?
Amadeus79: Geht. Wirklich, jetzt ist es gerade ein bisschen mehr, weil alles mit Uni vorbei ist.
Kacksen: Man muss schon auch die Grundlage sehen: Die Songs entstehen, wenn vier Jungs im Studio zusammensitzen, alle mit einem Bier in der Hand und dann beschließen: Boah, wir haben Bock auf einen witzigen Track und einen geilen Abend. Deswegen ist der Bezug zu Alkohol schon vorhanden. Alkoholiker würde ich uns nicht nennen.
Eigenen Weg gefunden
JAZZ-FESTIVAL MIT NEWCOMERN UND BEKANNTEN
Als Jazz-Metropole geht Freiburg nicht durch. Dennoch hat sich das hiesige Jazz-Festival – 2001 als „Gipfel du Jazz“ gestartet – einen Namen gemacht. Im September geben sich mal wieder Szene-Stars, Newcomer·innen und lokale Acts die Klinke in die Hand.
cz: „Fahrrad“ war euer erster kleiner Hit. Wie kam es dazu?
Kacksen: Wir standen zu zweit nach dem Fußballtraining an der Ecke und hatten den Anfang dieser Hook: „Ja wir cruisen mit dem Fahrrad, trag den Kasten nur zu zweit / noch ein Wegbier für die Brüder, ja der Kasten wird geteilt.“
cz: Ihr habt das Heroes selbst eingefädelt. Erzählt mal.
Amadeus79: Das ist aus einem übelsten Joke entstanden. Wir haben gesagt, komm, wir können da mal ein paar Kommentare schreiben. Als alle Künstler announct wurden, hat Kacksen das gephotoshopt und uns selber announct. Dann haben wir angefangen, Storys zu machen.
Kacksen: Wir haben denen jeden Tag oder jeden zweiten ’ne direct Message geschrieben auf Insta. Das haben wir seit Februar durchgezogen.
cz: Und dann haben sie euch kontaktiert?
Amadeus79: Irgendwann haben sie uns geschrieben. dass wir irgendwie sehr überzeugt von uns seien und dass wir mal callen sollen.
Kacksen: Er meinte: „Yo, wir haben es gefeiert, was ihr gemacht habt. Liefert jetzt mal noch ein bisschen ab.“ Dann kam von uns das Video an der Messe (bit.ly/DLR_MESSE).
Dann haben sie gesagt: „Alles klar, wir schicken euch raus.“
cz: Crazy. Wie würdet ihr euren Sound beschreiben?
Kacksen: Ich würde Party-Rap sagen.
Amadeus79: Und Alkohol-Rap. Aber Party-Rap ist besser.
cz: Letzte Frage: Was macht ihr anders als andere?
Kacksen: Es gibt bei uns nur, dass wir uns nicht zu ernst nehmen und Bock haben, durchzuziehen. Wenn man uns auf dem Splash sieht, sieht man uns nur vor einem Moshpit. Genau das ist unser Plan: Bei den Konzerten genau diesen Abriss, den wir selber fühlen, wenn wir feiern, nach außen zu bringen.
Das Jazz-Festival ist eine Kooperation von Jazzhaus und E-Werk. „Wir können uns nicht mit den ganz Großen vergleichen“, sagt Michael Musiol, Geschäftsführer des Jazzhauses. Um Events wie dem Montreux Jazz Festival nachzueifern, fehle es an Finanzen. „Das haben wir zur Tugend gemacht und unseren eigenen Weg gefunden“, berichtet Musiol. In Freiburg könnten Künstler·innen entdeckt werden, die später auf den großen Bühnen stehen. „Wir haben einen guten Riecher“, findet der Fachmann.
Der Schwerpunkt liegt bei der diesjährigen Ausgabe auf Großbritannien. „Dort passiert aktuell mit sehr vielen jungen und frischen Musikern einiges“, erklärt Musiol. Dazu gehört das Trio um den Pianisten Fergus McCreadie (Forum Merzhausen, 21. September). In dessen Musik spiegeln sich schottische Landschaft und Musiktradition sowie amerikanische und skandinavische Einflüsse wider. Ebenfalls am Start ist die Saxophonistin, Komponistin und Bandleaderin Jasmine Myra (Jazzhaus, 17. September) aus Leeds. Sie verbindet Jazz mit Elektronica.
Kein Geheimtipp mehr ist das Tingvall Trio (Jazzhaus, 19. September). Die Kombo um den Pianisten Martin Tingvall ist schon oft in Freiburg aufgetreten. „Über die Jahre sind die Musiker so etwas wie gute Freunde geworden“, berichtet Musiol. In Jazzkreisen bekannt ist auch der Sopransaxophonist Emile Parisien (E-Werk, 22. September), er gilt als ein Star der französischen Szene.
Die Freiburger Jazzlandschaft beschreibt Musiol als sehr lebendig. Davon können sich Gäste unter anderem beim Minigipfel (16. September) überzeugen. Dabei gehen Musiker·innen in Kneipen und Gaststätten auf die Bühne. Auch beim Jazz im Park (24. September) am Colombischlössle ist Musik von lokalen Künstler·innen zu hören. „Das ist eine Möglichkeit, die Szene zu unterstützen“, findet Musiol. Das Jazz-Festival läuft vom 16. bis zum 24. September. pl
Heroes Festival
Das Heroes Festival steigt am 8. und 9. September an der Freiburger Messe. Es kommen Rap-Größen wie 01099, Cro, Juju, Luciano oder Marteria. Als Freiburger sind „Die Letzte Reihe“ am 8. September ab 14 Uhr auf der Bühne zu sehen. Mehr Infos auf heroes-festival.com/freiburg
„Das ist aus einem übelsten Joke entstanden“Gute Bekannte: Das Martin Tingvall Trio kommt zum Jazz-Festival.
Rooftop-Premiere
SCHEITERN BAUMARKT / ZÜNDELS ABGANG Punkrock
Im Juli stieg erstmals eine „RooftopSession“ auf dem Dach der Sparkasse Freiburg. Die Liedermacher·innen Laura Braun aus Freiburg und Max Prosa aus Berlin spielten und talkten mit Magdalena Ganter. Die Idee kam von Thomas Walz, Macher der Streaming-Plattform inFreiburgzuhause. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann erzählt der 48-Jährige, was dahintersteckt.
Herr Walz, wie kam es zur ersten RooftopSession?
Mit der Dachterrasse der Sparkasse im Quartier Unterlinden habe ich schon immer was machen wollen. inFreiburgzuhause ist ja kein PandemieProjekt mehr. Unsere Ziele haben sich etwas geändert. Wir versuchen, Kulturtalente aus Freiburg zu zeigen und zu fördern. Die RooftopSessions sollen lokale Acts mit jemandem zusammenbringen, der schon weiter ist.
Es gibt aber nicht nur Musik. Genau. Als Moderatorin ist die Sängerin Magdalena Ganter aus Hinterzarten dabei. Sie war von Anfang an begeistert und hat Max Prosa als überregionalen Musiker ins Spiel gebracht. Die Premiere war ein toller Anfang. Wir hatten 336 Live-Aufrufe und mittlerweile mehr als 600 Aufrufe für das Video.
Geht das Format in Serie?
Wir werden jetzt Bilanz ziehen, auch mit Blick auf die Kosten. Sicher ist: Wir haben Lust auf mehr. Die RooftopSession ist kein Winterprojekt. Der Plan wäre, für das späte Frühjahr zwei, drei weitere Ausgaben zu organisieren.
Den ganzen Bericht zur Premiere: bit.ly/rt_chilli
Mehr davon
(pl). Eigentlich sind sie alte Hasen: Die fünf Musiker·innen von Scheitern sind aus Freiburger Formationen wie Redensart, Casually Dressed, Deserteur Schumann oder Dead Cats on Moped bekannt. Nun hat die Band ihre beiden ersten Songs veröffentlicht. Die in der Klimperstube aufgenommenen und auf YouTube erschienenen Tracks rumpeln mit Ecken und Kanten aus den Boxen.
„Baumarkt“ haben Scheitern Anfang des Jahres releast. Die melodiöse Nummer beginnt langsam, explodiert aber spätestens im hymnischen Refrain. Inhaltlich lässt der Track Interpretationsspielraum, unter anderem besingt Dominik Schindler einen Breakdown im Baumarkt („Und vorm Axtregal bin ich so sentimental, die letzte Bastion fällt“). Mit dem Song hat das Quintett einen sehr gelungenen Punkrock-Track geschaffen.
Auf dem Mitte Juli erschienenen
„Zündels Abgang“ – benannt nach einem Roman des Autors Markus Werner – übernimmt Gitarrist Gabriel Bechler den Leadgesang. Der Song ist zwar weniger eingängig als „Baumarkt“. Dennoch überzeugt er mit Leidenschaft und düsteren Zeilen wie „Auf Mauern wachsen Zäune, ich vermisse meine Freunde“. Die Songs machen ordentlich Bock auf mehr. Hoffentlich müssen die Punkrock-Fans darauf nicht zu lange warten.
Hymnischer Frust
(pl). Das Hardcore-Quartett steht nicht still: Erst vergangenes Jahr haben Phantom Bay ihre hochgelobte Debüt-Platte veröffentlicht, nun legt die Gruppe mit Freiburger Connection neue Songs nach: Anfang September erscheint die EP „Underground“. Die zweite Single „Collective Decline“ überzeugt mit ganz viel Leidenschaft.
Die Band um Sänger und Gitarrist Michael Hanser kommt aus Bremen. Doch wer sich mit der Szene im Breisgau auskennt, sieht bekannte Gesichter: Bassist Laurin Rutgers spielt bei Redensart und Casually Dressed, Schlagzeuger Yannic Arens war bei den Deadnotes. Gemeinsam mit Gitarrist Marc Schulz macht das Quartett treibenden Hardcore-Punk. Mit Erfolg: Gerade haben die Musiker die etablierte Band Turnstile supportet, im Oktober geht es zum legendären Festival „The Fest“ in Florida.
Mit ihren Songs werden Phantom Bay sicher auch in den USA neue Fans finden. Im April legten sie mit der Single „Ends meet“ die Latte hoch. Mit „Collective Decline“ hat das Quartett noch eine Schippe draufgesetzt. In den Lyrics beschreibt Hanser Gefühle der Ohnmacht im Angesicht der Weltlage. Trotz brachialen Gesangs und hörbarer Frustration geht die hymnische Nummer ins Ohr. Hoffentlich erhalten sich Phantom Bay die hohe Produktivität.
... zu Till L.
Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Überlegt und laut
(as). Der Freiburger Rockmusiker und Buchautor Al Page alias Alpasan Hatkoy hat im Juli sein Album „Seven“ rausgebracht. Darin führt er uns teils autobiografisch, teils allgemeingültig durch die Ups and Downs des Lebens. Die 14 Tracks sind zunächst mit kraftvollen Gitarrenriffs und rauer Stimme keine neue musikalische Offenbarung. Doch inhaltlich kommen diverse Überraschungen raus: von introspektiven Texten hinsichtlich seiner Depressionen über klassische Lovesongs bis zu originellen tanzbaren Bangern.
Ein Song aber fällt deutlich aus der Reihe: Auf „Joe must die“ besingt der Mittvierziger die Racheaktion einer reichen Lady – eine Referenz auf „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt?
Gegensätze vereint hat Hatkoy schon früher: So brachte er 2017 ein Rockalbum auf Latein raus. Sowohl literarisch als auch musikalisch hat er mehrere Liebeserklärungen an Freiburg geschrieben – inspirierend für Locals.
Durch seinen generischen Sound und sehr direkte Lyrics macht Seven nicht unbedingt Lust auf mehr Rock. Jedenfalls für Leute, die sich sonst anderer Genres erfreuen. Für eingefleischte Rocker·innen hingegen kann das gerade inhaltlich erfrischend sein.
Retro-Wolken
(tln). 1986 landete die Band Desireless mit „Voyage Voyage“ einen Hit. In mehr als zehn Ländern schoss die Nummer auf Patz eins der Charts. Mit Synthies, Elektrodrums und einer markanten Stimme bahnte sich der Ohrwurm seinen Weg.
Auf diesen Spuren wandelt auch die Freiburger Künstlerin alvva. Dahinter steht Rebecca Chazarenc, die im Juli ihren ersten Song veröffentlicht hat. Auch darin geht’s um Reisen. Und das weit über den Wolken. Dazu kommt: Die Soundästhetik ist so retro, dass man sich an Desireless erinnert fühlt. Zumal alvva nicht nur auf Englisch singt, sondern auch auf Französisch.
Zugegebenermaßen: Etwas moderner als die 80er klingt das schon. Aber mit einfachen Drums, schwebenden Synthie-Flächen und viel Platz für die zarte Stimme hat das einige Elemente einer Zeitreise. „Let’s get out of here“ singt alvva. „Je vois les nuages courants, un petit voyage autour du monde.“ Eine Weltreise steht also an, begleitet von Wolken. Tiefenentspannt kommt das daher. Verträumt wie eine Siesta in der sonnigen Provence.
Ganz so ohrwurmig wie „Voyage Voyage“ ist das Werk nicht. Ein Song für Menschen, die den Mainstream nicht mehr hören wollen oder können. Mutiger Ansatz, zeitlose Kunst zu machen. Gespannt, was als Nächstes kommt.
Es gibt, und man will sich eigentlich damit nicht rühmen, Künstler, vor denen man schon seit Jahren gewarnt hat, aus verschiedensten Gründen. Eine überregionale Tageszeitung verortete die Band von Herrn Lindemann einmal recht treffend „Zwischen Baumarkt, Gangbang und Reichsparteitagsästhetik“. Klingt lustig, ist es aber nicht.
Ansonsten keine Vorverurteilungen, das betrifft die Musik inklusive der Texte aber nicht. Diese haben wir schon seit Langem als das, was sie sind, identifiziert: unsäglich alberner, ironiefreier, stampfend-brachial-teutonisch abgestandener (prä/post-)pubertärer Männlichkeits-Rock mit Feuer. Aber dafür ohne Esprit, Soul und Witz.
Schlimm genug. Der kleine Till hatte wohl zudem schon immer ein Problem mit seinem ebensolchen Genital. Bringen wir’s doch hier mal auf den Punkt: Ein Riesenphallus auf der Bühne – Dr. Freud, bitte übernehmen! Wer hören und lesen kann, der ist schon immer im Vorteil gewesen. So auch bei der Kapelle und den Texten des Herrn Lindemann. Explizit sind Holzhammer-Provokationen wie „Dicke Titten“ für uns eigentlich nicht der Rede wert, aber auf alle Fälle geschmacklos und schlecht im Sinne von schlecht, schlecht eben. Die Gedichte des kleinen Till stehen dem in nichts nach. Wie gesagt keine Vorverurteilung, alles a posteriori.
Grüße aus der letzten Reihe, Ralf Welteroth für Ihre Geschmackspolizei
Wortbilder einer Dichterin
INGEBORG GLEICHAUFS NEUES BUCH IST EINE ENGAGIERTE EINFÜHLUNG IN DAS WERK DER LYRIKERIN GERTRUD KOLMAR
Ingeborg Gleichauf ist eine fleißige und produktive Autorin. In den 28 Jahren ihres freien Schriftstellerinnendaseins hat die fast 70-Jährige 15 Bücher veröffentlicht. Und sich dabei bis auf wenige Ausnahmen nicht gerade mit einfachen Themen beschäftigt. Im Gegenteil: In ihren kenntnisreichen Biografien und Porträts vorwiegend weiblicher Menschen hat sich die promovierte Germanistin und Philosophin, die aus Neustadt stammt und seit 50 Jahren in Freiburg lebt, stets mit schwierigen oder schwierig einzuordnenden Persönlichkeiten beschäftigt.
Simone de Beauvoir gehörte dazu, Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt, aber auch umstrittene Frauen wie Gudrun Ensslin. Und nun eben auch Gertrud Kolmar, die wenig bekannte „Dichterin mit den starken Wortbildern“. Wie bei den anderen mehr oder weniger namhaften Dichterinnen, Philosophinnen und Aktivistinnen hat Gleichauf auch in ihrem jüngsten Buch das Leben und Handeln ihrer Protagonistin weniger interpretiert als sorgfältig recherchiert und säuberlich, aber dennoch empathisch, analysiert.
Kolmar, zu spüren. Dadurch, dass Gleichauf viele ausführliche Beispiele aus dem lyrischen Werk dieser fast vergessenen Autorin einflicht und so Dichtung und Leben miteinander verwebt, wird das Buch dennoch zu einem sehr fundierten und genauen Porträt dieser Frau. Die nicht einmal 50 Jahre alt war, als sie 1943, nach zwei Jahre währender Zwangsarbeit in einem Berliner Rüstungsbetrieb als Jüdin nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.
Alles ist seltsam in der Welt
Gertrud Kolmar. Ein Porträt
Von Ingeborg Gleichauf
Verlag: Aviva, 2023
206 Seiten, gebunden
Die komplexen Hintergründe und Beziehungen, die sie prägten. Aber auch und vor allem „von innen heraus“ anhand der schriftlichen Spuren, die sie hinterließen: Lyrik, Prosa, Manifeste, Artikel, Tagebücher, Briefe. Über diese „Zeugnisse des intimsten Empfindens“, sagt sie, nähere sie sich jenen an, die sie zwar erforsche, jedoch nie als Forschungsobjekte sehe. Sondern als besondere Menschen.
Diese Herangehensweise erlaube ihr, schon im Prozess der Recherche eine Nähe zu der jeweiligen Person aufzubauen, aus der sich beim Schreiben ein „tiefes Verstehen“ entwickle. Diese ganz besondere –aber keineswegs distanzlose – Einfühlung ist auch in „Alles ist seltsam in der Welt“, dem biografischen Essay über Gertrud
Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben, sagt Gleichauf, sei es gewesen, die zwar sehr persönliche, aber universelle und nicht an Zeitläufte gebundene Lyrik von Gertrud Kolmar heutigen Leserinnen und Lesern nahe zu bringen. Und dabei auch der Gefahr entgegenzutreten, „alles vor dem Horizont ihres frühen und gewaltsamen Todes zu lesen“. Denn bevor sie zum Opfer wurde, habe sie gelebt. Und wurde, „indem sie die Dichterin ihres Lebens ist, zur Dichterin des Lebens überhaupt“.
Info: Am 31. August gibt es bei den Herdermer Sommerlesungen auf dem Kirchplatz die Gelegenheit, mit Ingeborg Gleichauf in eben dieses Leben der Gertrud Kolmar einzutauchen.
Beginn: 19.30 Uhr, bei Regen im Jugendforum bei der Weiherhofschule.
von Erika Weisser Foto: © Frank Berno TimmFRAU DES HIMMELS UND DER STÜRME
von Wilfried N’Sondé Übersetzung:
Brigitte Große
Verlag:
Kopf & Kragen, 2023
256 Seiten, Taschenbuch
Preis: 24 Euro
Schwarze Frau im Eis
(ewei). Num wohnt auf der dünn besiedelten westsibirischen Halbinsel Jamal im Nordpolarkreis. Er gehört zu der dort seit Urzeiten ansässigen Volksgruppe der Nenzen, die als vollnomadische Rentierzüchter leben. Num verbrachte viele Jahre zwangsweise in Moskau; seit er nach Jamal zurückkehrte, ist er Schamane und widmet sich der mit der Natur im Einklang stehenden Kultur und Lebensweise seiner Leute – und setzt sich für deren Erhalt ein.
Denn diese weltweit einmalige Lebensweise ist bedroht. Nicht nur durch die Erderwärmung, die den jahrtausendealten Permafrostboden zum Auftauen bringt. Sondern auch durch die Entdeckung riesiger Erdgasfelder. Deren Ausbeutung würde das ohnehin gefährdete ökologische Gleichgewicht in der arktischen Tundra vollends zerstören und den Indigenen ihre Existenzgrundlage nehmen.
Doch mit der russischen Gas-Mafia ist nicht zu spaßen: Mächtig, skrupellos und an nichts als der größtmöglichen Profitmaximierung interessiert, setzen sie Num und seine „ökologischen Spinner“ enorm unter Druck. Doch dann findet er nach einem Starkregen das prunkvolle, mehr als 10.000 Jahre alte Grab einer schwarzen Frau. Und hofft, die Gazprombarone mit diesem sensationellen Fund aufhalten zu können. Ein spannender Wettlauf beginnt.
von Andrej Blatnik Übersetzung:
Klaus Detlef Olof
Verlag:
Folio, 2023
253 Seiten, gebunden
Preis: 25 Euro
Punkrock in Samtschuhen
(ewei). Slowenien, das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2023, ist derzeit eher wegen schwerer Unwetter in den Schlagzeilen denn wegen seiner Literatur. Dabei gibt es eine sehr lebendige, hier jedoch weitgehend unbekannte literarische Szene.
Zu den nicht ganz Unbekannten zählt Andrej Blatnik; immerhin wurden schon 4 seiner 17 Bücher ins Deutsche übersetzt. In seinem jüngsten liefert der Journalist, Kultursoziologe und ehemalige Punkrocker eine rasante Nahaufnahme von der Genese des heutigen Staats in den späten 1980ern. Er versteht es, die Leser direkt in das Geschehen hineinzuziehen, das auf dem titelgebenden Platz seinen Lauf nimmt. Dorthin strömen die Menschenmassen – „von links, von rechts, von überall. Unaufhaltsam. Hippies, Punks, Studenten, Stadtstreicher, Gewerbetreibende, Arbeiter, Professoren, Bauern. Alle.“
Nur ein namenloser Systemkonformist zögert. Vor Ort ist er bloß wegen der Band Pankrti, die die Revolution anheizt, von der er nichts wissen will – und von der viele noch nicht wissen, dass es eine ist. Als er im Gedränge auf die samtenen Wildlederschuhe einer entschlossenen Rebellin tappt, beginnt eine verrückte, verzwickte Liebesgeschichte, die in eine ähnliche Ratlosigkeit mündet wie die Unabhängigkeit des Landes.
WEISSTANNENHÖHE
von Christoph Weiglein
Verlag:
Emons, 2023
288 Seiten, Broschur
Preis: 14 Euro
Geheime Netzwerke
(ewei). Es geschah vor 95 Jahren: Anfang Juni 1928 wurden in einem Wald auf der Weißtannenhöhe bei Breitnau zwei ermordete Frauen gefunden: die Cousinen Ida und Luise Gersbach, Lehrerinnen in Mannheim. Am 31. Mai waren sie zuletzt lebend gesehen worden, von einem Täter fehlte jede Spur. Der Fall wurde nie aufgeklärt, die rätselhafte Tat ließ viel Raum für Vermutungen, Mythen und Phantasiegeschichten. Bis heute.
Christoph Weiglein, Autor aus Villingen-Schwenningen, entwickelt aus dem Tatbestand eine sehr spannende und recht überzeugende Geschichte, die auch die politischen Verhältnisse jener Zeit thematisiert – samt dem zunehmenden Einfluss der NSDAP. So ist etwa Benedikt Falk, Anwärter bei der Kripo Freiburg, ein strammer Nazi. Von seinen republiktreuen Vorgesetzten Gerd Tanner und Hans Kaltenbach kann er zwar immer wieder ausgebremst, aber letztlich nicht wirklich gestoppt werden: Die geheimen rechten Netzwerke sind bereits zu dicht und zu wirksam. Zudem ist Staatsanwalt Tauenstein ein Opportunist und darauf bedacht, sich mit den künftigen Machthabern zu arrangieren.
Er verhindert, dass Tanner und Kaltenbach die Spur eines Auftragsmords verfolgen, in den höchste NS-Kreise verstrickt zu sein scheinen. Und nimmt dabei weitere Tote in Kauf.