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Anstrengende Freiheit?
Homo Optionis
Die Qual der Wahl: Sachertorte oder Käsekuchen? Urlaub in der Karibik oder Hüttentour in den Bergen? Aussteigerleben oder Karriereturbo? Wir entscheiden uns für Berufe, Hobbys und Partner, gegen Wohnorte, Familienpläne und Parteien. Wir wählen Lebensentwürfe und Laufbahnen, Glaubensrichtungen und Identitäten. Mit der Formel im Kopf: Auswahl = Freiheit = Zufriedenheit.
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Doch oft genug spüren wir, dass diese Gleichung nicht aufgeht. So mancher erstarrt in einem Zustand der Unverbindlichkeit: vielleicht spontan, mal sehen, je nachdem. Sind die Würfel gefallen, beginnt das große Hadern. Hätte ich nicht gesollt? Was wäre, wenn?
Du hast die Wahl: mach was draus!
Diese Zweifel überfallen uns nicht ohne Grund. Entscheiden ist schwer und war vielleicht nie schwerer als heute. Wir haben unzählige Möglichkeiten vor Augen und die Last der Verantwortung auf unseren Schultern. Das setzt unter Druck. Was also hilft dabei, sich nicht in Grübelschleifen zu erschöpfen und in ProundKontraListen zu verzetteln? Vielleicht: das Wesen der Entscheidung und ihre Rahmenbedingungen besser zu verstehen.
Denn »die Entscheidung, die sowohl in ihrer Gegenwart als auch in ihrer Abwesenheit von trivial bis lebensverändernd reicht, ist ein untrennbarer Teil unserer Lebensgeschichte«, schreibt die Psychologin Sheena Iyengar in ihrem Buch »The Art of Choosing«. Überall warten Entscheidungen
Rund 20 000 Entscheidungen treffen wir pro Tag. Die meisten von ihnen handeln wir ab, ohne weiter darüber nachzudenken – rechts oder links ausweichen, Schinkensandwich oder Käsebrezel bestellen, Nachricht tippen oder anrufen?
In diesen Strom aus Alltagsentschlüssen mischen sich auch schwerwiegendere Fragen.
Etwa die Entscheidung, welchen Partner wir wählen, wie Angehörige im Pflegefall betreut werden sollen, welchen Karriereweg wir beschreiten oder ob der Kontakt zu Familienmitgliedern abgebrochen werden darf. Antworten auf diese Fragen müssen wir meist selbst finden – anhand von Fakten, Werten, Erfahrungswissen und Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.
Moderne Bastelbiografien
Haben früher Milieus, Normen und Traditionen die
Werk der anonym agierenden
Richtung gewiesen, bahnen wir uns heute einen eigenen Weg durch das Dickicht an Möglichkeiten. »Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biografie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den Einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden«, schrieben die Soziologen Elisabeth BeckGernsheim und Ulrich Beck schon im Jahr 1994 in einem Aufsatz. Die Normalbiografie werde zur »Wahlbiografie«, zu einer »Bastelbiografie« und somit auch zur »Risikobiografie«. Alles sei bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, der Mensch werde folglich zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum Homo Optionis. Lisa
Auffenberg
Die Qual Der Wahl
1. »Ich muss meine Freiheit aushalten«: Erzählen Sie einander von Situationen, die zu der Schildercollage oben passen.
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2. Erinnern Sie sich an eine Entscheidung, die Sie getroffen haben. Notieren Sie: Was hat dabei den Ausschlag gegeben? Wer oder was hat mir geholfen? Wie ging es mir hinterher damit? Prüfen Sie, welche der Aussagen des Textes auf Ihre Entscheidung zutreffen.
3. »Normalbiografie«, »Wahlbiografie«, »Bastelbiografie«, »Risikobiografie«: Diskutieren Sie diese Begriffe im Blick auf das Thema Freiheit.
WIR, DIE NETZ-KINDER
Erstens: Wir sind mit dem Internet und im Internet aufgewachsen. Wir benutzen das Internet nicht, wir leben darin und damit. Wir haben online Freunde und Feinde gefunden, wir haben online unsere Spickzettel für Prüfungen vorbereitet, wir haben Partys und Lerntreffen online geplant, wir haben uns online verliebt und getrennt.
Die Fähigkeit, Informationen zu finden, ist für uns so selbstverständlich wie für frühere Generationen die Fähigkeit, einen Bahnhof oder ein Postamt in einer unbekannten Stadt zu finden. Wir wissen, dass wir die benötigten Informationen an vielen Stellen finden werden, und wir können ihre Glaubwürdigkeit beurteilen. Wir haben gelernt zu akzeptieren, dass wir statt einer Antwort viele verschiedene Antworten finden, und aus diesen abstrahieren wir die wahrscheinlichste Version und ignorieren die unglaubwürdigen. Wir müssen keine Experten in allem sein, denn wir wissen, wie wir Menschen finden, die sich auf das spezialisiert haben, was wir nicht wissen, und denen wir vertrauen können. Menschen, die ihre Expertise nicht für Geld mit uns teilen, sondern wegen unserer gemeinsamen Überzeugung, dass Informationen ständig in Bewegung sind und frei sein wollen, dass wir alle vom Informationsaustausch profitieren.
Zweitens: Die globale Kultur ist der Sockel unserer Identität, wichtiger für unser Selbstverständnis als Traditionen, sozialer Status, die Herkunft oder sogar unsere Sprache. Aus dem Ozean der kulturellen Ereignisse fischen wir jene, die am besten zu uns passen, wir treten mit ihnen in Kontakt, wir bewerten sie und wir speichern unsere Bewertungen auf Websites, die genau zu diesem Zweck eingerichtet wurden und die uns außerdem andere Musikalben, Filme oder Spiele vorschlagen, die uns gefallen könnten. Einige dieser Filme, Serien oder Videos schauen wir uns gemeinsam mit Kollegen an, oder aber mit Freunden aus aller Welt, denen wir vielleicht niemals persönlich gegenüberstehen werden. Das ist der Grund für unser Gefühl, dass Kultur gleichzeitig global und individuell wird. Das ist der Grund, warum wir freien Zugang dazu brauchen. Drittens: Die Gesellschaft ist für uns ein Netzwerk, keine Hierarchie. Wir sind es gewohnt, das Gespräch mit fast jedem suchen zu dürfen, sei er Journalist, Bürgermeister, Universitätsprofessor oder Popstar, und wir brauchen keine besonderen Qualifikationen, die mit unserem sozialen Status zusammenhängen. Der Erfolg der Interaktion hängt einzig davon ab, ob der Inhalt unserer Botschaft als wichtig und einer Antwort würdig angesehen wird. Was uns am wichtigsten ist, ist Freiheit. Redefreiheit, freier Zugang zu Information und zu Kultur. Wir glauben, das Internet ist dank dieser Freiheit zu dem geworden, was es ist, und wir glauben, dass es unsere Pflicht ist, diese Freiheit zu verteidigen. Das schulden wir den kommenden Ge nerationen, so wie wir es ihnen schulden, die Umwelt zu schützen. Wahrscheinlich ist das, was wir wollen, eine wahre und tatsächliche Demokratie.
Piotr Czerski, polnischer Dichter, Autor, Musiker und Ex-Blogger
Diese 2021 veröffentlichte Denkschrift* der EKD reflektiert, ausgehend von den Zehn Geboten, den Umgang mit dem Internet.
Freiheit digital
Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels
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FREI IM NETZ?
1. Geben Sie den drei Abschnitten des Textes passende Überschriften, in denen der Begriff Freiheit vorkommt.
2. Diskutieren Sie, ob die Aussagen des Textes für Sie zutreffen.
3. In der 9. Jahrgangsstufe haben Sie sich mit den Chancen und Gefahren der Digitalisierung beschäftigt. Sammeln Sie Beispiele, wie die Freiheit im Internet auch in ihr Gegenteil umschlagen kann, und formulieren Sie Anfragen an P. Czerski (z. B. in einem Forum).
4. Deuten und bewerten Sie das Cover der EKDDenkschrift. Lesen Sie ggf. Abschnitte daraus.
Exodus
• »Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft« (Dtn 5,6). Die Präambel des Dekalogs fasst die Ursprungserzählung Israels und damit die wesentlichen Elemente alttestamentlichen Glaubens zusammen: die dankbare Erinnerung, von Gott aus der Sklaverei befreit worden zu sein; die treue Verbundenheit zwischen diesem (einzigen) Gott der Freiheit und seinem Volk; die Einsicht, dass Freiheit immer gefährdet ist (zu den »Rückfällen« in der Wüste vgl. S. 15); vor allem aber die Verpflichtung, in dieser Freiheit zu leben, in Frieden miteinander und in Solidarität mit den Schwachen [5], [8]
• Historisch bleiben die in Ex bis Dtn geschilderten Ereignisse im Dunkeln. Womöglich gab es einen Auszug einer kleinen Gruppe, sicher aber nicht eines ganzen Volkes aus Ägypten. Relevant wurde die Exodustradition erst in den großen Krisen Israels, dem Untergang des Nordreichs (722 v. Chr.) und des Südreichs (586 v. Chr.) sowie dem babylonischen Exil*. Die Erinnerung an die Befreiung aus Äg ypten half dabei, die erlebten Katastrophen selbstkritisch zu reflektieren und eine eigene jüdische Identität zu entwickeln.
• Im jüdischen Talmud heißt es: »In jeder Generation muss man sich so betrachten, als wäre man selbst aus Ägypten ausgezogen«. Der Exodus – jährlich im Pessachfest vergegenwärtigt – wird zum Modell für jede Erfahrung der Unterdrückung und für die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung [9]
Eine Psychologische Deutung Des Exodus
All die Szenen, wie Israel zu seiner Freiheit und zum Ort seiner Bestimmung gelangt, sind Bilder und Stationen des Prozesses, den ein jeder von uns durchlaufen muss, um sich selbst zu finden. Alles, was Israel in seiner äußeren Geschichte durchgemacht hat, sind typische Marksteine auf dem inneren Weg eines jeden Menschen, der endlich einen eigenen Grund und Boden unter die Füße bekommt.
Aber der Weg dahin ist lang. Keine Station kann dabei überschlagen werden. In jeder finden wir uns wieder. Eugen Drewermann
Vielleicht wird dich dein Kind einmal fragen: »Was soll das alles, diese ganzen Vorschriften, Gesetze und Bestimmungen? Warum hat der HERR, unser Gott, sie uns befohlen?« Wenn dein Kind so fragt, sollst du ihm antworten: »Wir waren Sklaven in Ägypten und mussten für den Pharao arbeiten. Aber der HERR hat uns aus Ägypten geführt – mit seiner starken Hand.
Dtn 6,20 f. (BasisBibel)
»LET MY PEOPLE GO«
1. Das surrealistische Bild von W. Lettl (oben) lädt zum Phantasieren ein. Sammeln Sie Assoziationen und überlegen Sie, wie diese zum Bildtitel »Exodus« passen.
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2. Wiederholen Sie wichtige Stationen der ExodusÜberlieferung (orientieren Sie sich an den Überschriften in Ex bis Dtn); beziehen Sie auch S. 15 mit ein.
3. Identifizieren Sie, ausgehend von den Aussagen J. Assmanns und J. Rosens ( S. 115), Motive von Freiheit und Unfreiheit, Gewalt und Humanität in ausgewählten Texten der Exodus-Erzählung.
4. Suchen Sie nach Beispielen aus Familie und Gesellschaft dafür, wie Erinnerungen zu Deutemodellen und Orientierungshilfen für die eigene Lebensführung werden können.
5. Informieren Sie sich über die von J. Assmann aufgeführten Befreiungsbewegungen. Hören Sie sich entsprechende Spirituals und Gospels an (z. B. »Oh Freedom«, »When Israel was in Egypts Land«).
6. Deuten Sie das Cover von J. Assmanns Exodusbuch ( S. 115).
7. Versuchen Sie, E. Drewermanns psychologische Deutung (links) auf Ihre eigene Lebenssituation und Ihre eigenen Zukunftspläne zu beziehen.
BEFREIUNG, GEWALT, HUMANITÄT
Anlässlich des Erscheinens seines Buches »Exodus« wurde der Ägyptologe Jan Assmann von dem Journalisten Philipp Gessler interviewt; hier ein Auszug: P. Gessler: Die Wirkungsgeschichte der Exodus-Erzählung ist enorm. Viele Bewegungen, auch viele politische Bewegungen, haben sich auf die Exodus-Erzählung berufen.
J. A ssmann: Ja, natürlich – »Let my people go!« Das fängt am deutlichsten an mit der puritanischen* Revolution in England, der Auswanderung der Pilgrim Fathers* nach Amerika, die sich nun wirklich als das neue auserwählte Volk gefühlt haben und Amerika als das neue gelobte Land sahen. Und das zieht sich durch die gesamte amerikanische Geschichte. Exodus wird zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten, und die ersten Präsidenten werden als neuer Moses gefeiert, die werden in diese Tradition gestellt. Aber das gilt auch für die Buren*, als sie nach Südafrika zogen, auch ganz im Bewusstsein, als neues auserwähltes Volk in ein neues Kanaan aufzubrechen, mit dem Auftrag, die dort wohnenden Ureinwohner zu vertreiben und umzubringen – das ist eben die Schattenseite dieser Überlieferung. Ja, und dann aber sind es wiederum die Sklaven der Südstaaten, die diese Überlieferung der Befreiung, der Auswanderung nun zu ihrem Programm machen. Da wäre noch die Befreiungstheologie* zu nennen in Südamerika, und auch die Trauer um Nelson Mandela*, der als ein neuer Moses gefeiert wurde. Aber es bleibt dabei, dass mit dieser Exodus-Erzählung immer auch Gewalt mit einhergeht?
So ist es.
Auf der anderen Seite beschreiben Sie in Ihrem Buch, dass die Exodus-Geschichte neben dieser, sagen wir mal, Gewaltgetränktheit auch etwas mit Humanität zu tun hat. Ja , das finde ich besonders eindrucksvoll. Also, in Ex 23, da begegnet der Vers: »Den Fremden sollst du nicht unterdrücken, denn du kennst die Seele des Fremden, da du ja selbst ein Fremdling in Ägypten warst.« Das finde ich sehr bemerkenswert, das ist eine Definition von Empathie. Und dass das an einer so zentralen Stelle steht, also man zieht aus der Unterdrückung in Ä g ypten nicht etwa die Lehre der Rache, also den Ägyptern werden wir es heimzahlen oder so, sondern man zieht daraus die Lehre der Humanisierung, des Mitleids, der Empathie mit den Armen, den Verfolgten, den Fremden, den Unterprivilegierten.
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AUS EINER PESSACH-PREDIGT
Schon vor 2.000 Jahren entschieden die Rabbiner, dass wir die Freude über unsere Freiheit dämpfen müssen, gerade weil unsere Freiheit anderen Menschen Leid bringen kann. Deshalb vergießen wir beim PessachMahl bis auf den heutigen Tag etwas Wein aus unserem Glas, immer wenn die Rede auf das Leiden anderer kommt, und wir beschränken die Anzahl der Psalmen, die wir zum Preis Gottes, der uns befreit hat, singen, weil Ägypter dabei umkamen.
Der Midrasch* lehrte uns auch, dass nichts jemals schwarz und weiß ist; deshalb ist es so wichtig, stets die andere Seite zu sehen. Zu viele von uns sind noch immer in dem unerträglichen Strudel von Gewalt und Rohheit gefangen, in einem Konflikt, der daraus entsprang, dass zwei Völker die gleiche Heimat beanspruchen. Nichts beleidigt meine jüdischen Werte mehr, als wenn ich höre, wie auf beiden Seiten Hass ausgespien wird – umso mehr, wenn er den sittlichen Werten, für die wir stehen, diametral widerspricht. Viele Muslime und Christen empfinden das Gleiche, wenn sie hören, wie ihre Friedens und Liebesreligionen sich in Dogmen des Hasses verwandeln.
R abbiner Jeremy Rosen