![](https://assets.isu.pub/document-structure/230208094509-e5a2962aa0d330972ed10a0ea41d1b47/v1/0add8c9b00bff1b522b5adb01b2efbd1.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
4 minute read
Alternativlos?
AUS EINEM INTERVIEW MIT GERHARD ROTH*
Nach Auffassung einiger Hirnforscher ist der freie Wille eine Illusion: Das, was als Wahlfreiheit erscheint, ist die Folge einer Hirnaktivität, die dem bewussten Willen vorausläuft.
Advertisement
Handelt es sich wirklich um eine freie Entscheidung, wenn einfach nur ein paar Millionen Neuronen interagieren?
Sie verwechseln Willens mit Handlungsfreiheit. Wenn Sie jemand fragt, warum Sie hier sitzen, antworten Sie: Weil ich das so will. Das ist Handlungsfreiheit. Anders aber ist es, wenn Sie fragen: Wer oder was bestimmt den Willen?
Wie lautet Ihre Antwort?
Die gab der Amerikaner Benjamin Libet* schon Anfang der Achtzigerjahre. Libet war Katholik. Er untersuchte im Detail, was bei einer einfachen Handbewegung im Gehirn vor sich geht, und wollte dabei die Willensfreiheit des Menschen beweisen. Das ging nach hinten los. Sein Experiment zeigte nämlich, dass der Bewegungsimpuls 300 Millisekunden vor dem Moment auftrat, in dem seine Probanden den Entschluss dazu fassten. Libet folgerte: Eine Willensfreiheit gibt es nicht. Wenn wir glauben, eine Entscheidung zu treffen, ist sie im Gehirn längst gefallen. Das gilt allerdings nur für solch einfache Bewegungen.
Das klingt, als wären wir von unserem Gehirn ferngesteuert. Nein – das Ich ist ja ein Teil des Gehirns. Was Libet gezeigt hat, erleben wir doch jeden Tag beim Autofahren. Außer Fahranfängern macht sich niemand groß Gedanken darüber, wann er in den zweiten Gang schaltet – wir tun es einfach. Trotzdem sagen wir: Ich war das. Nur bei komplexen Situationen oder Aufgaben müssen wir überlegen.
Wer oder was legt fest, wie sich die Neuronen in meinem Kopf nun verhalten?
Unser Verhalten wird durch drei Faktoren bestimmt: die Gene; die prägenden Erfahrungen in früher Kindheit; unsere spätere Erfahrung und Erziehung. Was wir bisher am meisten unterschätzt haben, ist die frühkindliche Prägung. Traumatische Erfahrungen in dieser Lebensphase können das Gehirn eines Kindes nachhaltig verändern und sind später nur noch schwer zu reparieren. Grundsätzlich aber bewirkt jede psychische Veränderung auch eine neuronale Veränderung im Gehirn. Sind S traftäter in der Regel also eher krank als böse? Klinisch gesehen, ja, und dies spricht dafür, dass sie im
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. »Ich konnte nicht anders.
»Die Freiheit nehm’ ich mir.
WILLENSFREIHEIT – EINE ILLUSION?
1. Tauschen Sie sich über die Redewendungen, die Karikatur und die Sprüche ( S. 121) sowie die darin zum Ausdruck kommenden Erfahrungen eines (un)freien Willens aus. Formulieren Sie hiervon ausgehend Thesen zum Verhältnis von Freiheit und Willen.
2. »Das gilt allerdings nur für solch einfache Bewegungen.« – Recherchieren Sie kritische Anfragen zum bekannten Libet-Experiment*.
3. Fassen Sie das Interview mit G. Roth* thesenhaft zusammen und diskutieren Sie mögliche Konsequenzen für das Strafrecht.
herkömmlichen Sinn nicht schuldig sind. Fast alle Diktatoren und Massenmörder waren als Kind auffällig. Sie litten, vielleicht genetisch bedingt, unter übermäßigem Egodrang und empfanden Beschämungen und Ausgrenzungen als unerträglich. Diese Menschen wollten sich daher an der Welt rächen. Woher rührt diese Instanz?
Von unserer Prägung und Erziehung. Wären wir in einem Slum aufgewachsen, hätten wir vielleicht auch kein Unrechtsbewusstsein.
DER FREIE WILLE – AUS DER PERSPEKTIVE DES PHILOSOPHEN PETER BIERI*
Philosophen und Neurobiologen unterscheiden sich nach der Ansicht von Peter Bieri darin, wie sie mit dem Wort »Willensfreiheit« umgehen. »Es gab in der Philosophie den Gedanken, dass der Wille nur frei ist, wenn er keine Vorgeschichte hat. Doch das ist falsch. Der Wille ist dann frei, wenn er auf die richtige Weise von einer Person kontrolliert wird.« Die Entdeckungen der Neurobiologie erkennt Bieri dennoch an. »Es leuchtet ein, dass nichts in der Psyche eines Menschen passiert – kein Glücksgefühl, keine Angst, keine Freude und eben auch keine Willensentscheidung –, ohne dass etwas im Gehirn geschieht.« Was ist dann der Wille? Der Wille ist derjenige unter unseren vielen Wünschen, der sich durchsetzt und in einer Handlung mündet. Und wo ist der Wille? Nicht an einer bestimmten Stelle im Menschen lokalisierbar, auch nicht im Gehirn. Bieri sagt: »Der Wille ist nicht getrennt von der Lebensgeschichte oder der Situation, sondern die Freiheit des Willens besteht in der richtigen Bestimmung des Willens durch kontrollierendes Überlegen.« Wenn jemand nach dem Abitur über die Berufswahl und die eigenen Fähigkeiten nachdenkt, ist er am Ende vielleicht überzeugt, Anwalt werden zu wollen. Die Entscheidung wurde dann aus freiem Willen getroffen.
Nach Bieri lautet die Formel: Die Freiheit des Willens ist so groß wie die Selbsterkenntnis und die Selbstkontrolle. Je besser wir über uns Bescheid wissen – wer wir sind, wie wir denken, was wir möchten –, desto besser wird es uns gelin
Wenn ihr die Wahl habt, DAS BAD ZU putzen oder zum SPORT ZU GEHEN, welche Serie schaut ihr dann?
WILLENSFREIHEIT – ÜBUNGSSACHE?
1. Arbeiten Sie die Hauptthesen von P. Bieri* zur Willensfreiheit heraus. Entwickeln Sie auf dieser Grundlage Ideen dafür, wie Schule einen Beitrag zur Freiheitserziehung leisten kann.
2. Bringen Sie die Positionen von G. Roth* ( S. 120) und P. Bieri* miteinander ins Gespräch.
![](https://assets.isu.pub/document-structure/230208094509-e5a2962aa0d330972ed10a0ea41d1b47/v1/00cdb8c5ebe2942c0692af90635cb823.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
3. Formulieren Sie Bedingungen für eine Entscheidung, die Sie als »frei« deuten. Identifizieren Sie in diesem Sinne freie Entscheidungen, die Sie heute bzw. in der letzten Woche getroffen haben.
gen, den Willen unter Kontrolle zu bringen, ihn zu bewerten und zu verstehen. All das kann man üben. So gesehen ist Willensfreiheit das Resultat von Arbeit. Die Freiheit des Willens setzt sich zusammen aus Erinnerungen, Emotionen, Überzeugungen und Vorstellungen. Es ist auch dann eine freie Willensentscheidung, wenn jemand Anwalt werden möchte, weil seine Eltern es wünschen oder weil er denkt, er könnte sich als Anwalt am ehesten drei Autos und ein Haus kaufen – solange der Wille kontrolliert ist. Zur Kontrolle des Willens kommen zwei weitere wichtige Punkte, die einen Willen erst zu einem freien Willen werden lassen: Er muss von demjenigen, der ihn hat, gutgeheißen werden und der Mensch muss seinen Willen verstehen. Das Gegenteil wäre der Wille eines Süchtigen oder psychisch Kranken. Aber einem unfreien Willen ist man nicht hilflos ausgeliefert. »Freud* hat gesagt: Wenn man durch eine Therapie eine Neurose behebt, dann gibt man dem Betroffenen die Freiheit zurück«, erklärt Bieri. Abstrakte Intelligenz, wie etwa mathematische Begabung, hilft bei der Suche nach dem freien Willen nicht. Viel wichtiger ist die Beobachtung des eigenen Verhaltens und des Fühlens. Und eine spezielle Form von Bildung: Ein gebildeter Mensch ist einer, der nicht glaubt, dass seine Art zu leben die einzig richtige und mögliche ist. Er besitzt stattdessen die Fähigkeit, sich ganz verschiedene Lebensweisen vorstellen zu können. Deshalb ist der gebildete Mensch einer, der weiß, was in der Welt und im menschlichen Leben alles vorkommen kann. Auf Reisen zum Beispiel kann man solche Er fahrungen machen. Auch Lesen fördert das Einfühlungsvermögen in andere Personen.
Julia Decker