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Gewissen

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Quellenverzeichnis

Quellenverzeichnis

Herausforderung Gewissen

Mit dem Gewissen ist das Menschsein des Menschen angesprochen. In Anlehnung an Luther könnte man sagen, der Mensch hat nicht ein Gewissen, er ist Gewissen. Der Mensch unterscheidet sich von übrigen Lebewesen dadurch, dass er zu sich selbst in ein Verhältnis treten kann. Er kann mit sich selbst im Zwiegespräch sein. Er kann bestimmte Ereignisse, Erfahrungen, Herausforderungen im Leben in Bezug zu sich selbst setzen. Wenn ich höre und sehe, wie meinen Mitmenschen Unrecht zugefügt wird, wie sie gedemütigt werden, etwa durch Mobbing im Netz oder durch Stigmatisierung ihres Aussehens, ihrer sozialen Stellung oder ihrer Herkunft, dann kann ich als Mensch dazu Stellung nehmen. Ich bin der Situation nicht ausgeliefert und muss sie geschehen lassen, sondern kann dagegen sprechen, dagegen vorgehen. Nun gibt es aber auch Situationen, die gerade dies schwierig machen und eine große Herausforderung für den Einzelnen bedeuten. So kann eine solche Haltung, die Missstände offenlegt, dadurch erschwert werden, dass etwa in der Peergroup, in der ich mich aufhalte, meine Einschätzung nicht geteilt oder sogar nicht geduldet wird und ich selbst – wenn ich sie äußere – von Ausschluss und Mobbing bedroht bin.

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Solche Herausforderungen stellen sich nicht nur im kleinen zwischenmenschlichen Bereich ein, sie können sich auch auf einen größeren politischen Rahmen beziehen, wenn etwa in totalitären Gesellschaften keine regierungskritischen Meinungen geäußert werden dürfen. Hier stehen nicht nur der Mut des Einzelnen, sondern die Frage der Normenbefolgung und die Berechtigung des Widerstands zur Debatte. Ist das Gewissen eine Instanz, die normwidriges Verhalten zulässt oder dies sogar moralisch gebietet? Und wer oder was befindet über die Legitimität solchen normwidrigen Verhaltens? Welche Rolle spielen dabei menschliche Freiheit, Würde und Selbstbestimmung, und wie verhalten sie sich zu einer übergeordneten Instanz, die Weisungen über das Richtige und Wahre enthält?

Elisabeth Gräb-Schmidt, Theologin

Der Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.

1 Sam 16,7 b

»Das Gewissen ist so eine Art innere Stimme, so etwas wie ein Instinkt, ein Gefühl dafür, was richtig und falsch ist.

»Ein gewissenloser Mensch!

»Hier kann ich nicht mit gutem Gewissen zustimmen.

»Anna ist eine gewissenhafte Schülerin.

»Mir wurde als Kind ständig ein schlechtes Gewissen eingeredet.

»Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.

»Ich habe mich entschuldigt, aber das schlechte Gewissen quält mich immer noch.

Die Rede Vom Gewissen

1. Stellen Sie die unterschiedlichen Bedeutungen von »Gewissen«, wie Sie sie auf dieser Seite finden, als Standbilder dar. Eine erste Anregung bietet das Bild oben.

2. Fassen Sie die Aussagen des Textes (links) in drei Thesen zusammen.

3. Erläutern Sie an Beispielen aus dem öffentlichen oder dem eigenen Erfahrungsbereich, worin die im Text geschilderten »Herausforderungen« für das Gewissen bestehen können.

Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.

Ps 139,23

MARTIN LUTHER ÜBER DAS GEWISSEN:

So oft Gottes Wort gepredigt wird, macht es weite, fröhliche, sichere Gewissen, denn es ist eine Botschaft der Gnade und der Vergebung.

Wer mit Traurigkeit, Verzweiflung oder anderem Herzeleid geplagt wird und einen Wurm im Gewissen hat, derselbe halte sich ernstlich an den Trost des göttlichen Wortes, danach so esse und trinke er und trachte nach Gesellschaft und Gespräch gottseliger und christlicher Leute, so wird’s besser mit ihm werden.

Ohne ein fröhliches Gewissen und ein unbeschwertes Herz vor Gott kann niemand selig werden.

Schon geMERKt? Es gehört zur Freiheit eines Christenmenschen, über sich selber lachen zu können.

(Karl-Josef Kuschel, Theologe)

Martin Luthers Gewissensverst Ndnis

Martin Luther bestritt, dass der Mensch (wie im Mittelalter gelehrt wurde) eine naturhafte Anlage habe, das Gute irrtumsfrei zu erkennen (und das Gute dann auch zu wollen). So lange das Gewissen nicht »an Gottes Wort gebunden« ist, ist es ein »irrendes« Gewissen, das den Menschen, der auf sich selbst schaut, anklagen und schuldig sprechen muss. Christus hat dieses Gewissen entmachtet: Im Glauben darf der Mensch dessen gewiss sein, dass ihm – unverdienterweise – seine Sünde vergeben ist. Das solchermaßen getröstete und befreite Gewissen vertraut auf Gott und lässt sich von seinem Willen in die Pflicht nehmen.

Das Gewissen ist der Ort im Menschen, an dem sich entscheidet, woran der Mensch gebunden ist. Das, was Luther unter gutem Gewissen, unter einem befreiten Gewissen versteht, gibt es nur im Glauben, im Vertrauen auf das Wort Gottes. Erst der Glaube macht das Gewissen frei, schafft Gewissensfreiheit. Allerdings muss das befreite, getröstete, mutige Gewissen beständig gegen das schlechte, anklagende Gewissen kämpfen, sowie der Glaube sich in beständigem Widerstreit mit dem Unglauben befindet.

Das im Vertrauen auf Gott befreite und deshalb freie Gewissen kann auch zur Freiheit gegenüber äußeren Zwängen befähigen; es kann auch z. B. die Freiheit gegenüber menschlichen Autoritäten ermöglichen und dazu motivieren, ihnen gegenüber »Gewissensfreiheit« zu verteidigen.

Karl-Friedrich Haag, Theologe

GRUND, FRÖHLICH ZU SEIN

1. »Das Gewissen kann nicht irren«, meinte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte*. Nehmen Sie dazu aus der Sicht Martin Luthers Stellung.

2. Martin Luthers Gewissensverständnis steht in engem Zusammenhang mit seiner Freiheitsschrift* (vgl. S. 124). Verdeutlichen Sie dies in einem Schaubild.

3. Deuten und bewerten Sie das Plakat (links) vor dem Hintergrund eines evangelischen Gewissensverständnisses.

AUSSCHNITT AUS DEM FILM »DIE LETZTE STUFE« 5. SZENE

Dietrich Bonhoeffer* hat sich dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen. In der Wohnung seines Schwagers Hans von Dohnanyi wird ein Attentat vorbereitet, das RudolfChristoph Freiherr von Gersdorff ausführen soll. Dohnanyi übergibt v. Gersdorff den Sprengsatz.

Dohnanyi: Kommen Sie näher, von Gersdorff! (bereitet die Bombe vor) Beste britische Chemikalien. Abwehrbestände. Scharf gemacht wird sie hier und gezündet hier

Gersdorff: In Ordnung.

Bonhoeffer (erschrocken): In die Manteltasche? Moment mal – Sie wollen die in Ihrer Manteltasche zünden? Das ist doch Selbstmord!

Gersdorff: Aber ich nehm’ ihn mit in den Tod.

Bonhoeffer: Warum zeigt ihr mir das alles? Warum bin ich hier?

Gersdorff (zu B.): Wird Gott mir vergeben?

Bonhoeffer: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass unser Gott gnädig ist und verzeiht.

Gersdorff: Segnen Sie mich bitte?

Bonhoeffer (nach längerem Nachdenken, freundlich, aber ohne Segensgeste): Denken Sie immer an die Worte Jesu: Größere Liebe hat niemand als der, der sein Leben lässt für seine Freunde.

DIETRICH BONHOEFFER* ÜBER DAS GEWISSEN

Das Gewissen ist der Ort, an dem sich entscheidet, wer ein Mensch ist. Es ruft den Menschen – so D. Bonhoeffer – zur »Einheit« mit sich selbst. Er selbst schreibt dazu: Der Gewissensruf im natürlichen Menschen ist der Versuch des Ich, sich in seinem Wissen um Gut und Böse vor Gott, vor den Menschen und vor sich selbst zu rechtfertigen und in dieser Selbstrechtfertigung bestehen zu können.

Die große Veränderung tritt in dem Augenblick ein, in dem die Einheit der menschlichen Existenz nicht mehr in ihrer Autonomie besteht, sondern – durch das Wunder des Glaubens – jenseits des eigenen Ich und seines Gesetzes, in Jesus Christus gefunden wird.

Das natürliche – und sei es das rigoroseste Gewissen erweist sich nun als die gottloseste Selbstrechtfertigung, es wird überwunden durch das in Jesus Christus befreite Gewissen, das zur Einheit mit mir selbst in Jesus Christus ruft. Das bedeutet, dass ich die Einheit mit mir selbst nur noch in der Hingabe meines Ich an Gott und die Menschen finden kann.

Das vom Gesetz befreite Gewissen wird das Eintreten in fremde Schuld um des anderen Menschen willen nicht scheuen, es wird sich vielmehr gerade so in seiner Reinheit erweisen. Das befreite Gewissen ist nicht ängstlich […], sondern weit geöffnet für den Nächsten und seine konkrete Not

»SEI

FREI UND HANDLE!«

1. Sehen Sie, wenn möglich, die Filmszene (oben) an und analysieren Sie den Dialog!

2. Fassen Sie D. Bonhoeffers* eigenen Text (rechts) zusammen und beziehen Sie ihn auf den Filmausschnitt! Bei der Entschlüsselung des Textes kann eine Skizze helfen, in der Sie die Gegensätze visualisieren: natürliches Gewissen –befreites Gewissen / Autonomie – jenseits des Ichs usw.

3. Die Bonhoeffer*-Biografie von Alois Prinz wird auch als Jugendbuch empfohlen. Erklären Sie einem jüngeren Schüler bzw einer Schülerin den Titel.

Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt –und kein Verantwortlicher kann dem entgehen – der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade.

»Ich kann doch nicht einfach …

»Was, wenn …

»Ich weiß nicht so recht …

»Wieso ich?

Zutrauen

1. Erinnern oder imaginieren Sie Situationen zu den Zitaten (oben) – tauschen Sie sich zu zweit darüber aus.

2. Beschreiben und deuten Sie das Fastenplakat und diskutieren Sie, inwieweit es zur Fastenzeit passt

3. Arbeiten Sie wesentliche Aussagen aus dem Predigtausschnitt (unten) heraus und beziehen Sie sie auf D. Bonhoeffers* Gewissensverständnis ( S. 128).

4. Mut zum Risiko – stellen Sie Verbindungen zu den Überlegungen zu »Mut« ( S. 26) her.

RISKIER WAS, MENSCH!

Wir haben der Fastenzeit dieses Jahr das Motto gegeben: »Riskier, was, Mensch! Sieben Wochen ohne Vorsicht.« Wir haben unser Leben mit Umsicht, aber auch volles Risiko zu leben – denn Gott überantwortet es uns. Glauben heißt, sich dem Leben und seinen Stürmen stellen: in der Schule, bei Klassenarbeiten, wenn man Liebeskummer hat, Krisen in der Partnerschaft zu bewältigen sind, Ärger am Arbeitsplatz droht. Wir scheitern, wenn wir uns zu viele Gedanken machen. Was kann alles passieren, wenn ich auf die muslimischen Nachbarn zugehe, um sie willkommen zu heißen? Vielleicht weisen sie mich ab ... Was, wenn ich den Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung haben, meine Unterstützung anbiete? Ob sie beleidigt sind? Was, wenn ich endlich einmal Nein sage, weil meine Kollegin ihre Arbeit wieder nicht rechtzeitig fertig kriegt und erneut meine Hilfe will? Und was, wenn ich einen in der Familie ewig unter den Teppich gekehrten Konflikt anspreche?

Es stimmt. Es ist ein Risiko, deutlich zu sagen, was man will und was nicht. Laut Protest einzulegen gegen

Ungerechtigkeit in der Firma oder jemanden in Schutz zu nehmen, der von anderen angegriffen wird. Damit riskiere ich Leben – aber ganz anders, als man zunächst meint: Ich riskiere zu leben, selbst und mit anderen zusammen. Ich nehme andere ernst und ich zeige Respekt vor mir selber – ich bleibe ehrlich und stehe zu mir, ich halte an meinen Überzeugungen fest und trete entschlossen für sie ein. Wir könnten das Risiko natürlich vermeiden. Aber nur um einen Preis, der viel zu hoch ist: wenn wir aufhören zu lieben. Denn wer liebt, der riskiert etwas mit allen Sinnen und dem Verstand. Der liebt das Leben, die Liebe, die Freiheit, die Wahrheit, der liebt seinen Nächsten wie sich selbst.

Riskier was, Mensch! Trauen wir uns etwas zu, lassen wir uns inspirieren von diesem aufregenden Gott, von seiner heiligen Unruhe, damit wir dahin kommen, wo es ungewöhnlich schön und gut für alle ist. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Es kann alles anders werden – im persönlichen, im gesellschaftlichen und globalen Leben. A us der Auftaktpredigt zur Fastenaktion »Riskier was, Mensch«, die die bayerische Regionalbischöfin Susanne Breit-Kessler in einem Fernsehgottesdienst hielt.

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