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REBELLISCHES ROM
Quadraro Rebellisches Rom
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Kaum ein Reiseführer erwähnt Roms Stadtviertel Quadraro. Obwohl in diesem Kiez im Süden der Stadt die Wände sprechen. Sie erzählen Geschichten von Kunst und Krieg, von Zusammenhalt und Aufbruch. Das Italien Magazin hat sich umgeschaut.
TEXT & FOTOS JESPER STORGAARD JENSEN
Die beiden Frösche des französischen Künstlers Veks van Hillik (1988) entstanden in Absprache mit den Hausbesitzern. Rechts: Der sympathische Lorenzo Leonetti vor seiner Trattoria Grandma.
Sobald der Besucher an der Metrostation Porta Furba aussteigt, ist klar: Dieses Viertel ist nicht irgendein Stückchen Rom. Es kann kein Zufall sein, dass hier Kunst die Metrostation schmückt. Der Künstler Ugo Spagnuolo hat sein Werk „Vuoti di memoria“ getauft: „Gedächtnislücken“. Die vielen Weinflaschen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Kunstwerk verflochtenen Symbole auf den Zweiten Weltkrieg verweisen, als Rom von der Wehrmacht besetzt war. In Quadraro wimmelt es von Erinnerungen an den Krieg, sie sind Teil des kollektiven Bewusstseins im Viertel.
Streetart Doch das Viertel ist nicht nur als Kriegsschauplatz bekannt. Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, ist es heute bekannt für ein spannendes Straßenkunst-Projekt, das Mauern und Fassaden im diesem Labyrinth von Gassen und Straßen ziert. Die Idee, das alte Viertel in ein Freilichtmuseum zu verwandeln, kam von David Vecciato. Er initiierte das Projekt M.U.Ro, eine Wortspielerei, denn muro bedeutet Mauer. Doch hier stehen die Buchstaben für „Museum of Urban Art of Rome“. Er fand verschiedene, teilweise international bekannte Straßenkünstler, die inspiriert vom Erbe dieses Viertels neue Kunstwerke schufen. Nun leuchten kreuz und quer über Quadraro verstreut 22 Kunstwerke an den Wänden. Neben den offiziellen Wandmalereien findet sich zusätzlich eine Reihe kleinerer bunter Bilder, Spuren der sprichwörtlich sprühenden Fantasie der Künstler. Ein Entdeckungsspaziergang beginnt am Tunnel von Via Decio Mure, dort hängt das erste Werk: „Il Risucchi Attore“ des Künstlers Mr. Thoms. Es ist ein riesiger farbenfroher Mund, der jeden verschlingt, der sich in den Tunnel wagt – und das ist unvermeidlich. Denn dieser Tunnel führt in den ältesten Teil Quadraros. Dorthin, wo die Wände sprechen.
Drei tote Deutsche Verschiedene Geschichten spielen im Herbst 1944, als die Wehrmacht Rom besetzte. Trotz der deutschen Überlegenheit formierte sich Widerstand in Rom. So überfiel Pasqua Giuseppe Albano alias „der Bucklige“ mit einigen Freunden am 10. April 1944 eine Gruppe Soldaten und tötete drei von ihnen. Die Vergeltung der Deutschen kam eine Woche später unter dem Namen Operation Walfisch: eine Großrazzia, denn Quadraro galt den Deutschen ohnehin als gefährlich. Sie betrachteten Quadraro als ein Wespennest. Sie wussten, Quadraro zu betreten, beinhaltete ein hohes Risiko, auf bewaffnete römische Partisanen zu treffen. Ein beliebter Spruch war damals: „Willst du dich vor der Wehrmacht verstecken, geh‘ in den Vatikan oder nach Quadraro.“ Und genau das hatten „der Bucklige“ und seine Freunde getan; sie waren in Quadraro untergetaucht. Am 17. April um 4 Uhr morgens umzingelten deutsche Soldaten das gesamte Viertel und nahmen Bewohner fest, um die Attentäter zu >
Im Uhrzeigersinn: „Baby Hulk“ des nordamerkanischen Künstlers Ron English ist eines der bekanntesten Streetart-Werke in Quadraro; Der Adler wacht über das schlafende Kind; Die Statue im Parco XVII Aprile 1944 erinnert an die Deportationen durch die Nazis im 2. Weltkrieg; Künstler Jim Avignon ließ sich offenbar von Modigliani inspirieren.
Im Uhrzeigersinn: Das asiatische Mädchen des irischen Künstlers Fin DAC. „Wespennest“: Die sieben Riesen-Wespen des Italieners Lucamaleonte sind das bekannteste Straßenkunstwerk in Quadraro; Maupal thematisierte die Auswanderung anhand der Wölfin von Rom; Wer nach Quadraro möchte, muss sich von diesem Tunnel verschlucken lassen.
finden. Sie trieben etwa 2000 Männer zwischen 19 und 50 Jahren zusammen und registrierten ihre Namen; 800 deportierten sie in Konzentrationslager in Deutschland und Polen.
Überall Kunst Bisweilen sind die Kunstwerke etwas versteckt, wie das hübsche Frauenbildnis in der Via die Pisoni. Gemalt hat es Jim Avignon, sein Stil erinnert an Modigliani. Die Straße führt kreuz und quer über ihren Körper, als sei er ein Teil der Stadt. Nicht weit davon entfernt findet sich das zweiflügelige Bild „Quadraro nel cuore“ (Quadraro im Herzen). Darauf hat der nordamerikanische Künstler Beau Stanton einen Baum abgebildet. Er steht für das Viertel Quadraro und sprießt aus einem Totenschädel, der die Gewalt der Nazis symbolisiert. Ganz in der Nähe stößt der Besucher auf das berühmteste Werk im Viertel: „Baby Hulk“. Hier hat sich der ebenfalls nordamerikanische Künstler Ron English von zwei seiner Lieblingsfiguren inspirieren lassen, nämlich Temper Tot und Mouse Mask Murphy. Hier ist das Viertel Quadraro wie ein Kind, das wächst und immer stärker wird – aller Gewalt der Nazis zum Trotz. An anderer Stelle hat der italienische Künstler Maupal die antike
Wölfin von Rom abgebildet, die sich unglücklich in den eigenen Schwanz beißt, während ihre Kinder abreisen in Richtung Berlin, London, Dublin oder Paris. Es beschreibt und kritisiert den brain drain, den Auszug tausender gut ausgebildeter junger Italiener, die im Ausland ihr Glück suchen. Auf keinen Fall verpassen sollte man jenes Kunstwerk, das sich zu einer Art Symbol für das gesamte Projekt entwickelt hat. Es heißt „Wespennest“ und stammt von der Hand des italienischen Straßenkünstlers Lucamaleonte. In der Via del Monte del Grano hat er sieben gigantische Wespen gemalt. Sie stehen für Zusammenhalt gegen Feinde von außen – ein direkter Hinweis auf den Widerstand im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2004 erhielt Quadraro die „Goldmedaille für Zivilcourage“ für diesen in den Kriegsjahren geleisteten Widerstand. Auf einem kleinen Platz erinnert eine Gedenktafel für immer an die Razzia vom 17. April 1944. Auch der benachbarte Park hält die Erinnerung an jenen tragischen Tag aufrecht: Er heißt Parco XVII Aprile 1944. Heute ist der Park ein beliebter Treff für Jugendliche und Anwohner. Sie schnappen frische Luft bei einem Standbild, dessen Anblick einem den >
Hals zuschnürt: Es zeigt einen Wehrmachtssoldaten, der auf ein zu Tode verängstigtes, vermutlich italienisches Paar mit seinem Kind herabschaut.
Küchen-Hilfe Quadraro liegt in Tuscolana, etwa fünf bis sechs Kilometer vom Stadtzentrum Roms entfernt. Das Viertel bietet keine klassischen touristischen Höhepunkte, sondern die Möglichkeit, Rom einmal anders zu erleben mit einer Mischung aus Geschichte, Kultur und „normalem“ römischen Alltag. Dazu gehört natürlich auch gutes Essen. Während im Zentrum viele Viertel spürbar unter den Folgen von Corona zu leiden haben, geht in den nur etwas weiter außerhalb gelegenen Stadtteilen der Alltag mehr oder weniger weiter. Wo im Zentrum ganze Straßenzüge erst zu einer Art Freizeitpark für Touristen und danach zu einer Geisterstadt verkamen, weil die Touristenmassen plötzlich wegblieben, da pulsiert das Leben im alten Teil von Quadraro. Trotz der Corona-Maßnahmen ist zum Beispiel die Osteria Grandma gut besucht. Das Lokal ist gemütlich, mit einem Hauch von rustikalem Vintage eingerichtet. Kein Wunder, dass es sich zu einem der beliebtesten Läden des Viertels entwickelt hat. „Ich habe das Restaurant nach meiner Großmutter Paola benannt,“ erklärt Eigentümer Lorenzo Leonetti. „Viele Bewohner von
Informationen Linea A. Gehen Sie von der Metrostation aus über die Via Decio Murebis zum Tunnel. Er führt in den alten Teil von Quadraro.
• Führungen durch Quadraro:
https://muromuseum.blogspot. com/p/t-o-u-r.html
• Osteria Grandma, Via dei Corneli 25-27
grandmaroma.it
Quadraro leben hier schon von Geburt an. Sie fahren fast nie ins Zentrum von Rom, denn hier im Viertel gibt es alles, was man braucht. Aber man sollte so einen Vorort auch nicht romantisieren, wir haben schon viele soziale Probleme“, sagt er. Er begann seinen Betrieb als Bistro, das sich mit der Zeit zu einer Osteria gemausert hat. Es ist eine besondere Gaststätte, denn Leonetti führt sie mit einer Mission. „Ich bilde junge Leute aus, vor allem Immigranten, die hier unter schwierigen Umständen leben oder junge Rumänen aus sozial schwachen Vierteln. Im Laufe der Jahre haben etwa 60 junge Leute in meiner Küche gestanden“, so Leonetti. Er war mit diesem Engagement einer der ersten in Rom. Man könnte es „soziale Integration über die Ausbildung in der Küche“ nennen. Es ist also kein Wunder, dass die Gerichte in diesem Lokal eine Mischung sind aus der typisch römischen Küche mit neuen Ideen seiner multikulturellen Auszubildenden. Aufgrund dieser direkten Kontakte unterstützt er auch die spanische Nichtregierungsorganisation Open Arms, die Bootsfl üchtlinge aus dem Mittelmeer rettet. „Sie stechen in See auf der Suche nach einem besseren Leben. Es ist selbstverständlich, dass ich sie unterstütze,“ sagt Leonetti. „Mehrere der Auszubildenden in meiner Küche sind nämlich genau auf diese Art und Weise nach
• Roms Metrostation Porta Furba liegt an der
Italien gekommen.“ •
Unten: Gemütlich sitzen in der Osteria Grandma - egal, ob drinnen oder an milden Abenden draußen. Oben: Klassiker wie Bruschetta kommen in der Osteria Grandma sehr modern auf den Tisch; die Madonna erinnert den Besucher daran: dies ist Rom.
Pasta Arrabiata
Auf Nudeln mit Tomatensauce können sich weite Teile der Weltbevölkerung verständigen. Ein jeder, der das simple Gericht zubereitet, beruft sich dabei auf Italien und seine unverwechselbare Küche. Der Bologneser Historiker Massimo Monanari zeichnet in seinem Buch die Geschichte eines Gerichtes nach, dessen Einfachheit und Variantenreichtum ihm den Weg in die Kochtöpfe der Welt geebnet hat. So entsteht eine leicht genießbare und doch gehaltvolle Lektüre. Das Buch fußt auf der These, dass mit der Pasta im ausgehenden Mittelalter eine neue Lebensmittelkategorie geschaffen wurde, deren Ursprung der Autor bei den Arabern der Autor bei den Arabern verortet.
MASSIMO MONANARI, SPAGHETTI AL POMODORO ISBN 9783803113542 VERLAG KLAUS WAGENBACH, € 19
Brüder im Krieg
Italien im Ersten Weltkrieg: In den bitterarmen Marken kämpfen zwei grundverschiedene Brüder ums Überleben. Nicola ist ein schwächlicher Junge mit dem grazilen Gesicht eines Prinzen, während sich Lupo schon früh als aufsässig entpuppt. Er schließt sich den Anarchisten an. Lupo beschützt den ängstlichen Bruder wo er kann, während er gegen die Ungerechtigkeiten der Mächtigen und die Märchen der Kirche ankämpft. Bald aber manifestiert sich, dass eine Lüge zwischen den sich, dass eine Lüge zwischen den Geschwistern steht, die ihr VerGeschwistern steht, die ihr Verhältnis schwer belastet. Dies ist hältnis schwer belastet. Dies ist die Rahmenhandlung des zweiten die Rahmenhandlung des zweiten Romans aus der Feder von Giulia Romans aus der Feder von Giulia
Caminito (1988), die in ihrer Caminito (1988), die in ihrer italienischen Heimat bereits italienischen Heimat bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. mehrfach ausgezeichnet wurde.
Mit der Familiengeschichte in Mit der Familiengeschichte in
Zeiten des aufkommenden
Faschismus stellt sie sich erstmalig den deutschsprachigen Lesern vor.
GIULIA CAMINITO, EIN TAG WIRD KOMMEN ISBN 9783803133250 VERLAG KLAUS WAGENBACH € 23
Das stillste Venedig aller Zeiten
Der Canale Grande ohne Gondeln. Der Markusplatz ohne Touristenmassen. Blühender Flieder über den menschenleeren Gassen des Dorsodouro – und ein Himmel ohne Kondensstreifen von Flugzeugen. So hat Venedig noch niemand gesehen und bis zum März 2020 hätte auch wohl kein Mensch zu träumen gewagt, dass sich die Lagunenstadt jemals so präsentieren würde. Doch dank der Corona-Pandemie und des weitreichenden Lockdowns waren die Straßen Venedigs im März und April jenes Jahres einsam und verlassen. Dies haben die beiden Fotografen Danielle und Luc Carton in einem einzigartigen Bildband dokumentiert. Das Ergebnis ist rein ein farbenfrohe Bildband mit einem gespenstischen Beigeschmack, eine für die Ewigkeit festgehaltene Augenweide, die in dieser Form hoffentlich keine Wiederholung findet.
DANIELLE UND LUC CARTON, STILLES VENEDIG ISBN 9782361954826 JONGLEZ VERLAG, € 35