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SOZIALES EUROPA

„GERECHTE MINDESTLÖHNE REALISIEREN“

EU-KOMMISSAR NICOLAS SCHMIT BEGRÜSST DIE EINFÜHRUNG DES MINDESTLOHNS IM BURGENLAND. ER LOBT AUCH DIE MASSNAHME, PFLEGENDE ANGEHÖRIGE ANZUSTELLEN. IN DER EU VERLANGT DER SOZIALDEMOKRAT MEHR SOZIALE ANGLEICHUNG.

Nicolas Schmit ist EU-Kommisliarden Euro, um Kurzarbeit und ähnlibedingungen, die einen angemessenen sar für Beschäftigung und soche Maßnahmen für Selbstständige zu Lebensstandard für alle ermöglichen. ziale Rechte. Im Interview mit unterstützen. Mitgliedstaaten haben Deshalb arbeiten wir an einer europäiBurgenland kompakt nimmt die Möglichkeit, alle verfügbaren schen Rahmenregelung für gerechte er Stellung zu den sozialen Folgen der Strukturfondsmittel, einschließlich der Mindestlöhne. Mindestlöhne sind unerPandemie, zu Mindestlohn, Pfege und verbleibenden Mittel aus dem Europäilässlich, um Geringverdiener zu schütdie soziale Säule der EU. schen Sozialfonds, umzuschichten, um zen, oft trifft es Frauen und junge Mensie ganz auf die Bewältigung der Coroschen, die am Anfang ihres Berufslebens Herr Kommissar, wie gravierend navirus-Krise auszurichten. Außerdem stehen. Mindestlöhne verbessern aber sind die Coronavirus-Folgen? haben wir eine Anpassung des Euroauch die Lebensbedingungen betroffeNicolas Schmit: Die Coronavirus-Panpäischen Hilfsfonds für die am stärksner Familien. Unser Ziel ist eine Lohndemie stellt uns alle vor bisher nie da ten benachteiligten Personen vorgesekonvergenz innerhalb der EU nach oben. gewesene Herausforderungen. Es ist hen. Hilfe muss dorthin fießen, wo sie schwer fassbar, wie sehr sich die Lage am meisten benötigt wird. Ende Mai Wie stark ist der Widerstand der seit März verändert hat. Damals hatten hat Kommissionspräsidentin Ursula Wirtschaft gegen den Mindestlohn? wir die niedrigsten Arbeitslosenzahlen von der Leyen unseren Aufbauplan In allen Mitgliedstaaten gibt es bereits seit einem Jahrzehnt, das höchste präsentiert. Über die nächsten Jahre Mindestlöhne, die entweder gesetzlich jemals verzeichnete Beschäftigungsnihinweg sollen 1,85 Billionen Euro einfestgelegt sind oder – wie in Österreich veau und die Wirtschaft wuchs in jedem gesetzt werden. Diese Mittel gilt es – durch Tarifverhandlungen erzielt EU-Land. Jetzt sind Millionen von Arzielgenau im Beschäftigungs- und werden. Aber nicht überall sind diese beitnehmern in Kurzarbeit und haben Sozialbereich zu nutzen. Ich denke in Lohnsätze ausreichend, um vor Armut Angst um ihren Arbeitsplatz, viele haerster Linie daran, die aufkommende zu schützen; mancherorts gibt es Lüben ihn schon verloren. Wir schätzen, Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jucken. Hier müssen wir ansetzen. Tatdass das BIP 2020 um 8,3 % zurückgegendarbeitslosigkeit, zu bekämpfen. sächlich herrscht insbesondere in Länhen wird. Die Arbeitslosenquote könnte Anfang Juli hat die Kommission ein Padern, wo der soziale Dialog traditionell Prognosen zufolge auf 9% ansteigen, ket verabschiedet, wonach mindestens stark ist, eine gewisse Skepsis, ob eine von 6,7% im Jahr 2019. Armut und Un22 Milliarden Euro in Maßnahmen zur europäische Initiative nicht erfolgreigleichheiten werden zunehmen. Unterstützung junger Menschen invesche gewachsene Strukturen aushebeln tiert werden. Für Junge soll eine Brücke könnte. Diese Bedenken teile ich nicht. Was macht die EU-Kommission in den Arbeitsmarkt gebaut werden. Wir wollen ja gerade die Tarifverhandgegen diese Krise? lungen in Ländern mit Nachholbedarf Die Kommission hat schnell und entWann kommt ein europäischer stärken, ohne dass dabei funktionieschieden gehandelt. Um negative FolMindestlohn? rende Systeme wie in Österreich durchgen für die Beschäftigung abzufedern, Weder die Kommissionspräsidentin einandergebracht werden. Klar ist: Wir wurde eine Reihe von Maßnahmen noch ich haben die Absicht, einen einentscheiden nichts über den Kopf der verabschiedet. Mit dem Solidaritätsinsheitlichen europäischen Mindestlohn Sozialpartner hinweg. Wir befragen sie trument SURE mobilisieren wir 100 Mileinzuführen. Wir wollen faire Rahmengerade das zweite Mal zu der Initiative.

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Was bestimmt den Mindestlohn im jeweiligen EU-Land?

Wir wollen, dass Mindestlöhne unter Berücksichtigung der nationalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen angemessen festgesetzt werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU müssen durch Mindestlöhne wirksam geschützt sein. Aber noch wichtiger sind Tarifverträge und die volle Einbeziehung der Sozialpartner. Das ist ein Element verantwortlichen staatlichen Handelns, das zu besseren wirtschaftlichen Ergebnissen führt. Wenn Mindestlöhne nicht durch Tarifverträge, sondern gesetzlich festgelegt werden, müssen sie sich an klaren Kriterien orientieren mit regelmäßigen Aktualisierungen. Mindestlohnpolitik sollte nicht willkürlich sein.

Das Burgenland hat 2020 den Mindestlohn von 1700 Euro netto in der Landesverwaltung und in landeseigenen Unternehmen eingeführt. Ist das Burgenland damit ein Vorreiter?

Die Kommission begrüßt alle Bemühungen, gerechte Mindestlöhne für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu realisieren. Das gilt unabhängig davon, ob sie im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft tätig sind. Ich betrachte Tarifverträge als Königsweg zur Etablierung gerechter Löhne. Die Kommission respektiert und unterstützt vollständig die nationalen Traditionen des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen.

Im Burgenland können pfegende Angehörige angestellt werden. Ist das ein Beitrag, um mit der Herausforderung einer alternden Gesellschaft und der damit einhergehenden Pfege fertigzuwerden?

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Kommission - Foto © EU

Angehörige erbringen in Österreich wie in anderen EU-Ländern einen wichtigen Anteil an der Pfege. Daher begrüße ich die Maßnahme des Burgenlands, pfegende Angehörige zu unterstützen. Dieser Schritt sichert die pfegenden Personen sozialversicherungsrechtlich ab und verkörpert eine regelmäßige fnanzielle Anerkennung ihrer Arbeit. Diese Maßnahme allein kann die demografsche Herausforderung und den dadurch erhöhten Pfegebedarf nicht bewältigen. Wir benötigen vor allem auch einen Ausbau der formalen Pfege, also der institutionellen oder Heimpfege, um eine Auswahl aus unterschiedlichen Pfegemöglichkeiten für die zu pfegende Person zu ermöglichen. Und da braucht es klare Qualitätsstandards. Aus Sicht der Kommission ist wichtig, dass Pfege durch Angehörige auf freiwilliger Basis erbracht wird und nicht aufgrund eines Mangels an Alternativen.

Soziale Gerechtigkeit ist die Basis sozialer Marktwirtschaft. Studien zeigen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht. Kippt die soziale Balance?

Die Pandemie beschleunigt Entwicklungen, die der schnelle Wandel unserer Arbeitswelt mit sich bringt. Ich denke daran, dass immer mehr Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten ohne ausreichende soziale Sicherung. Deshalb ist es so wichtig, den Zugang zum Sozialschutz für alle Arbeitnehmer und Selbstständigen auszuweiten und zu verbessern. Genau dies haben die Mitgliedstaaten im November 2019 vereinbart. Einen langfristigen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung kann die geplante europäische „Kindergarantie“ leisten. Wir müssen jedem Kind Rechte geben: das Recht, eine Schule besuchen zu dürfen, das Recht auf Unterricht und das Recht auf medizinische Versorgung.

Was planen Sie konkret, um die soziale Säule in der EU zu stärken?

Die europäische Säule sozialer Rechte, die die EU 2017 geschaffen hat, ist ein wertvolles Instrument. In diesen Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Turbulenzen brauchen wir solche starken Orientierungspunkte für unser Handeln. Die Säule müssen wir nutzen, um Europa sozialer und bürgernäher zu machen. Die Initiative für eine Rahmenregelung für Mindestlöhne und die Kindergarantie tragen konkret zur Umsetzung sozialer Rechte bei. Kürzlich haben wir die Europäische Kompetenzagenda vorgestellt. Um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, brauchen Menschen die richtigen Fähigkeiten. Mehr als 20 Prozent aller Erwachsenen haben grundlegende Probleme mit Schreiben und Rechnen. Mehr als 40 Prozent haben Schwierigkeiten, sich in der digitalen Welt zurechtzufnden – das macht sich in der gegenwärtigen Krise schmerzhaft bemerkbar. Die EU allein kann das nicht, wir haben auch nicht die Zuständigkeit. Wir brauchen alle Partner an Bord: Mitgliedstaaten, Sozialpartner, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Regionen, Städte und Gemeinden sowie die Zivilgesellschaft. Die Kommission hat einen umfassenden Konsultationsprozess angestoßen, um sicherzustellen, dass die Säule überall umgesetzt ist.

Es gibt keine gemeinsame EUSozialpolitik. Reichen Mindeststandards, um Gerechtigkeit zu sichern?

Es ist nicht unsere Absicht, ein einziges Sozialsystem für alle Mitgliedstaaten zu verordnen. Aber soziale Gerechtigkeit und Wohlstand für alle sind Ziele, die in den EU-Verträgen verankert sind. Die EU braucht nicht nur wirtschaftliche Konvergenz, sondern auch mehr soziale Konvergenz. Das ist auch wichtig für einen gut funktionierenden Binnenmarkt. Regeln zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicher

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heit schützen schon seit 1959 die Renten- und Krankenversicherungsansprüche europäischer Arbeitnehmer. Mindeststandards sind wichtig, z. B. im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder für Arbeitsbedingungen. Wenn es darum geht, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu schützen, kann die EU unmittelbar bindende Regeln verabschieden. Miteinander reden führt oft zu erstaunlichen Ergebnissen. Wir führen diesen Dialog mit den Mitgliedstaaten formal im Europäischen Semester. Die jährlichen länderspezifschen Empfehlungen werden offen diskutiert – da will niemand der Buhmann sein. Die Regierungen können darlegen, wo sie gehandelt und Missstände beseitigt haben. Schließlich verwendet die EU einen beträchtlichen Teil ihres Haushalts darauf, wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Regionen zu verringern und in die Menschen zu investieren. Unter den Strukturfonds wiederum ist der Europäische Sozialfonds das Hauptinstrument der EU, um Arbeitslosigkeit zu verringern, das Potenzial der Menschen zu entwickeln und soziale Integration zu fördern. n

Margaretha Kopeinig

ZUR PERSON

Geboren 10. 12. 1953 in Luxemburg; Studium (Wirtschaft, Geschichte) an der Universität Aix-Marseille III (Dr.). Karriere 1978 Forschungsbeauftragter für internationale Wirtschaft an der Uni Aix-Marseille. 1979 startet politische und diplomatische Karriere: 1983–1998 im Außenministerium; 1998–2004 EU-Botschafter in Brüssel; 2004 beigeordneter Außenminister; 2009 Minister für Arbeit, Beschäftigung und Soziales. Ab Mai 2019 EU-Abgeordneter. Seit Dezember 2019 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration.

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