DETAIL 7-8/2021 Kleine Häuser / Small Houses

Page 12

Essay

freistehendes Eigenheim: vom einfachen Fertighaus bis hin zur pseudomondänen Kleinvilla. Nun liegt es an den jungen Klimastreikenden von heute, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist doch der energetische und ökologische Fußabdruck des Einfamilienhauses unvereinbar mit dem Kampf gegen die globale Erwärmung. Sicheres Refugium Trotzdem sehnen sich noch immer viele Menschen nach einem Einfamilienhaus, das ihren Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit, Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe erfüllen soll – und die CoronaPandemie lässt ihn derzeit noch dringlicher erscheinen. Nachbarschaftsstreitereien oder soziale Isolation können sie ebenso wenig von ihrem Streben nach einem sicheren Refugium abhalten wie lange Pendlerstrecken. Und die Corona-Lockdowns der letzten Monate ließen sich wahrscheinlich im eigenen Haus dank Homeoffice, Heimunterhaltung, Gartengrill und Fitnessraum besser aushalten als in der kleinen Stadtwohnung. Nicht zuletzt deshalb wird nun das Einfamilienhaus zum multifunktionalen Lebensmittelpunkt einer neuen Ära erklärt, für die die Amerikaner bereits die Bezeichnung Age of Nesting (Zeitalter des Nestbaus) geprägt haben. Mehr noch als die Pandemie führt wohl ein neu erwachter Familiensinn dazu, dass es wieder mehr Leute aus der räumlichen Enge der gerade noch als hip gefeierten Städte in die suburbanen Einfamilienhäuser zieht. Doch die nachfragebedingte Preisexplosion lässt das Leben hinter dem eigenen Gartenzaun für viele zum unerreichbaren Traum werden, und dies, obwohl die Zahl der Einfamilienhäuser in Deutschland seit 2001 um zwei Millionen auf fast 16 Millionen Einheiten angewachsen ist. Allein schon diese Zunahme veranschaulicht, dass das Leben im Einfamilienhaus nach wie vor die beliebteste Wohnform ist, im deutschsprachigen Raum genauso wie in anderen wohlhabenden Ländern. Vorgänger des freistehenden Eigenheims waren stattliche Villen und biedermeierliche Baumeisterhäuser, die im 19. Jahrhundert als bürgerliche Antwort auf die noblen, seit der Renaissance und dem Barock außerhalb der Städte entstandenen Landsitze und Sommerhäuser errichtet wurden. Unter dem Motto My home is my castle wurde das Einfamilienhaus zum Inbegriff unantastbarer Privatsphäre. Deshalb breitete es sich gerade in den USA früh schon teppichartig um die Innenstädte aus. Ein schönes Beispiel ist Venice, das heutige Vergnügungszentrum von Los Angeles am Pazifik. An künstlich angelegten Kanälen bot dort Abbott Kinney zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kleinparzellen von rund 10 × 25 m an, auf denen die Käufer ihre Traumbauten verwirklichen konnten. Die winzigen Grundstücke machten ihr Vorhaben erschwinglich, und die hohe Bebauungsdichte erlaubte einen Anschluss an die ins 20 km entfernt gelegene Zentrum von Los Angeles fahrende Straßenbahn. Als in den Roaring Twenties das Privatauto zum Massenverkehrsmittel aufstieg, erwiesen sich die engen Quartierstrukturen von Venice als Hindernis,

7/8.2021

ROMAN HOLLENSTEIN prägte als Redakteur für Architektur und Design jahrelang das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung. 2012 erhielt er den BDAPreis für Architekturkritik. Heute ist er als freischaffender Architektur- und Kunstkritiker tätig. ROMAN HOLLENSTEIN shaped the features section of Neue Zürcher Zeitung for many years as the newspaper’s editor for architecture and design. He retired in 2017 and has been writing about architecture there as a freelancer ever since.

Das Stahl House von Pierre Koenig aus dem Jahr 1960 ist als einfaches, kostengünstiges Eigenheim gebaut. Heute gilt es als Ikone des luxuriösen Lifestyles. Pierre Koenig’s 1960 Stahl House was designed as a simple, affordable home. Today it is considered an icon of luxurious living.

the cool, eccentric design of Maison Arpel by architect Jacques Lagrange, with its porthole windows, futuristic kitchen, and minimalist garden replete with fountain, which became the epitome of the petitbourgeois paradise? It is hardly surprising that, ten years later, the generation of 1968 not only rejected their parents’ stifled and boring way of life, but also the singlefamily home that represented it. But then the revolutionaries of yore, torn between urban flat-sharing and farmhouse, had families of their own and fell into the single-family home trap themselves. Each generation since has experienced how the quest for new horizons often leads back to the small happiness of home and garden. This is one reason why every other residential building in Germany is now a detached home, from the simple prefabricated house to the pseudo-sophisticated small villa. Now it is up to today’s young climate strikers to break this vicious cycle, as the environmental footprint of the singlefamily home is incompatible with the fight against global warming. A safe refuge Many people still long for a single-family home to fulfil their desire for freedom, independence, safety, security, and tranquillity – with the Covid-19 pandemic making it all the more appealing. Squabbles with neighbours or social isolation are hardly a deterrent, any more than long commutes. And the recent pandemic-related lockdowns are better endured in a house of one’s own than in a cramped city flat – thanks to home office, home entertainment, home gym, and backyard barbecue. This also helps explain why the single-family home is being heralded as the multifunctional hub of life for a new era – the Americans have already coined it the Age of Nesting.

J. Paul Getty Trust. Getty Research Institute, Los Angeles

24


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.