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Das Private-Banking-Magazin Ihrer Sparkasse

[ Harlem ]

[ Schwanensee ]

[ Shintoismus ]

Von goldenen Zeiten

Vom getanzten Traum

Von gĂśttlicher Natur

Mercedes-Benz 500 K Spezial-Roadster, 1934 bis 1936

Geschichte auf vier Rädern Wie in Automuseen Zeit, Kultur und Technik zum Erlebnis werden

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Editorial

Wie Marken ihren Kunden ein emotionales Zuhause geben

Thomas Stoll, Chefredakteur Deutscher Sparkassenverlag thomas.stoll@dsv-gruppe.de

Unser Verhältnis zum Automobil ist nur im Ausnahmefall ein sachliches. Kaum ein anderer Gebrauchsgegenstand – und genau das ist ein Kraftfahrzeug bei näherer Betrachtung – erzeugt ein vergleichbares Maß an Emotion in vielen von uns. Wie gelingt das einer Maschine, die sich angeblich von selbst bewegt? Die Übersetzung der Kurzform „Auto“ liefert einen Hinweis darauf. Vom sich selbst bewegenden Gefährt wird das Automobil zum Selbst seines Besitzers. Diese Haltung mag man kritisieren oder lächerlich finden: Dem Besitzerstolz tut das keinen Abbruch. Positiv gewendet ist das Automobil so auch immer ein Abbild seiner Zeit. Reden wir heute vom selbstfahrenden Elektroauto mit all seinem Für und Wider, so waren die Anfänge von ganz anderen Fragen geprägt. Dies kann man in Automobilmuseen sehr gut nachvollziehen. Bereits bei der Eröffnung des Deutschen Museums in München 1925 erhielten das Auto und seine Geschichte einen festen Platz. Elf Jahre später – zum 50. Jahrestag der ersten motorisierten Straßenvehikel – präsentierte Mercedes-Benz 18 historische Fahrzeuge an einem Ort. Andere Hersteller folgten. Vor zehn Jahren änderte sich

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das Konzept, als die Hersteller den Verlust der Markenloyalität spürten. Sie positionierten sich neu und renovierten auch ihre Ausstellungshallen. Preisgekrönte Architekten und kunstvoll arrangierte audiovisuelle Unterhaltungskonzepte verwandelten die Museen in Erlebniswelten. Die Technik bekam eine Seele, die Marke ein emotionales Zuhause. Mehr dazu lesen Sie in unserer Titelgeschichte ab Seite 4. Auch Sparkassen spüren, dass Loyalität der Kunden ein großes Kapital ist. Als größter Finanzdienstleister Deutschlands wissen wir, was Sie von unserer Marke und seinem Symbol, dem Sparkassen-S, erwarten und emotional mit ihnen verbinden. Deshalb erfinden wir uns immer wieder neu, ohne unsere Tradition und Nähe zu Ihnen aus den Augen zu verlieren. Besuchen Sie uns vor Ort oder digital im Netz. Sie werden sehen, dass wir mit der Zeit gehen. Eine anregende Lektüre wünscht

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Inhalt

04 Facettenreich: Autohersteller schaffen Erlebniswelten

26 Märchenhaft: das Ballett

Fotos: Daimler AG, seasons.agency/Nils Jaspersen, srb-moskau.de; Cover: Daimler AG

vom „Schwanensee“

04 Mobile Kultur Die ersten Autos stellte das Deutsche Museum in München 1925 aus. Sie dokumentierten technischen Fortschritt. Heute unterhalten die Hersteller ihre Besucher in extravaganten Gebäuden und garantieren ein Markenerlebnis. 10 Die Herrin der Schuhe Ein Besuch bei Saskia Wittmer verrät viel über den Mut und das Geheimnis, sich als deutsche Maßschuhmacherin ausgerechnet in Italien durchzusetzen.

20 Der Weg der Kami Japans Shintoismus lehrt den Glauben an das Gute im Menschen. Das Göttliche finden seine Anhänger in mächtigen Bäumen, gewaltigen Bergen, reißenden Flüssen oder imposanten Tieren. 24 Karten-Kunst Satellitentechnik und Digitalisierung liefern detaillierte topografische Daten. Wahre Schätze der Kartografie stammen aber aus der Vergangenheit.

14 Magie der Wörter Wenn uns ein Buch berührt, können wir es nicht mehr aus der Hand legen. Dann werden Wörter, Sätze und Seiten auch zu einem Teil unseres Selbst.

26 Der getanzte Traum Tschaikowskys „Schwanensee“ ist das populärste Ballett der Welt. Im Kampf um die Liebe, im Spiel zwischen Gut und Böse erfindet sich das Stück immer wieder neu und bewahrt seinen Zauber.

16 Das Wasser des Lebens orfige Single Malts sind der Schatz der Hebrideninsel Islay im Westen von Schottland. Sie feiert jährlich mit ihren Gästen das einzigartige Fèis Ìle.

30 Harlem-Story Fast 100 Jahre nach der Blütezeit der legendären Tanz- und Jazzklubs ziehen Architektur und Kultur die Menschen wieder in das New Yorker Stadtviertel.

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Kolumne Das Gedicht Kunst Die wunderbare Welt der Farben 34 Ein Bild und seine Geschichte 34 Impressum

16 Geschmackvoll: Whisky aus den Destillerien von Islay

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Fotos: imagebroker/Olaf Krüger/Daniel Schoenen, Porsche AG

Hingehen erlaubt: Das Porsche-Museum vermeidet Barrieren, wo es geht, und schafft Nähe zu den Besuchern. Weil der Fuhrpark so groß ist, werden die Exponate häufig gewechselt – für regelmäßige Besucher spannend.

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Mobile Kultur Als Autohersteller erste Fahrzeuge ausstellten und Werksmuseen entstanden, ging es um Technik und Design. Heute stehen Unterhaltung und das Markenerlebnis im Fokus. :: Von Wolfgang Hörner

Museumsbesuchern fehlt es zumeist nicht an Vorstellungskraft. Bei einem Rundgang durch die neueste Generation industrieller Produktinszenierungen bedarf es jedoch auch keiner großen Fantasie. Wer sie besucht, fühlt sich wie im New Yorker Guggenheim-Museum oder dem Centre Pompidou in Paris. Kolossale und architektonisch aufwendige Bauwerke zeigen die unverwechselbare Handschrift eines renommierten Architekten. Dabei umhüllen die markanten Fassaden nur die wahren Kunstschätze. Doch anstelle von Gemälden oder Skulpturen überraschen diese Galerien mit etwas scheinbar Profanem: mit Automobilen. Solche Sammlungen als Hort für PS-Fanatiker

Futuristisches Konzept: Durch die schrägen Linien verblüfft das PorscheMuseum Besucher und Passanten.

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des Konzernhochhauses (im Hintergrund) war bereits 1973 das BMWMuseum (graue „Schüssel“) entstanden. 2007 öffnete die fast vollständig verglaste BMW-Welt (im Vordergrund).

Die wenigen Hersteller, die ein Museum unterhielten, maßen ihm noch nicht die gebührende Bedeutung bei. Obwohl etwa der Sportwagenhersteller Porsche früh angefangen hatte, insbesondere Prototypen und Rennfahrzeuge zu sammeln, wirkte die 1976 zugänglich gemachte Ausstellung geradezu armselig. Rund 20 Fahrzeuge standen dicht gedrängt in einem einzigen Raum. Nur eingefleischte Markenfans kamen hierher und zurück, während das Museum regelmäßig zu Diskussionen im Unternehmensvorstand führte. Etwas öffentlichkeitswirksamer gestalteten sich die Bemühungen von BMW. Im Zuge der Olympischen Sommerspiele 1972 in München entstand ein Museum in Bestlage zu den Sportstätten. Zwar verpasste man die Großveranstaltung, da es erst Anfang 1973 öffnete, doch sorgte die Architektur am Fuße der Konzernzentrale für Aufmerksamkeit. Der als Salatschüssel bezeichnete Bau des Wiener Architekten Karl Schwanzer folgt konsequent dem sogenannten Funktions-

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Fotos: mauritius images, Prisma Bildagentur

Mehrteilig: Am Fuße

abzutun, wird der Inszenierung nicht gerecht. Denn ganz gleich, ob die Museen die Namen Mercedes-Benz, Porsche oder BMW führen: Sie sind allesamt dem Image eines Treffpunkts für Markenliebhaber entwachsen. Die Idee, Fahrzeuge in einem Museum auszustellen, ist historisch gewachsen. Knapp 50 Jahre nachdem die erste Eisenbahn in Deutschland fuhr, konnten Neugierige 1882 zunächst in München, ab 1899 in Nürnberg Lokomotiven und Waggons bestaunen – im späteren Verkehrs- und heutigen Deutsche-Bahn-Museum. Als 1925 das Deutsche Museum in München eröffnete, durften Autos nicht fehlen. Im Mittelpunkt der Autoschau standen technische Aspekte. Zu jener Zeit reiften bei Daimler Überlegungen, Fahrzeuge in einem Markenmuseum zu zeigen. Systematisch bauten die Verantwortlichen eine kleine Kollektion auf, die 1936 öffentlich zu sehen war. Pünktlich zum 50. Geburtstag des Automobils öffnete in Stuttgart die erste Mercedes-BenzAusstellung mit 18 Fahrzeugen. Zu sehen waren überwiegend rare Exemplare aus den Anfängen der Motorisierung. Zum 75. Geburtstag ging das Unternehmen den nächsten Schritt und spendierte der gewachsenen Autosammlung ein eigenständiges Museumsgebäude. Das war allerdings bescheiden im Vergleich zur Neuausrichtung zum 100. Jahrestag. Das Museum sollte nun für mehr Publikum attraktiver werden. Die Macher setzten dabei auf innovative technische Lösungen, allen voran ein für die deutsche Museenlandschaft wegweisender Audioguide. Mit ihm konnten Besucher unabhängig von ihrer Route Informationen zu jedem Exponat abrufen. Werner Breitschwerdt, damaliger Vorstandsvorsitzender, erinnert sich: „Wir wollten den verstaubten Charakter der Sammlung in ein modernes Museum mit universellem Anspruch verwandeln.“

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Fotos: mauritius images, Prisma Bildagentur

Akzente setzen: Statt

prinzip des von Frank Lloyd Wright gebauten Solomon-R.-Guggenheim-Museums in New York, gekennzeichnet durch die von unten nach oben verlaufende Besucherspirale. Den meisten Museumsgästen blieb dieser architektonische Ansatz verschlossen. Halb stolz, halb verärgert berichtete man dagegen, dass es Besucher gebe, die ausschließlich wegen der Architektur kämen – nicht wegen der Marke. Heute weiß man, dass dies der Glücksfall ist, nach dem alle Hersteller suchen. Die Gründe, derentwegen sich Autoproduzenten seit gut einem Jahrzehnt verstärkt auf ihre Museen konzentrieren, sind vielfältig. Doch immer hängen sie damit zusammen, dass sich das Verhalten der Fahrzeugkäufer gewandelt hat. Die Markenloyalität nimmt ab, ebenso das allgemeine Interesse am Automobil. Da sich die Fahrzeuge immer ähnlicher sehen, werden Wege gesucht, Begeisterung anderweitig zu entfachen: mit einem weiten Blick zurück in die Historie der jeweiligen Marke, einem Hinweis zur Kompetenz der Anbieter und mit einem Überraschungsmoment – etwas, womit nicht zu rechnen ist, was

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etwa soziale Verantwortung, ausgeprägtes Umweltbewusstsein oder einen kulturellen Einsatz unterstreicht. Ralf Glaser, Leiter Presse und Marketing von Mercedes-Benz Classic: „Wir wissen, dass sich einige Besucher überhaupt nicht fürs Mercedes-Museum interessieren. Sie begleiten ihre Partner oder Familie und sind begeistert, weil wir mehr bieten als ein reines Automuseum.“ Ganz offenbar ist dies ein in Zahlen messbares Erfolgskonzept. Seit Mercedes-Benz vor zehn Jahren sein neues Museum eröffnete, sind über sieben Millionen Besucher aus 170 Ländern nach Stuttgart-Untertürkheim geströmt.

möglichst viele Automobile zu zeigen, folgt das BMWMuseum dem Konzept, Einzelthemen zu vertiefen – hier die Roadster von BMW.

Ein paar Kilometer weiter bringt es das Porsche-Museum mit seinem nicht ganz so generalistischen Mobilitätsansatz auf über drei Millionen Gäste in sieben Jahren. Den größten Erfolg verzeichnet aber die BMW-Welt, in der zugegebenermaßen kein Eintritt erhoben wird. Im Jahr 2007 eröffnet, hat sie die 15-Millionen-Marke längst schon hinter sich gelassen. Sie ist Bayerns besucherstärkste Touristenattraktion.

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Kunst der Selektion: Trotz der langen Unternehmensgeschichte und der breiten Produktpalette bis hin zu Nutzfahrzeugen gelang es Mercedes-Benz, eine entspannte Atmo-

Die neue Generation der Automobilmuseen macht vieles anders. Das Entscheidende: Sie alle erzählen auf elegante und unterhaltsame Weise die Geschichte auf vier Rädern. Dabei verschmelzen Technik, Forschung und Wirtschaft geschickt mit Kultur, Politik und Gesellschaft. Ein Besuch wird zum Erlebnis, unabhängig davon, welche Fahrzeuge zu sehen sind. Die eingangs erwähnte Architektur trägt wesentlich dazu bei, kreiert einen intelligenten didaktischen Museumsaufbau und verändert das Erscheinungsbild. Vorbei sind die Zeiten, als Sammlungen wie vollgestopfte Hinterhofgaragen wirkten. Dafür scheuen die Verantwortlichen weder Kosten noch Mühen, sondern verpflichten über Architekturwettbewerbe internationale Stars zum Bau. Für das 2006 eröffnete neue Mercedes-Benz-Museum sicherte man sich die Dienste von UN Studio. Das niederländische Architekturbüro hatte bereits zuvor mit spektakulären Bauten aufgetrumpft. Daimler-Konzernchef Dieter Zetsche betont:

„Das Museum ist mit keinem anderen Museum seines Genres vergleichbar, und schon von Weitem beeindruckt die Skyline des Gebäudes.“ Nicht minder auffällig zeigt sich die ein Jahr später fertiggestellte BMW-Welt vom avantgardistischen Architekturbüro Coop Himmelblau aus Wien. Weil man den unter Denkmalschutz stehenden Bau des BMW-Museums nicht verändern wollte, ließen die Münchner Autobauer die neue Markenwelt in direkter Nachbarschaft als eigenständiges, weithin sichtbares, von großen Glasflächen geprägtes Gebäude errichten. Die Zweiteilung in BMW-Welt, in der die aktuelle Modellpalette zu sehen ist, und renoviertes Museum mit klassischen Automobilen sorgt allerdings bei Besuchern bisweilen für Irritationen. Eine solche Verwirrung entsteht beim 2009 eröffneten Porsche-Museum nicht. Für den Neubau verpflichtete der Sportwagenhersteller das österreichische Architekturbüro Delugan Meissl. Anders als bei BMW und Mercedes-Benz kommt

Fotos: mauritius images, Ingolf Pompe/LOOK-foto

sphäre zu schaffen.

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Fotos: mauritius images, Ingolf Pompe/LOOK-foto

bei der Fassade wenig Glas zum Einsatz. Trotzdem oder genau deshalb sieht das Bauwerk aus, als sei in StuttgartZuffenhausen ein Ufo gelandet. Naheliegend, dass so etwas die Attraktivität der Ausstellung steigert. Letztlich entscheiden die Inhalte der Museen und ihre Aufbereitung über den Erfolg. Hier folgen alle der Philosophie, die Markenhistorie nicht um jeden Preis mit eng geparkten Exponaten zu dokumentieren. Stattdessen herrscht entspannte Großzügigkeit, bei der die Fahrzeuge ebenso wenig auf erhabenen Podesten präsentiert werden. Wenn schon unnahbar, dann hängen die Automobile kunstvoll kopfüber an der Decke oder an Wänden. Die Meilensteine der Marken bekommen Besucher selbstverständlich auch zu sehen: eine BMW Isetta, einen Ur-911 oder einen Mercedes-Silberpfeil. Viel spannender und für ein breiteres Publikum ist jedoch das raffinierte Storytelling. Statt durch zu viele Ausstellungsstücke ständig an der Oberfläche zu bleiben, vermitteln die Museen vertieft einzelne ausgewählte Aspekte. Beispiele hierfür: die Entwicklung des Feuerwehrfahrzeugs von Mercedes-Benz oder Porsches Geschichte in Amerika. Diese Fokussierungen ermöglichen es, auch soziale und kulturelle Hintergründe darzustellen und das Thema Auto vielschichtiger zu beleuchten. Weil dabei häufig nicht die ahrzeugtechnik im Fokus steht, wird die Präsentation unterhaltsam und lebendig. Vor allem die regelmäßig wechselnden Sonderausstellungen folgen diesem Konzept. Moderne Audioguides sorgen ganz selbstverständlich für die nötigen Erklärungen. Mithilfe spezieller Angebote und Workshops wetteifern alle drei Museen um die Gunst von Kindern und Jugendlichen. Unter der Leitung geschulter Pädagogen geht es darum, eigene Visionen von Mobilität zu entwickeln, die Grundbegriffe der Nachhaltigkeit zu verstehen oder Werkstoffkunde zu betreiben – schließlich sind die Schüler von heute die Autofahrer und die Kunden von morgen. Dass die Museen als Forum für Veranstaltungen genutzt werden, ist für die Hersteller wirtschaftlich sinnvoll und garantiert ihnen zusätzliche Aufmerksamkeit. BMW organisiert regelmäßig Konzerte oder Autorenlesungen. Porsche feiert in einer Sound-Nacht Rennsportlegenden und den Klang ihrer Boliden oder unterhält ganz leise mit Kabarettisten. Bei Mercedes wurden 2006 goldene Bambis, Preise für Fernseh- und Medienerfolge, verliehen. Auch kulinarisch gibt es in den Autohallen heute viel Glanz. Porsche installierte ein exklusives Steakhaus, Mercedes angelte sich mit Michael Braun einen Starkoch. Den Volltreffer landete indes BMW: Die Münchner bekamen für Bobby Bräuers „Esszimmer“ zwei Michelin-Sterne. Das konnte man von einem Automuseum nun wirklich nicht erwarten.

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In neuem Gewand: Bereits seit 80 Jahren betreibt MercedesBenz ein eigenes Museum. 2006 wurde ein Neubau eröffnet, der architektonisch und didaktisch neue Maßstäbe setzte.

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ie errin der Schuhe hre Kunden iegen um den halben rdball um sich rogues oder Loafer on ihr anfertigen zu lassen. Sie gilt ielen als beste Schuhmacherin der Welt. :: Von Yorca Schmidt-Junker

„Madonna!“, entfuhr es manch älterem Herrn, wenn er am Schaufenster von Saskia Wittmer vorbeilief. Und auch jüngere Florentiner wunderten sich ob des ungewöhnlichen Vorgehens, denn hier, auf der ehrwürdigen Via di Santa Lucia, inmitten der Altstadt von Florenz, offenbarte sich Unerhörtes: eine Frau, die eine Werkstatt für Maßschuhe betreibt. Und sich an einem Heiligtum uritalienischer und männlich geprägter Handwerkskunst vergreift. Und – che scandalo! – auch noch Deutsche! Wittmer: „Als ich mich hier niederließ, gaben mir die Leute ein Jahr. Maximal.“ Keiner hätte darauf gewettet, dass die kleine Werkstatt einmal Anlaufstelle für Schuhliebhaber aus aller Welt sein würde. Mit einer Chefin, die heute als Koryphäe auf ihrem Gebiet gilt. „Schuhe, allen voran Herrenschuhe, haben mich schon als Kind magisch angezogen“, sagt Saskia Wittmer. Diese Faszination verdankt sie den vielen Schuhgeschäften und Ateliers in den italienischen Urlaubsorten ihrer Kindheit, wo sie sich lieber die Nase an Schaufenstern platt drückte, als mit Kindern am Strand zu spielen. So ein Paar Schuhe wollte sie auch haben. Doch als Heranwachsende musste die gebürtige Berlinerin schmerzlich feststellen, dass maßgeschneiderte Schnürschuhe für Frauen schlicht nicht existierten. Sie beschloss, der Malaise entgegenzutreten und Maßschuhmacherin zu werden. Die Lehrzeit führte sie in die Nähe von Hamburg. Ihr Lehrmeister erkannte ihr Talent und bestärkte sie, einen mutigen Schritt zu wagen: Die ambitionierte 20-Jährige versuchte, den damaligen Maestro der Zunft, den Florentiner Schuhmacher Stefano Bemer, von sich zu überzeugen. Bemer gefielen die von ihr mitgeführten „Arbeitsproben“ und ihr einnehmendes Wesen. Und das Unglaubliche geschah: Er bot ihr eine Mitarbeit in seinem Atelier an. Drei Jahre dauerte die Zusammenarbeit mit Bemer, dann entschied sie sich, aus seinem Schatten zu treten und eine eigene Werkstatt zu gründen. In der ist sie nun seit rund 16 Jahren tätig und hat sich mit „Saskia – scarpe su misura“ sukzessiv einen Namen erarbeitet, der unter Maßschuhliebhabern längst Kultstatus genießt.

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Komfort aus der Hand: Schuhmacherin Saskia Wittmer in ihrer Werkstatt in Florenz. Auf Anfrage fertigt sie auch für Frauen – aber nur analog zu Herrenschuhen: ache Schnürschuhe, Slipper und Loafer.

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Essenziell für ihre Dienstleistung ist die bewusste Zurückhaltung. „Ich gebe dem Kunden nichts vor, auch keine Vorführmodelle. Mein Job besteht zunächst darin, genau hinzuhören, was der Kunde möchte. Schließlich geht es um seinen Traumschuh. Da stecke ich zurück“, erklärt sie. Neben Form, Farbe und Material für das angestrebte Unikat werden auch Besonderheiten und etwaige Befindlichkeiten besprochen. Gibt es beispielsweies sensible Fußpartien? Einen Zeh, der hochsteht? Ein leicht verkürztes Bein? Nach der „wittmerschen Anamnese“ vermisst sie beide Füße separat und zeichnet ihre Umrisse auf Papier. Das bildet die Basis für den Leisten – ein Holzmodell des jeweiligen Fußes, das für die Arbeit der Zunft fundamental ist und an

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dessen Ausfertigung sich die Virtuosität eines Maßschuhmachers bemisst, weshalb sich die meisten beim Leistenmachen auch nicht über die Schulter schauen lassen. Auf den Leisten wird das Schuhmodell gemalt, auf Papier übertragen und im Anschluss auf das Oberleder – Schaft des späteren Schuhs – gelegt, um dort zugeschnitten zu werden. Die Lederpartien für das Schuhgehäuse gehen an eine Näherin. Wittmer: „Die Anfertigung des Schafts unterliegt eigenen Kriterien und stellt einen eigenen Berufszweig dar. Ein Maßschuhmacher hingegen ist für den komplexen Unterbau, das Innenleben und den Gesamtaufbau eines Schuhs inklusive vorgefertigten Schafts verantwortlich.“

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wie wichtig die Einzelschritte bei der Arbeit am Unikat sind.

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Zur erlauchten Klientel der Wahl-Florentinerin gehören nicht nur Industrielle oder Geschäftsführer internationaler Konzerne, auch Normalverdiener suchen die Werkstatt in der Via di Santa Lucia auf. „Mein allererster Kunde war ein Koch. Er hatte jahrelang auf ein Paar Schuhe gespart und betrachtete es als Erfüllung seines Lebenstraums“, sagt Wittmer. Aber natürlich gibt es auch exzentrische Kunden. So etwa ein Russe, der mit seinem besten Freund eine Safari im RooseveltStil quer durch Afrika machen wollte – Retro-Kostüme inklusive. Dafür wollte er sich von Wittmer entsprechendes Schuhwerk anfertigen lassen: buschfest, geländegängig – und sichtbar nobel.

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Werkstatt deutet an,

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Bereits ein Blick in die

n ncto ege hat ch hmacherin Wittmer auch Empfehlungen. So rät sie, Schuhe regelmäßig mit guter Schuhcreme zu behandeln, unbedingt Schuhspanner zu benutzen und Sohlen sowie Absätze bei einer Abnutzung sofort ausbessern zu lassen. Dann können Maßschuhe problemlos 15 bis 20 Jahre halten, selbst bei täglicher Beanspruchung. Damit rechnet sich über die Jahre hinweg auch der hohe Anschaffungspreis. Der Erfolg von Saskia Wittmer führte dazu, dass die indignierten Herren von einst inzwischen aufrichtige Bewunderer geworden sind. Und als einzige Maßschuhmacherin Italiens ist die Deutsche längst eine Art lokales Heiligtum geworden. Dabei hat die Herrin der Schuhe die Stadt am Arno nicht nur um eine weitere Attraktion bereichert, sondern en passant dem italienischen Machismo noch eine kleine Breitseite verpasst.

Fotos:

Aufwendig im Detail:

Das wahre Geheimnis der Schuhmacherkunst liegt dann in der Ausfertigung der sogenannten Brandsohle; mithin der Teil, der gleichsam das innere Gerüst des Schuhs bildet. Dafür wird das Bodenleder genässt, ohne Luftblasen und Einschlüsse auf den Leisten genagelt und solange beschnitten, bis die Übergänge zum Leisten unsichtbar sind. Das weitere Vorgehen ist nicht minder aufreibend. Bis zum fertigen Schuh zählt man rund 220 Arbeitsschritte, durchschnittlich 80 Arbeitsstunden, die sich für ein Paar entsprechend verdoppeln. Das hat seinen Preis, ist aber angesichts des Aufwands und des Materialeinsatzes mehr als vertretbar. Ein Paar WittmerSchuhe gibt es ab 2500 Euro. Dafür erhält der Kunde ein Unikat, das mit höchster Eleganz, Maximalkomfort und Langlebigkeit punktet.

Wittmer schlug vor, sich an Klaus Maria Brandauers Stiefeln im Kinofilm „Out of Africa“ zu orientieren, und wählte Elefantenleder, das als einziges robust genug schien. Wie recht sie haben sollte, zeigte sich, als der Kunde nach seiner Rückkehr von einer schwarzen Mamba berichtete, die sich in seinem Bein verbeißen wollte, dabei aber an besagten Stiefeln gescheitert war. Ein arabischer Geschäftsmann wiederum gab 15 Paar halbhohe Schuhe in Auftrag, die sich nur durch minimale Farbabstufungen unterscheiden sollten. Davon wollte er jeweils drei Paar in seinen fünf weltweiten Domizilen lagern. Zur Anprobe flog Saskia Wittmer auf sein Jagdschloss nach England. Auf Reisen ging sie auch, als sie für einen Südamerikaner das Vermessen der Füße an einem eher ungewöhnlichen Ort, direkt auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle übernahm, da er keine Zeit hatte, in Florenz vorbeizuschauen. Bei allem Raum für Exzentrik stellt sich die Frage: Was unterscheidet einen wittmerschen Schuh vom Modell eines Luxusherstellers? Maßschuhmacher verwenden laut Wittmer nur das beste Sohlenleder, während bei industriell gefertigten Schuhen die Brand- und Decksohlen häufig aus minderwertigem Material oder aus Pappe bestehen. Wittmer: „Da kann das Oberleder noch so edel sein, einen guten Schuh erkennt man am exzellenten Futterleder, einer durchgängigen Decksohle und einem sorgsam verarbeiteten, materiell hochwertigen Innenleben.“

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„Du machst mir nichts vor“ Die Forensik kennen wir aus vielen Gerichts- und Krimiserien. Sie umfasst alle wissenschaftlichen Arbeitsgebiete zur Klärung krimineller Handlungen. Im Fokus stehen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit. Ihre Methoden helfen uns im Alltag. :: Von Marco Löw

In unserem Arbeits- und Berufsleben müssen wir eine Vielzahl wichtiger und unwichtiger Entscheidungen treffen. Zumeist kommen wir auf Grundlage von Informationen, die wir von anderen Menschen erhalten, zu einem Schluss. Falsche Entscheidungen können erhebliche Konseuenzen für die private oder berufliche Zukunft haben. Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, hilft es, sich intensiv mit Entschlüsselungstechniken von Gesprächspartnern zu beschäftigen. Die meisten Menschen denken beim Thema Wahrnehmung ans Lesen und Deuten von Signalen, die andere und auch wir selbst aussenden. Die Körpersprachenanalyse ist jedoch nur ein Puzzleteil in der forensischen Wahrnehmung. Unser Bild vom Gegenüber wird umso deutlicher, je mehr Einzelteile wir aneinanderfügen. Mit nur einem Puzzleteil kommen wir allerdings nicht weit, zumal, wenn es sich auch noch, wie bei der Körpersprachenanalyse, um einen Prozess handelt, der häufig Interpretationsfehlern unterliegt. Beim Fach der Forensik denkt man schnell an die Aufklärung von Kapitalverbrechen anhand der Tatortarbeit oder einer Leichenbeschau. Der Terminus Forensik steht aber für sehr viel mehr, nämlich generell für die Beweisbarmachung von Sachverhalten. Forensische Wahrnehmung ist in diesem Sinne eine Gesprächspartneranalyse, die am Ende zu einer konkreten Einschätzung des Gegenübers und seiner Aussagen führt. Dies erfolgt auf Basis begründbarer Fakten, statt auf ein Gefühl oder eine Intuition zu vertrauen. Intuition ist in Kombination mit einer Faktenanalyse sehr wertvoll, ohne diese jedoch nur wenig wert. Intuition kann irren, aber auch ergänzen. Bei Fakten handelt es sich hingegen um Realitäten.

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Da die Körpersprachgesten von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können und eine Vielzahl an Interpretationen zulassen, steigt mit jeder Interpretation das mathematische Risiko des Irrtums. Ein geschickter Gesprächspartner kann beispielsweise gezielt falsche Körpersprachsignale aussenden, um sein Gegenüber zu täuschen und so auf die falsche Fährte zu locken. Die Methode der Mikromimik agiert weit gesicherter. Sie analysiert Gesichtsmuskelimpulse, die größtenteils über das autonome Nervensystem gesteuert werden. Wie der Name vermuten lässt, arbeitet dieses außerhalb des Bewusstseins und ist durch den Betroffenen kaum bis gar nicht manipulierbar. Beispielhaft seien hier Pupillenund Augenlidbewegungen genannt. Sich auf solche Signale zu verlassen, bietet mehr Klarheit, ist aber für Anhänger mathematischer Wahrscheinlichkeiten noch nicht ausreichend, um eine sichere Entscheidung treffen zu können. Der Schlüssel der Erkenntnis liegt in der Redundanz, also darin, den Gesprächspartner auf mehreren Wahrnehmungsebenen gleichzeitig wahrzunehmen. Die Mikromimik ist eine Ebene, die Analyse von verbalen Aussagen und die Sensibilisierung für kognitive Grenzen des menschlichen Gehirns sind Beispiele anderer Wahrnehmungsebenen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Jeder Mensch hat bei einem wahren Erleben Bilder im Kopf, die er abrufen kann. Bei einer spontanen Lüge muss er diese konstruieren, dies löst eine Antwortzeitverzögerung aus. Lassen Sie sich daher bei der Wahrnehmung Ihres Gesprächspartners in erster Linie von redundanten Fakten leiten und in zweiter Linie von Ihrer Intuition.

Marco Löw war der erfolgreichste Vernehmungsspezialist Deutschlands. 2010 beendete er seinen Polizeidienst und machte sich als Berater und Redner selbstständig. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und tritt regelmäßig im Fernsehen auf. Mehr über ihn unter www.marcoloew.de

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Wörter sind in der Lage, eine magische Kraft zu entfalten, die uns auf komplexe Weise in unserem Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass sie unser Leben verändert. :: Lilith Nickl

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französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene glaubt, dass Leser Ereignisse ihrer Helden nacherleben.

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Weitere Experimente kamen zu dem Ergebnis, dass sich die Nervenaktivität im Gehirn nicht nur kurzfristig ändert, sondern bei intensivem Lesen nachhaltige Spuren hinterlässt. „Die ähigkeit, zu lesen, verändert das Gehirn“, betont Dehaene. Ähnlich wie intensives Klavierüben die Bewegungskoordination verbessert, schult beim Lesen der permanente Signalaustausch zwischen den verschiedenen Hirnregionen weitere geistige ertigkeiten. Wer oft und intensiv in Romanen liest, trainiert den Studien zufolge seine sozialen ähigkeiten und wird zugleich Mitmenschen gegenüber empathischer. Senioren können durch Lesen sogar das Risiko von Demenz reduzieren. Seit jeher wird den Büchern und Geschichten eine medizinische und heilende Wirkung attestiert. Aristoteles schrieb beispielsweise der Tragödie in seiner um 335 vor Christus verfassten „Poetik“ eine die Seele reinigende Wirkung zu. Nach Ansicht des großen Philosophen gelingt dies, wenn die Zuschauer sich mit der Rolle und dem eid der Protagonisten identifizieren, ihren Emotionen freien Lauf lassen und „lustvoll erleichtert“ das Schauspiel verlassen. Philosophen, Schriftsteller, Psychologen und Literaturwissenschaftler waren sich immer einig, dass Wörter Selbstheilungskräfte entfalten können. Die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf: „Das Lesen von Büchern macht uns emotional reicher, weil Geschichten Gefühle wecken, mit denen wir uns auseinandersetzen.“ Diesen Anstoß zur Selbstrefle ion macht sich die moderne Bibliotherapie zunutze. In den USA wird sie seit den 1940er-Jahren praktiziert und unter anderem erfolgreich bei der Behandlung von Depressionen eingesetzt. Die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie, Brigitte Leeser, arbeitet gerne mit Gedichten und sagt aus praktischer Erfahrung: „Poesie lässt Raum zwischen den Zeilen, den Patienten mit ihren eigenen Erlebnissen füllen können.“ Die Beschäftigung mit Literatur kläre die Gedanken und helfe dabei, die eigenen Emotionen zu verstehen. Außerdem werde über diese Emotionen gesprochen. eeser „Indem wir unsere Empfindungen teilen, entwickelt sich ein positives Gegenwartsbewusstsein.“ Das spürt auch die rau am Bahnhof, die sich auf ein solch magische Weise von ihrem papiernen Helden verstanden fühlt.

Fotos: Getty Images, action press

Parallelwelt: Der

Eine junge Frau sitzt auf einer Bank im Bahnhof. Ihren Rucksack hält sie fest auf dem Schoß, den Kopf gesenkt. Den Mann, der sie im Vorbeigehen grüßt, sieht sie nicht. Sie steigt auch nicht in die Bahn, auf die sie wartete, vergisst das Meeting, bei dem sie in 50 Minuten sein sollte, und hört weder Stimmen noch Durchsagen. Sie sitzt auf der morgenkalten Bank und weint – weil Donald stirbt. Dabei kennt sie Donald nur vom Papier. Er ist die Hauptfigur in dem Roman, in den die rau an diesem rühlingsmorgen so vertieft ist. Literatur wirkt auf Geist und Seele. Aber warum ist dem so? Neurowissenschaftler und Psychologen forschen seit Jahren nach den Kräften, die beim Lesen wirken. Wie kommt es, dass Geschichten Emotionen wecken und in der Lage sind, nahezu magische Kräfte zu entfalten? Wir entfliehen unserem Alltag, tauchen in andere Welten ein, identifizieren uns mit Romanfiguren oder verbünden uns mit ihnen. Die rau am Bahnhof würde sich keine Sekunde wundern, sollte der kahlköpfige Schlaks Donald plötzlich neben ihr auf der Bank sitzen. Sie würde ihn grüßen, ganz selbstverständlich. Bücher spenden Trost, machen Mut, informieren und amüsieren. Sie regen zum Nachdenken und Reflektieren an. Mitunter ist die Magie der Wörter so stark, dass sie unser Verhalten oder unser Leben ändern kann. Neurowissenschaftler und Psychologen glauben von Berufs wegen weniger an Magie. In zahlreichen Studien haben sie erforscht, was beim Lesen im Gehirn vor sich geht. Geschriebenes wird zunächst optisch erfasst. Anschließend übersetzt das Gehirn Silben in Laute und analysiert die Bedeutung der Wörter. Beim Lesen von zusammenhängenden Sätzen und Geschichten läuft das Denkorgan auf Hochtouren. „Es scheint das Geschehen zu simulieren“, erklärt der französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene und weist auf eine Studie hin, in der die Hirnaktivität von Versuchspersonen beim Lesen einer Geschichte via Magnetresonanztomografie aufgezeichnet wurde. Dabei zeigte sich, dass sowohl Regionen im Gehirn aktiviert wurden, die auf das Erkennen und Erinnern räumlicher Begebenheiten spezialisiert sind, als auch Bereiche, die dafür zuständig sind, Bewegungen zu planen und auszuführen. Das Gehirn der Leser arbeitete also genauso, als würden die Probanden die Aktivitäten der Romanfiguren selbst ausführen.

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Die Nummer eins: Die Whiskydestillerie Bowmore auf Islay verkaufte Ende 2012 die Flasche No. 1 des auf zwölf Exemplare limitierten Bowmore 1957. Für 121 000 Euro wechselte der älteste Whisky der Destillerie und Single Malt der Insel Islay den Besitzer. Der Gewinn ging an fünf schottische Wohltätigkeitsorganisationen.

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Das Wasser des Lebens ie ebrideninsel sla ist be annt f r ihre torfigen Single Malts. inmal im ahr lässt sich die Whis familie beim F is le feiern. :: Von Britta Scholz

Es ist zehn Uhr morgens. Vor dem Besucherzentrum der Whiskydestillerie Kilchoman hat sich eine 50 Meter lange Menschenschlange gebildet. Nervosität und Jagdfieber liegen in der Luft. Drei Personen verlassen den Shop, drei Wartende werden hineingebeten. So bewegt sich der Trupp mühsam zur ersehnten „Beute“, die es hier für umgerechnet 110 Euro zu kaufen gibt: maximal zwei Flaschen pro Person eines rauchigen, fruchtigen Single Malts, gereift im OlorosoSherry-Fass. Die limitierte Abfüllung ist nur hier und heute erhältlich. Es ist die Woche des Fèis Ìle, des Islay Festival of Music and Malt. Die 634 Flaschen mit handgeklebten und -datierten Etiketten sind nach wenigen Stunden ausverkauft. In der letzten Mai-Woche feiern die Bewohner der Hebrideninsel Islay seit nun 32 Jahren das „Wasser des Lebens“. An jedem Tag lädt eine Destillerie zum Open Day ein, dem Tag der offenen Tür. Führungen durch die Brennereien und Lagerhäuser mit Destilleriemanagern, Verkostungen unter Anleitung der Master Distillers, ein Gratisschluck – der Dram – hier, eine Whiskyrarität dort. Dazu ivemusik und Räucherfisch. In diesem Jahr spielte sogar das Wetter mit. Was als Theaterfestival der gälischsprachigen Gemeinde begann, um Besucher auf die Insel zu locken, ist heute das Whiskyfestival auf der Whiskyinsel schlechthin. Acht Destillerien sind derzeit aktiv – teilweise seit mehr als 200 Jahren. Ihre Malts zählen wegen ihres torfigen, salzigen Geschmacks zu den begehrtesten weltweit. Wer mit dem Schiff auf die Insel kommt und in Port Ellen anlegt, blickt auf die weiß getünchten Lagerhäuser mit den mannshohen Schriftzügen und die rauchenden Brennöfen der Destillerien von Laphroaig, Lagavulin und Ardbeg, die sich wie Perlen einer Kette an der Südküste anein-

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anderreihen. Im Norden produziert Bunnahabhain seine für Islay untypisch weich schmeckenden Malts. Michael Radtke, leidenschaftlicher Whiskysammler und Veranstalter regelmäßiger Tastings, kennt das Geheimnis des Malts und sagt: „Überraschend frisch und klar breiten sich die Aromen in Mund und Nase aus.“ Der Genießer ist ein großer Freund des Außenseiters und erklärt: „Ein Bunnahabhain schmeckt nach Insel, Salz und Seeluft, ohne dominanten Rauch und Torf, die solche Nuancen oft erdrücken.“ So wie man es vom Islay-Klassiker, dem zehnjährigen Laphroaig, kennt. Seit 1990 wird der goldfarbene 40-Prozenter mit dem eigenwilligen medizinischphenolischen Geschmack nach Jod, Salz und Seetang produziert und gehört zu den meistverkauften Single-Malt-Scotchs weltweit. Laphroaig spaltet die Whiskygemeinde. Radtke: „Entweder man liebt ihn oder hasst ihn.“ Die immerhin 400 000 Mitglieder des hauseigenen Fanklubs können jedoch nicht irren. Der wohl berühmteste „Friend of Laphroaig“ kommt aus royalem Hause. Prinz Charles schaut gerne auf einen Dram zum gemeinschaftlichen Torfstechen in seiner Lieblingsdestillerie vorbei. Sie trägt seit 1994 den itel Royal Warrant und ist offizieller Hoflieferant des britischen Königshauses.

Schatzkammer: Anthony Wills mit dem ersten Whiskeyfass der als Familienbetrieb geführten Kilchoman-Destillerie.

Zwischen den torfigen Malts aus dem Süden und dem feinsinnigen Bunnahabhain verortet Whiskykenner Radtke die benachbarten Destillerien Bruichladdich und Bowmore. Erstere, liebevoll Laddie genannt – was so viel wie Bürschchen bedeutet –, stand Ende der 1990er-Jahre vor dem Aus, bevor private Investoren den Betrieb retteten. Heute bietet die Brennerei die größte Bandbreite unterschiedlicher Abfüllungen und zeichnet sich durch Experimentierfreude bei

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Whisky, die Idylle der Insel, Ausschank bei der Brennerei Ardbeg und Livemusik bei Kilchoman (von oben nach unten).

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Vorzeigeprodukt

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Bunte Mischung:

From barley to bottling, das heißt vom Anbau der Gerste bis zur Abfüllung der reifen Malts in Flaschen: Sämtliche Zutaten stammen aus der unmittelbaren Umgebung, verarbeitet nach traditioneller Handwerkskunst. Das Wasser schöpft die Brennerei aus dem kleinen Bach hinter der Farm, gegenüber der Destillerie sprießt Gerste. Über die Sommermonate hinweg reift das Korn auf einer Fläche von rund 90 Fußballfeldern. Die meist windigen und oftmals feuchten Wetterbedingungen tragen ihren Teil zum typischen Islay-Geschmack bei. 150 bis 200 Tonnen Gerste sind im September erntereif und werden wenige Meter weiter in die farmeigene Mälzerei

transportiert. Es gibt nur noch sechs Destillerien in Schottland, die eine alte Tradition kultivieren und das Korn zum Keimen auf einem Malzboden auslegen, wässern und regelmäßig wenden. Nach vier Tagen wird es über Torffeuer getrocknet. Mahlen, mälzen und destillieren: Als sogenannter New Spirit kommt der entstandene Alkohol schließlich zur Reifung ins Fass. Was bei der noch jungen Brennerei Kilchoman im Kleinen gelebt wird – Familie, Freundschaft und Tradition –, ist Sinnbild für die Insel. „Wenn du hierherkommst, musst du dich nicht beweisen, du wirst einfach herzlich aufgenommen“, weiß Rainer Münch. Der Frankfurter ist leidenschaftlicher Whiskygenießer und betreibt seit zwei Jahren mit seiner Frau Sabine die Bed-andBreakfast-Unterkunft St. Mary’s auf Islay. An den Lebensrhythmus müsse man sich allerdings gewöhnen, meint Münch. Mit Pünktlichkeit nimmt man es dort nicht ganz so genau – es herrscht „Islay Time“. Das gilt auch während des Fèis Ìle. „Die Insel bleibt immer entspannt, obwohl sich die Zahl der Menschen in dieser Zeit gefühlt verdoppelt“, berichtet der Islay-Insider. Wer zum Fest anreist, muss rechtzeitig planen. Mietwagen, Taxi-Shuttles, Unterkünfte und vor allem die Fähren sind Monate zuvor ausgebucht. Tickets für die exklusiven Veranstaltungen der Open Days gibt es immer ab März, wenn Programme veröffentlicht und Telefonleitungen geöffnet werden. Eine Reise lohnt sich auch abseits der letzten Mai-Woche. Die Insel hat so viel mehr zu bieten. Nicht verwunderlich, dass man sie auch „Königin der Hebriden“ nennt. Das Land ist fruchtbar, das Klima dank der Lage am Golfstrom mild. „Minustemperaturen gibt es nicht“, berichtet Münch. Zwischen Oktober und April müsse man sich allerdings auf dunkle Tage und einen heftigen Wind einstellen. Dann machen es sich auf den Feldern Tausende Wildgänse gemütlich, die aus den arktischen Regionen zum Überwintern anreisen. Überhaupt ist die Insel ein Paradies für Vogelkundler. Mehr als 200 Vogelarten sind hier zu Hause. Auch die Münchs fühlen sich bei den rund 3500 Ileachs, wie die Einheimischen genannt werden, wohl. „Wegen des Whiskys sind wir nach Islay gekommen und wegen der Menschen geblieben“, so Rainer Münch.

Fotos:

der Fasswahl aus. Von Rum bis Rotwein erfahren die Malts zahlreiche Veredelungen. Darunter finden sich auch besonders torfige Whiskys, doch das Gros ist eher gefällig und für Islay-Neulinge zu empfehlen. Bowmore, in der gleichnamigen Inselhauptstadt beheimatet, gilt wiederum als Gentleman unter den Islays. Charakteristisch für ihn ist der ausgewogene Geschmack mit Sherrysüße und Toffeenoten. Die Destillerie Kilchoman ist die jüngste und kleinste auf Islay. Während hinter den anderen internationale Großkonzerne wie Diageo, Rémy Cointreau, Beam Suntory oder Moët Hennessy Louis Vuitton stehen, ist Kilchoman ein Familienbetrieb. 124 Jahre war keine neue Destillerie auf der Insel gebaut worden. Dann kam Anthony Wills, der viele Jahre als unabhängiger Abfüller einen guten Gaumen bewiesen hatte. „Es wurde immer schwerer, hochwertige Fässer aufzuspüren“, erinnert sich Wills. „Eigenen Whisky zu brennen, war die logische Konsequenz.“ Er wollte ihn ganz traditionell produzieren, überzeugte damit private Investoren, ließ sich auf der Rockside Farm im Westen der Insel nieder und nahm 2005 den Brennbetrieb auf. Im Herbst 2009, nach der gesetzlich vorgeschriebenen dreijährigen Mindestreifezeit im Fass, brachte Wills seinen ersten Single Malt auf den Markt. Nach mehreren Auszeichnungen mischt Kilchoman nun den nachbarschaftlichen Wettbewerb auf. E perte Radtke empfiehlt IslayBesuchern einen Abstecher. „Hier lässt sich jeder Schritt der Produktion verfolgen. Der Brennereistil als Farmdestillerie ist beispiellos“, erklärt er.

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Das Gedicht

Ich sah des Sommers letzte Rose stehn, Sie war, als ob sie bluten könne, rot; Da sprach ich schauernd im Vorübergehen: „So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“ Es regte sich kein Hauch am heißen Tag, Nur leise strich ein weißer Schmetterling; Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag Bewegte, sie empfand es und verging. Friedrich Hebbel :: Illustration: Lisa Rock

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Der Weg der Kami Keine Propheten, Schriften oder Predigten – dafür der unbedingte Glaube an das Gute im Menschen: Japans Shintoismus ist eine besondere Religion. Vergöttert werden die Natur sowie alle Wesen in ihr. :: Von Birga Teske

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Ein zentrales Element des Shintoismus sind Reinigungsrituale. Sie stehen am Anfang jeder Zeremonie und jeder Schreinvisite. Zu diesem Zweck stehen am Eingang der Gebetsstätten überdachte Becken mit fließendem Wasser, an denen die Besucher Hände und

Foto: Glowimages/Luca Invernizzi Tettoni

Japans Shinto-Götter sind zahlreich und fast an jedem Ort zu finden. Trotzdem ist es für die Gläubigen nicht immer einfach, mit ihnen in Kontakt zu treten, denn viele der sogenannten Kami sind mit sich selbst beschäftigt, lassen sich leicht ablenken oder ignorieren die Bitten der Menschen schlichtweg. Deshalb sind am Opferstock von Shinto-Schreinen Glocken angebracht. So können Besucher lautstark auf sich und ihr Anliegen aufmerksam machen. Andersgläubige verstehen oft schwer, wer oder was in den 100 000 Shinto-Schreinen des Landes verehrt wird. Die meisten Japaner übersetzen den Begriff Kami mit „Gott“ oder „Götter“. Dabei ist die seit Jahrtausenden praktizierte ethnische Religion des Shintoismus – übersetzt: Weg der Kami – nicht auf eine zentrale Gottheit ausgerichtet, sondern bezieht sich auf das Göttliche in allen Dingen. Naturgewalten können ebenso Kami sein wie Ehrfurcht gebietende Berge, reißende Flüsse, imposante Tiere oder mächtige Bäume. Jeder Schrein wählt, welchem Kami er sich widmet. Dieser wird spirituell umsorgt, um ihn wohlgesinnt zu stimmen. Vielerorts wird zum Beispiel der Kriegsgott Hachiman oder die Reisgöttin Inari verehrt. Auch Menschen gelten nach ihrem Tod als Kami. Dabei ist es egal, wie sie sich zu Lebzeiten verhalten haben, schließlich sind auch Kami keineswegs perfekt. Eine Tatsache, die im Shintoismus akzeptiert und auch in keiner Weise verurteilt wird. Japans Kami handeln zuweilen nicht nur ethisch fragwürdig, sie feiern auch gerne. So wie die Sonnengöttin Amaterasu. Der Legende nach hatte sie sich nach einem heftigen Streit mit ihrem Bruder Susanoo in eine Höhle zurückgezogen. Nur ein fröhliches Fest direkt vor dem Höhleneingang lockte Amaterasu aus ihrem Versteck und beendete damit die tiefe Finsternis der Welt. Auch heute noch bemühen sich die Japaner, ihre Kami mit lautstarken Feiern zu unterhalten. Am wildesten geht es im Spätsommer zu, wenn kleine und große Schreine die von ihnen verehrten Kami in messingbeschlagenen Sänften, den Mikoshi, durch ihre Nachbarschaft tragen lassen. Die Idee: Wer die Kami mit Gebeten und Festen bei Laune hält, sichert das Wohlergehen der betreffenden Gemeinde. Insofern spielt der Hausschrein im Alltag der meisten Japaner eine wichtigere Rolle als prominentere Gebetsstätten des Landes.

Rituale: Shinto-Priester während des traditionellen KiyoharaiHerbstfests zum Andenken an die kaiserlichen Vorfahren vor dem Yasukuni-Schrein in Tokio.

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Heiligtümer: der der Präfektur Mie mit Priestern (links) und Laternen vor Tokios Yasukuni-Schrein während des Mitama-Fests (rechts).

Prozession: traditionelle japanische Hochzeit auf dem Weg zum MeijiSchrein in Tokio.

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Mund spülen können. Neben Wasser nutzen die Priester zur rituellen Säuberung auch Salz, Feuer und Haraigushi. Das sind Holzstäbe mit weißen Papierstreifen, die geräuschvoll vor Neugeborenen, Hochzeitspaaren, Baugrundstücken oder Maschinen hin- und hergewedelt werden, um negative Einflüsse zu vertreiben. Der Kaiser ist der Oberpriester des ShintoGlaubens. Um Unheil von Japan abzuwenden, praktiziert der Tenno das ganze Jahr hindurch streng festgelegte Zeremonien, etwa für eine gute Ernte. Seine hervorgehobene Stellung fußt auf dem Entstehungsmythos Japans. Demnach ist der Tenno ein direkter Nachfahr der Sonnengöttin Amaterasu. Schon früh in Japans Geschichte nutzten das Kaiserhaus, aber auch Militärs und Beamtenschaft diesen Mythos, um ihre eigene Macht zu untermauern. Die Nationalisten der Meiji-Zeit (1868–1912) und ihre Nachfolger missbrauchten den Shinto-Glauben zur Kriegstreiberei und erhoben den Kaiser zum „lebenden Gott“. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur offiziellen Trennung von Staat und Religion. Doch noch heute versuchen Japans Nationalisten, aus Shinto-Glauben und Kaiserverehrung Kapital zu schlagen. Ein unrühmliches Beispiel ist Tokios Yasukuni-Schrein, wo fast 2,5 Millionen Kriegstote verehrt werden, darunter die Kami von 14 verurteilten Kriegsverbrechern. Diplomatische Auseinandersetzungen mit asiatischen Nachbarstaaten sind Programm, wenn Top-Politiker aus Japan die Stätte besuchen. Die Kaiserfamilie hingegen meidet Yasukuni weiträumig und setzt sich für eine Versöhnung der Kriegsfeinde ein. Die Verehrung von Toten spielt in Japan generell eine große Rolle. Viele Familien besitzen Hausaltäre, an denen sie Opfergaben für ihre Vorfahren bereitstellen. Dennoch ist der Shintoismus eine besonders lebensbejahende Glaubensrichtung, die dem Tod selbst nicht viel ab-

gewinnen kann. Nach dem Ableben winkt kein Freude verheißendes Jenseits oder eine Wiedergeburt. Nein, stattdessen fristen die Kami ihr Dasein unsichtbar inmitten der Lebenden. Diese wenig attraktive Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist einer der Gründe für die weite Verbreitung des Buddhismus in Japan. Der Shinto-Glaube konzentriert sich aufs Diesseits, aufs Hier und Jetzt. Es gibt keinen Begründer, keine Missionstätigkeit, keine heilige Schrift und keine Gebote oder Verbote. Anders als große Weltreligionen hat Shinto die Landesgrenzen Japans kaum überschritten. Katsuji Iwahashi, Sprecher der Association of Shinto Shrines: „Es ist vielleicht richtiger, Shinto als spirituelle Tradition oder als Bewusstsein zu bezeichnen und nicht als Religion.“ Dem Dachverband sind rund 79 000 Mitglieder mit mehr als 100 000 Schreinen angeschlossen. Die Zahl der Verbandsmitglieder hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Mit Nebenjobs oder Grundstücksverpachtungen ergänzen einige Priester inzwischen ihre Einkünfte, die ansonsten aus Spenden und dem Verkauf von Devotionalien bestehen. Die meisten von ihnen übernahmen die Glaubensstätte von Mutter oder Vater und legten beim Verband eine offizielle Prüfung zum Priester ab. Selbst wenn viele der Japaner sich heute nur noch selten in einem Schrein der Nachbarschaft den Ritualen und Zeremonien des Shinto unterziehen: Zum Neujahrsfest suchen laut Sprecher Katsuji Iwahashi mehr als 90 Prozent der Bevölkerung einen Schrein auf, um für ein gutes Jahr zu beten. Bestimmte Kami wie Tenjin, der für Bildung und Lernen zuständig ist, können sich vor Beginn der Hochschulaufnahmeprüfungen kaum vor jungen Besuchern und handgeschriebenen Wünschen retten. Insofern ist für den Weg der Kami in Japan kein Ende in Sicht.

Fotos: Getty Images, NurPhoto, mauritius images, J. Goertz

Ise-Jingu-Schrein in

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At The Party, 2014, Serigrafie auf Büttenpapier, 60 × 45 cm, 840 Euro

Exklusive Leseraktion. Kunst kann sich sowohl monetär als auch emotional rentieren und verbindet im Idealfall Sammelleidenschaft und Wertanlage. VENTURA präsentiert in seiner Kunstserie exklusiv ausgewählte Werke zu einem attraktiven Preis. :: Von Ralf Kustermann

Er zählt zu den ganz Großen und ist einer der letzten lebenden US-amerikanischen Pop-ArtKünstler. James rancis Gill legte eine filmreife Bilderbuchkarriere hin, nachdem er 1962 mit wenigen Werken im Gepäck nach Los Angeles gekommen war und die Fachwelt beeindruckte. Das Museum of Modern Art in New York nahm ein Porträt von Marilyn Monroe mit dem Titel „Marilyn riptych“ in seine ständige Kunstsammlung auf. Den internationalen Durchbruch feierte Gill, als man 1967 seine Bilder mit denen von Edward Hopper, Andy Warhol und Roy Lichtenstein in Brasilien ausstellte. Seitdem zeigen Sammlungen bedeutender Museen die Vielfalt des Ausnahmekünstlers. Diese ist nicht nur bunt und schön anzusehen Gill beschäftigte sich oft mit Gesellschaft und Politik, malte Antikriegsbilder und porträtierte 19 für das „ ime“-Magazin den

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späteren russischen Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. 1972 zog er sich zurück. Nach einem Interview Mitte der 90er-Jahre entdeckten Galeristen und Museen ihn wieder. Seine späte Phase zeigt gerne Hollywoodstars in großer arbintensität mit starker Ausdruckskraft. VEN URA- eser haben die Chance, beim DSV Kunstkontor Werke von Gill zu erwerben. Die Kunstexperten des Deutschen Sparkassenverlags arbeiten mit bekannten Künstlern zusammen und beantworten gerne Ihre ragen zu Künstlern und der ausgewählten VEN URA-Kunstserie.

James Francis Gill 1934 in Tahoka geboren 1959 Studium an der Universität von Texas 1967 „Sao Paulo 9 – Environment USA“

Weitere Informationen: www.dsvkunstkontor.de kunstkontor@dsv-gruppe.de Tel. +49 711 782-1566

2005 Retrospektive im San Angelo Museum of Fine Arts Lebt in Nordkalifornien

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Karten-Kunst Moderne Technik erfasst, dokumentiert und liefert immer präzisere und aktuellere Daten – weltweit rund um die Uhr. Das betrifft auch die Topografie. Wahre Schätze der Kartografie stammen aber aus der Vergangenheit. Nicht nur Historiker haben daran Freude.

Satellitentechnik, Luftaufnahmen und die Digitalisierung bieten uns rund um die Uhr von allen Orten der Welt Überblicks- und Detailaufnahmen: von Kontinenten, Ländern, Regionen, Städten bis zu Straßen. Sind traditionelle Karten in unserer Kulturlandschaft überflüssig „Es wäre die Hölle“, skizziert der Künstler Stephan Huber den vermeintlich fortschrittlichen Weg einer orientierungslosen Gesellschaft. Natürlich unternehmen Wanderer mit GPS-Hilfe Touren. Doch nutzen sie noch immer abends auf der Hütte im Hochgebirge gedruckte Karten, um sich zu orientieren. Er ist überzeugt „Karten werden nicht verschwinden. Sie haben eine große Präsenz.“ Das Urteil kommt aus berufenem Munde. Stephan Huber ist Professor an der Akademie der Bildenden Künste in München und Kartenkünstler. Der Bildhauer entwirft großformatige Landkarten, auf denen Objektives subjektiv collagiert wird. Seine erste Landkarte zeichnete er von seinem Elternhaus. „In jedem Zimmer brachte ich kartografische Elemente unter“, sagt er. Sein ieblingsbuch in der Kindheit war der „Diercke Weltatlas“. Da ist der Einfluss in der at direkt wahrnehmbar, während kindliche Kartografen, die sich die Schatzinsel, Tom Sawyers Höhle oder Winnetous Weg durch den lano Estacado vornahmen, eher die Fantasie zu Hilfe nehmen mussten als ein wissenschaftliches Standardwerk. So oder so: Schon Hubers erste Karten waren Kunst.

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Landkarten bezeichnen neue Territorien, sind eine Form, um Daten zu ordnen, zu veranschaulichen, zu einem Stichdatum zu konservieren, dauerhaft vergleichbar zu machen. Wer sie als Erster in den Händen hat, genießt im Idealfall einen Wissensvorsprung, der sich zu Zeiten der Entdecker und Seefahrer in barer Münze auszahlte. Zugleich erheben sie gestalterischen Anspruch, liefern nicht nur schöne Optik, sondern auch Nutzen. Ähnlich wie Designer von Produkten verstehen sich Kartografen als Gestalter, die genauso zweckmäßig zu denken verstehen, wie sie ästhetisch empfinden, weshalb andkarten im Informationszeitalter genauso ihre Berechtigung haben wie in der Kunstsammlung. Landkarten sind minimalistisch verdichtete Informationen. Huber weiß „Seit Jahrhunderten arbeiteten sie mit Icons, lange bevor Softwareentwickler auf die Idee kamen, solche für Mobilkommunikation einzusetzen.“ Ein Zeichen ersetzt viele Wörter, für die – je nach Maßstab – wenig oder gar kein Platz wäre. Statt „Hier steht eine Schlossruine“ sehen wir einen schwarzen Punkt mit einer um 45 Grad geneigten Fahne. Gekrümmte Linien in Blau markieren Bäche oder Flüsse, in Schwarz sind es Wege oder Straßen. Liegen die Höhenlinien so dicht beieinander, dass sie die Grundfarbe schattieren, fällt oder steigt das Gelände steil. Unterstrichene Ortsnamen deuten auf politische Größe hin, Namen in

Foto: Wolfgang Lazius/Matthäus Truppe

:: Von Ulrich Pfaffenberger

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Foto: Wolfgang Lazius/Matthäus Truppe

Fettschrift oder Großbuchstaben auf eine hohe Einwohnerzahl. Die egende am uß oder an der Seite einer Karte listet fein säuberlich solche Zeichen auf. Sie sind standardisiert, unterscheiden sich von Kulturkreis zu Kulturkreis nur marginal. Die Signatur genannte Gesamtheit der Zeichen und Darstellungsformen auf einer Landkarte markiert den Übergang vom Handwerk zur Kunst. Einen wesentlichen Beitrag liefert dabei beispielsweise die Auswahl der Farben, die schon bei einem oberflächlichen Betrachten eine zuverlässige Orientierung erlaubt. Oder aber die Schraffuren von Hügeln und Bergen, die Licht und Schatten in die andkarte hineintragen. „Die schönsten Karten, die es derzeit gibt, sind jene der Schweizerischen Gesellschaft für Kartografie im Maßstab 1 zu 2 000“, merkt der Münchner E perte Stephan Huber an. „Diese sind bis ins kleinste Detail fein ausgewogen und komponiert.“ Die Dokumentation aufbereiteter Daten in Kartenform bedeutete seit jeher auch viel Macht für ihre Besitzer, denn die Papieraufzeichnungen erschließen Zugänge in unbekanntem and. Was die frühen Entdecker von ihren Reisen rund um den Globus an Informationen mitbrachten, galt in seefahrenden Nationen als Staatsschatz, das handgezeichnete Kartenmaterial als harte Währung. Bis heute haben Originale in einschlägigen Museen, etwa in Spanien oder Portugal, eine herausragende Bedeutung. Der Rang insbesondere von historischen Karten als begehrten Objekten für Sammler zeigt sich in den aktuellen Preislisten einschlägiger Antiquariate. Da wird eine „Americae Pars, Nunc Virginia Dicta, Primum ab Anglis Inventa Sumtibus Dn. Walteri Raleigh E uestris Ordinis Viri Anno Dni. M.D V“ eines heodor de Bry für stolze 19 00 Euro angeboten. Das 1560 entstandene Opus gilt als eine der bedeutendsten Karten der kolonialen nordamerikanischen Geschichte und als die genaueste Karte des 1 . Jahrhunderts von Amerika. Die Kupferstichkarte namens „Austrasia ad Rhenum cum Edelsassia et Ducat us Alemaniae“ von 1561 aus dem Atelier des Kartografen Wolfgang

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azius wird mit 9880 Euro aufgerufen, die noch einmal acht Jahre jüngere „ opographia Austriae superioris modernae“ für 13 20 Euro. Da ist die „Karte des Maehr. Schles. Gouvernements nach den neuesten astronomischen Beobachtungen und geometrischen Vermessungen verzeichnet“ des Joseph Bayer von 181 mit ihrem Preis von 1200 Euro geradezu ein Schnäppchen. Neben solchen Werken genießt eine weitere Spezies von auf Papier dokumentierten Topografien großes Ansehen unter Sammlern und Jägern falsche und gefälschte Karten. Die ersten kamen zustande, weil die Forscher nur über einen eingeschränkten Horizont verfügten und beispielsweise Kalifornien als Insel diagnostizierten. Die zweitgenannten gibt es wiederum, seit Herrscher und Regime begannen, Die Kupferstichkarte die Kartografie zu missbrauchen, um von 1561 zeigt das mittlere die Territorien ihren Ansprüchen Rheintal. Auch wenn die Flüsse anzupassen oder aber angreizu breit und zahlreiche topografende einde in die Irre zu locken. fische etails fehlerhaft sind, ist die So kursieren am Markt zahlreiche Landkarten, mit denen die Karte ein bedeutendes Zeitdokument. Ihr Sch pfer Wolfgang Lazius, huRegierung der DDR Fluchtwillige manistischer elehrter, erfasste auf der Suche nach dem Grenzdie erste gedruckte Stadtverlauf gezielt in die Irre führte. geschichte Wiens. Im Zweiten Weltkrieg wiederum spielte der sowjetische Geheimdienst den deutschen Armeen umfassend gefälschtes Kartenmaterial in die Hände. Nicht nur, dass es die eingezeichneten Straßen und Ortschaften überhaupt nicht gab, an ihrer Stelle befindliche Engpässe und Sümpfe wurden zur gefährlichen Falle für die Angreifer. Auch Huber hat schon vor geraumer Zeit eine Grenze überschritten – freilich mit einer weniger bedrohlichen Konsequenz – und selbst mit dem älschen von Karten begonnen. In vertraute Kartenbilder packte er weitere Informationen hinein oder gab Orten und Regionen neue Namen. Vieles davon offenbart sich erst bei genauem Hinsehen und öffnet aus den Fakten heraus der Fantasie Raum. „Ich führe den Betrachter bewusst in die Irre“, sagt der Kartenkünstler, „um in seiner Erkenntnis den Irrtum wieder aufzulösen.“

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Der getanzte Traum Die Uraufführung des „Schwanensees“ war ein Reinfall. Dennoch avancierte das Märchen zum populärsten Ballettklassiker und inspiriert bis heute Choreografen. :: Von Julia Lutzeyer

Romantisch: Liebes-Pasde-deux in einer Choreografie des Staatlichen Russischen Balletts, das den „Schwanensee“ in Perfektion inszeniert,

Fotos: srb-moskau.de, POP-EYE/Christina Kratsch

spielt und tanzt.

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Das Gute und das Böse, das Helle und das Finstere, der Unschuldsengel und das Ungeheuer, die gewöhnliche Welt und die absonderliche: Gegensätze bringen Spannung in eine Geschichte. Geradezu gespickt mit solchen Kontrasten und Dualismen ist das Märchen „Schwanensee“. Das populärste aller Ballette ist selbst den Menschen ein Begriff, die mit Bühnentanz nichts anfangen können. Es zählt zu den am häufigsten aufgeführten Bühnenwerken, und nur wenige der klassischen Kompanien verzichten auf das Stück. Mit den durch Federn und weißen Tutus geschmückten, auf Spitze trippelnden Ballerinen mit grazil übereinandergelegten Handgelenken ist es zum Inbegriff des akademischen Tanzes geworden. Warum es 18 Jahre dauern sollte, bis das Publikum Tschaikowskys „Schwanensee“ entdeckte und feierte? Das ist eine andere Geschichte. Man muss kein Ballettfan sein, um in den Bann der bildhaften weiblichen Hauptfigur zu geraten. Sie steht im Zentrum der Geschichte. Sie auf der Bühne handeln und leben zu lassen, ist die eigentliche Aufgabe und Herausforderung für Choreografen. Auch deshalb wird der Klassiker gerne neu bearbeitet und, wie in den letzten Jahren geschehen, oft völlig revolutionär inszeniert. Im fantasievoll erzählten Märchen stehen sich zwei Sphären gegenüber. Der erste und der dritte Akt repräsentieren mit Schlosspark und Festsaal die Zivilisation, während Part zwei und vier – auch weiße Akte genannt – mit dem abgelegenen Waldsee in der Natur spielen. Hier gelten andere Gesetze, walten magische Kräfte, lebt die weiße Schwanenkönigin Odette. Im nächtlichen Mondschein gewinnt die Verzauberte menschliche Gestalt. Ihre Widersacherin: das schwarz gefiederte abelwesen Odile, durchtriebene ochter des Zauberers Rotbart. Wie Prinz Siegfried die höfische Gesellschaft verlässt, um auf die Jagd zu gehen und in Wald und Flur alleine zu sein, so gelingt auch dem schwarzen Schwan der Grenzübertritt. Mit ihrem Vater erscheint Odile beim Hofball und tanzt den Prinzen um den Verstand. Das Publikum findet sich in der polarisierten Welt leicht zurecht. Mühelos durchschaut es Rotbarts Trick, den Liebesschwur zwischen Siegfried und Odette mithilfe seiner verführerischen Tochter zu brechen. Der Prinz verwechselt die falsche Liebe mit der wahren, die böse mit der guten und vereitelt so deren Rettung. Es gehört zum Mythos

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„Schwanensee“, dass darüber debattiert wird, ob das Ende positiv oder tragisch zu interpretieren sei. Folgt man dem Musikwissenschaftler Thomas Kohlhase, schloss die missglückte Moskauer Uraufführung 1877 zwar mit dem Abschied Siegfrieds und dem Tod der Schwanenkönigin, musikalisch aber klang sie friedvoll mit Harfenakkord im optimistisch klingenden Dur aus. Das anspruchsvolle Bolschoi-Publikum lehnte weniger den zwiespältigen Schluss ab; entscheidender war es, dass die Fassung von Wenzel Reisinger der lyrisch-erzählenden Musik nicht gerecht geworden und dilettantisch dargeboten worden war. Tatsächlich beginnt die Erfolgsgeschichte von „Schwanensee“ mit der Sankt Petersburger Neufassung von 1895 zwei Jahre nach Tschaikowskys od. In der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow stehen die ertrunkenen Liebenden Odette und ihr Prinz von den Toten auf und leben in einer anderen Welt glücklich weiter. In dieser Inszenierung traten die Schwanenmädchen erstmals in verkürzten Tutus auf, um die komplexe Beinarbeit sichtbar zu machen. Legendär ist der Pas de quatre der kleinen Schwäne mit raschen Wechselschritten bei überkreuzten Armen. Seither steht das Stück auf dem Spielplan des Mariinsky-Theaters, aktuell in der Bearbeitung von Konstantin Sergejew von 1950. Selbst nach der Oktoberrevolution zeigte man an der Newa-Mündung „Schwanensee“, häufiger als zur Zarenzeit. In Wien, Paris, London und New York reüssierte der getanzte Traum mit seinem wogenden Meer aus grazil flügelschlagenden Armen, die sich dann und wann als Schwanenhälse zu erkennen geben, mit der Emigration russischer Tänzer. So brachte Nikolai Sergejew den zauberhaften Stoff mit nach London. Rudolf Nurejew schuf gleich zwei Interpretationen: 1964 für das Ballett der Wiener Staatsoper, zwei Jahrzehnte später für die Kompanie der Pariser Oper und die Mailänder Scala. „Für mich ist ‚Schwanensee‘ ein langer Tagtraum des Prinzen Siegfried“, erklärte er seine Lesart. Aufgewachsen mit romantischer Literatur und dadurch in seinem Wunsch nach Unendlichkeit bestärkt, lehne der Prinz die Realität und die Ehe ab, die ihm seine Mutter und sein Lehrer aufzwingen wollten. Sein Leitstern sei die idealisierte und zugleich unerfüllbare Liebe. Nurejew folgerte: „Der weiße Schwan ist die unberührbare

Farbenfroh: Harlekin in einer „Schwanensee“Inszenierung des russischen Staatsballetts im Januar 2014 im Berliner Admiralspalast.

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Wandelbar: ob in einer klassischen Inszenierung wie der des Staatsballetts Berlin (links) oder einer stark überzeichneten und verfremdeten Adaption wie beim Stockholmer „Swan Lake Reloaded“ (Mitte).

Ballets Trockadero de Monte Carlo parodiert „Schwanensee“ und begeistert mit männlicher Besetzung, die natürlich auch Odette tanzt.

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Rydman aus. Er verlegte den Märchenstoff 2011 ins Drogen- und Prostituiertenmilieu. Sein mit Street- und Breakdance durchsetztes „Swan Lake Reloaded“ ist aber mehr Spektakel als Kunst. Selbst die Parodie des rein männlichen Les Ballets Trockadero de Monte Carlo aus New York, das bis November auf Europa-Tournee ist, zeigt mehr Grazie – trotz des Stylings der Schwanenkönigin als grell geschminkter Dragqueen. Die frühen Abwandlungen entfernten sich im Vergleich zu den radikalen Beispielen der letzten Jahre dagegen nur marginal vom Original. Der britische Choreograf und Meister des erzählenden Balletts John Cranko beispielsweise fand 1963 mit viel Respekt vor der Tradition des Stücks zum tragischen Ausgang zurück. Er berief sich dabei auf Tschaikowskys Anteilnahme am Leben und Sterben des Bayernkönigs Ludwig II. Für den entmachteten Monarchen war Wagners Lohengrin-Schwan eine Quelle der Inspiration, wie man an den Wandgemälden in Schloss Neuschwanstein nachempfinden kann. Ein gutes Dutzend Jahre später machte John Neumeier, Ballettdirektor in Hamburg, den Bayernkönig gar zur zentralen Figur. In „Illusionen – wie Schwanensee“ zeigte Neumeier als Theater auf dem Theater den klassischen Stoff als eine Privataufführung für Ludwig II. und zeichnete damit ein sehr feinfühliges Psychogramm des für unmündig erklärten Märchenkönigs.

Fotos: Carlos Quezada, POP-EYE/Roland POPP, Marcello Orselli, Stuttgarter Ballett

Provokant: Les

Frau, der schwarze Schwan ihr Gegenbild.“ Und damit ganz und gar irdisch und sexuell aufgeladen. Auch George Balanchine, der ebenfalls aus Russland stammende Mitbegründer des New York City Ballet, mutmaßte, die Faszination von „Schwanensee“ sei mit der weiblichen Hauptrolle verknüpft – eine reine Imagination, entstiegen aus den Elementen Luft und Wasser. Scherzhaft ob der Begeisterung schlug Balanchine vor, künftig alle Ballette „Schwanensee“ zu nennen, und war sicher: „Das Publikum würde kommen.“ Diesen Trick macht sich bis heute eine ganze Reihe Choreografen zunutze, indem sie die Handlung neu und immer wieder anders erzählen. Dafür steht insbesondere Mats Eks „Swan ake“ von 198 , häufig als Antiballett oder Parodie bezeichnet. Der Prinz muss in dieser fürs Cullberg Ballet in Stockholm geschaffenen Adaption wegen seines Mutterkomplexes in psychologische Behandlung und tanzt mit männlichen Schwänen, die durch Glatzköpfe glänzen. Ebenso berühmt und berüchtigt: Matthew Bournes „Schwanensee“, 1995 in London uraufgeführt und am New Yorker Broadway gespielt. Der Brite steckte Männer ins gefiederte Beinkleid und rückte Siegfried ins Zentrum der Handlung. Hier taugt Odette nicht als Projektionsfläche für so mancherlei Sehnsüchte. Das revolutionäre Stück spielt thematisch deutlich auf Tschaikowskys Homose ualität an. Wenig überzeugend fiel dagegen die Bearbeitung des Schweden Fredrik

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Gefeiert: Die John-

Eine Tänzerin im Ballett der Ballette hat sich als einer von vielen Schwänen entweder einer höheren Ordnung zu fügen oder erhält als Solistin die Chance, eine Doppelrolle und damit gleich zwei Frauentypen zu gestalten: die vergeistigte Odette und die aufreizende Odile. Alicia Amatriain, Gewinnerin des Prix Benois de la Dance 2016, des Oscars der Ballettwelt: „‚Schwanensee‘ ist einfach wunderschön. Die eleganten Linien! Von oben betrachtet, kann man die Muster der Choreografie und Gruppenarrangements sehen.“ Schon als Absolventin der hoch angesehenen staatlichen John-Cranko-Schule durfte die Erste Solistin des Stuttgarter Balletts in Crankos Fassung tanzen, damals im Korps der 24 Schwäne. Mit Anfang 20 debütierte sie als Odette und Odile. Auf die Frage, welcher Charakter ihr näher sei, erinnert sich die heute 35-Jährige: „Für mich war der schwarze Schwan, also Odile, schwerer. Und das nicht allein wegen der 32 Fouettés.“ Diese Serie gepeitschter Drehungen auf Spitze mit einem Spielbein verdankt die Ballettwelt Pierina Legnani, der technisch herausragenden Tänzerin am Mariinsky-Theater von Sankt Petersburg zur Zeit von Marius Petipa. Extra für die erste Primaballerina assoluta fügte er das Kunststück in den dritten Akt ein, das das kundige Publikum nun von jeder Odile erwartet. Nicht nur wegen dieser Schwierigkeit sind manche Kompanien dazu übergegangen, die Doppelrolle

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Odette/Odile von zwei Tänzerinnen darstellen zu lassen. Amatriain „Das finde ich schade. Gerade die Transformation von Odette zu Odile und zurück, verkörpert von ein und derselben Person, macht einen Großteil der Faszination aus.“ Mittlerweile hat sie die weibliche Hauptrolle des Klassikers so oft getanzt, dass sie weiß, wie sie diesen Vamp im schwarzen Federkleid darstellen muss. „Odile ist eigentlich kein Mensch, sie ist ein Tier. Die Bewegungen der Arme entspringen im Rücken und gehen über die Schulterblätter und Arme bis in die Fingerspitzen“, erklärt sie. „Man muss die Arme ganz anders bewegen als im klassischen Tanz und kann dem Part eine moderne Note geben, auch wenn die Choreografie durch und durch akademisch ist.“ Der schönste Moment sei der Liebes-Pas-de-deux im vierten Akt: die emotionale Musik, eine zerbrechliche Odette mit den an Tränen erinnernden Armbewegungen sowie die spürbare tiefe Liebe zum Prinzen. Alicia Amatriain: „Gelingt es, dies sichtbar zu machen, ist das Publikum gefangen und gefesselt.“ Auch wenn sie sich für Stuttgart, das mit Crankos Meisterwerk seinen „Schwanensee“ hat, eine Neuinterpretation nicht vorstellen kann, schwärmt die Starsolistin von Bearbeitungen wie der von Mats Ek und der von Matthew Bourne und sagt: „Einfach genial!“ Und so verfestigt sich der Eindruck: Man darf mit „Schwanensee“ schon einiges anstellen. Seinen Zauber aber darf man diesem getanzten Märchen nicht nehmen.

Cranko-Inszenierung des Stuttgarter Balletts gilt als herausragende Adaption, hier mit Alicia Amatriain und Friedemann Vogel in den Hauptrollen (rechts).

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Harlem-Story Das berühmte New Yorker Stadtviertel – einst Hochburg der afroamerikanischen Kultur – erlebt seine zweite Renaissance. Fast 100 Jahre nach den legendären Tanzund Jazzklubs ziehen Architektur und Lebensqualität die Menschen magisch an. :: Von Sebastian Moll

Freitagabend an der Lenox Avenue. Rund um die Bar des Red Rooster drängt sich ein elegantes, junges Publikum, Schwarz und Weiß gemischt, nippt an exotischen Cocktails und swingt sich zu Electrodance-Rhythmen in den Abend hinein. Unmittelbar nebenan wird im afrofranzösischen Bistro Lucienne genüsslich getafelt, während eine Band aus Mali spielt. Zwei Straßen weiter strömt das Publikum aus dem frisch renovierten, prunkvollen alten Apollo Theater, wo eine Jazz-BigBand aus Chicago gerade ihr Konzert beendet hat. Wir befinden uns im Zentrum von Harlem, jenem Viertel von New York, das seit mehr als 100 Jahren die Zuflucht und Heimat für das schwarze Amerika darstellt. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat man mit den Straßen von Harlem alles Mögliche in Verbindung gebracht, nur ganz bestimmt nicht elegantes Nachtleben. Die Zeiten der legendären Tanz- und Jazzklubs, etwa des Cotton Club und des Savoy Ballroom oder auch des Apollo, lagen 70 Jahre zurück. Seither hatte sich der Verfall über Harlem hergemacht, Armut, Schmutz und Kriminalität regierten die Straßen.

Haltestation Harlem: Die Linie 1 im New

Um die 1940er-Jahre war Harlem zunehmend zu einem Slum verkommen. Die schwarze Mittelschicht floh wie die Mittelschicht überall in die Vororte, zurück blieb der soziale Bodensatz der Hoffnungs- und Perspektivlosen. In ihrem Buch „Harlem Is Nowhere“ beschreibt die Schriftstellerin Sharifa Rhodes-Pitts, wie das Harlem jener Zeit aussah: „Vom alten Feuerturm im Mount Morris Park aus konnte man überall die Brände sehen, die Hausbesitzer an ihre eigenen Häuser gelegt hatten, um verarmte Mieter auf die Straße zu treiben und wenigstens noch eine Versicherungssumme zu kassieren.“ Rhodes-Pitts schrieb diese Worte vor rund zehn Jahren. Die Löcher, die im Stadtbild entstanden waren, sind beinahe vollständig verschwunden. An ihre Stelle traten neue Apartmenthäuser, Businesshotels, Geschäftshochhäuser, Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Harlem erlebt derzeit eine zweite Renaissance nach den 20er- und 30er-Jahren, die als eigentliche Harlem-Renaissance in die Geschichtsbücher eingingen. Mit ihr verbunden waren Schriftsteller, Künstler und Musiker wie Duke Ellington und Billie Holiday. Sie alle wurden von der Magie Harlems angezogen. Harlem war der einzige Ort in den Vereinigten Staaten, an dem Afroamerika, relativ unbeeinträchtigt durch direkte Unterdrückung und Gewalt, in Würde und Freiheit ein bürgerliches Dasein führen konnte.

Yorker U-Bahn-Netz steuert die 125. Straße an. Im Hintergrund der Turm der Riverside Church.

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Die neue Harlem-Renaissance gibt sich große Mühe, an die goldene Zeit anzuknüpfen. Das Red Rooster etwa, Restaurant des schwedisch-äthiopischen Starkochs Marcus Samuelsson, das Harlem kulinarisch auf den New Yorker Stadtplan setzte, ist vom Stil her zutiefst den 20er-Jahren

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Beliebtes Gebiet: Die ausgefallene Architektur, Bäume und Grünanlagen üben einen besonderen Reiz auf Harlems Wohngegend der 136. Straße aus.

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125. Straße spielen im Apollo Theater Jazz-Big-Bands groß (links) und im Shrine Livegruppen klein auf (rechts oben), während in Läden afroamerikanische Straßenmode dominiert (rechts unten).

Morris Park Historic District. Die baumbewachsenen, idyllischen Wohnstraßen sind von einer architektonischen Pracht, die man sonst kaum irgendwo in New York findet und die mit der Wiedergeburt von Harlem voll zur Geltung kommt. Auch hier lässt sich die Geschichte lesen. Die Strivers’ Row an der 138. Straße etwa war zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Vorzeigeprojekt der besten Architekten der Zeit. So baute damals einer der bedeutendsten unter ihnen, Stanford White, eine Reihe dreistöckiger Terrakotta-Villen

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im italienischen Renaissancestil. Die Bauten sollten die weiße Oberschicht anlocken, auf die man beim Aufbau von Harlem spekulierte. Doch eine Wirtschaftskrise um 1895 und die Verzögerung des U-Bahn-Baus verhinderten den Zuzug einer wohlhabenden Klientel. Stattdessen kamen die Afroamerikaner, die eine Chance sahen, ihren beengten und heruntergekommenen Wohnquartieren im Süden von Manhattan zu entfliehen. Schwarze Unternehmer eröffneten inmitten der Baisse Teile des neuen Viertels für deren Zuzug. Für die Afroamerikaner ist die neue Renaissance kein ungetrübter Segen. Immer mehr gut gestellte Weiße interessieren sich für die architektonische Schönheit und die wiedergewonnene Lebensqualität des Viertels. Die Grundstückspreise und Mieten explodierten geradezu in den vergangenen zehn Jahren. Viele der angestammten Bewohner mussten wegziehen. So wurde im Jahr 2010 gemeldet, dass in Harlem erstmals seit den 20er-Jahren weniger als 50 Prozent der Bevölkerung schwarz seien. Der Kern von Harlem ist zwar noch immer afroamerikanisch. Von Osten her drängt jedoch die rapide wachsende lateinamerikanische Bevölkerung in den Stadtteil, von Süden, vom Central Park her ist es die weiße Bevölkerung. Viele nehmen das mit Gleichmut hin. Andere hingegen glauben, dass mit der Verwandlung Harlems in ein New Yorker Stadtviertel, das sich von vielen anderen kaum mehr unterscheidet, etwas Wesentliches verloren gehe. Harlem ist noch immer Zentrum des schwarzen Amerikas. Man muss nur die Lebensader des Viertels, die 125. Straße, entlangspazieren, um sich davon zu überzeugen. Dort zeigen sich afrikanische Straßenhändler, die ihre Tücher und Duftessenzen verkaufen, Läden mit schwarzer afroamerikanischer Straßenmode, aus denen Hip-Hop dröhnt, und Prediger der Nation of Islam, die am U-Bahn-Ausgang lauthals ihre Botschaft von Black Pride verkünden. Über allem weht aus Imbissbuden der Duft von frittiertem Huhn, dem klassischen Südstaatengericht, das die Afroamerikaner während der „großen Migration“ im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts mit in den Nordosten brachten. Noch ist Harlem Harlem. Ein wunderbarer, aber komplizierter Bezirk, der immer mehr um seine Identität ringt und doch seinen Ursprung nie vergisst.

Fotos: Heuer, Getty Images/iStockphoto/Johner RF, ddp images/Newscom

Umtriebig: Auf der

verpflichtet. So ist der Ginny’s Supper Club, die Kellerbar des Rooster, ganz in Art déco ausgestattet. An fünf Abenden in der Woche kann man dort in intimer Atmosphäre zu Samuelssons Köstlichkeiten einer klassischen Jazz-Combo lauschen. Ein ähnliches Konzept verfolgt das erst 2013 wiedereröffnete, legendäre Minton’s Playhouse. Der Betreiber, Medienunternehmer Richard Parsons, will in der Bar des Cecil-Hotels die 40er-Jahre wiederauferstehen lassen, als im alten Minton’s die besten Jazzmusiker Abend für Abend spielten. Die gleiche vornehme Eleganz wie das Ginny’s oder das Minton’s verströmen die besseren Wohnlagen in Harlem, etwa die Strivers’ Row an der 138. Straße, Sugar Hill oder der Mount

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Die wunderbare Welt der FARBEN Verlockend schimmert die Farbe Gold, erinnert uns an das kostbare Edelmetall, wird als Auszeichnung den Besten verliehen und ist fest in die Sprache integriert. :: Von Alexander Fangmann

Strahlende Augen und der Glanz der Medaille: Vor wenigen Wochen noch erhielten Athleten bei den Olympischen Spielen in Rio Gold – für die meisten der Höhepunkt ihrer Karriere. Bei den Siegerehrungen konnte es jeder sehen: Es ist die glänzende goldende Farbe, die uns fasziniert und lockt. Das Wissen um seine Seltenheit macht es noch begehrenswerter. Auch deshalb zeichnen wir besondere Leistungen mit Gold aus – nicht nur bei Sportwettkämpfen. Wer es bekommt, ist in seiner Disziplin top. Das gilt auch für das Musik- und Filmgeschäft. Künstler, die mehr als 100 000 Alben verkaufen, bekommen eine Goldene Schallplatte. Goldene Bären, Goldene Palmen oder den goldenen Hollywood-Oscar gewinnen Aktricen und Akteure aus der Schauspielzunft. Seit Jahrtausenden verarbeiten Menschen das glitzernde Gold zu meist rituellen Gegenständen. Bereits im sechsten Jahrhundert vor Christus benutzten sie das Edelmetall in Form von Münzen als Zahlungsmittel. Aufgrund seiner Seltenheit symbolisiert es Luxus und Glück, verkörpert das Höchste, Edelste und Wertvollste. Gold steht für Weisheit, Klarheit sowie Lebenskraft, auch wenn sein Gegenwert Gier und Neid fördert. So beuteten die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas die goldreichen Völker der Inkas und Azteken vollständig aus. Religiöse und weltliche Herrscher schmückten sich im Verlauf der Historie und Tradition mit goldenen Insignien, goldene Königskronen demonstrierten die Macht des Trägers. Im alten Ägypten stand Gold für den Sonnengott Re und

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symbolisierte Ewigkeit und Unsterblichkeit. Die Inkas hielten das Metall für die Schweißperlen ihres Sonnengotts. Buddhisten verehren Gold als Farbe der Erleuchtung und pilgern zum magisch glänzenden Goldenen Felsen, der berühmten Wallfahrtsstätte in Myanmar. Als Goldene Stadt gilt Prag, über dessen Beinamen oft spekuliert wird. Tatsächlich bezieht er sich auf die vielen Sandsteintürme, die im Sonnenschein in Goldtönen schimmern. Der Geschichte nach ließ Kaiser Karl IV. die Türme der Prager Burg vergolden. Dass viele Begriffe und Redewendungen rund um Gold kreisen, spricht dafür, wie fest wir uns mit den Assoziationen identifizieren. „Treu wie Gold“ feiern Paare nach 50 Ehejahren goldene Hochzeit, kostbare Güter wie Öl nennen wir schwarzes Gold, bei weißem Gold meinen wir Marmor, Speisesalz oder Spargel. Für Langschläfer hat „Morgenstund’ kein Gold im Mund“ – oft gilt für sie: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Auch die Literatur verherrlicht gerne den goldenen Herbst, goldene Blätter oder Ähren. In Goethes „Faust“ heißt es: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen!“ Die Farbe des Jahres 2016 ist übrigens Goldocker.

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Traumhaft: die Goldmedaille bei Olympia.

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Anmutig:

Schimmernde Dächer machen Prag zur Goldenen Stadt. 3

Putzig: der goldige Goldhamster.

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Wertvoll: Der Gol-

dene Felsen ist ein Wahrzeichen von Myanmar. 4

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Ein Bild und seine

29.08.1966 :: Von Alexander Fangmann

darauf halten Mitglieder des Ku-KluxKlans in Washington eine Mahnwache ab. Grund: John Lennon hatte in einem Interview gesagt, die Beatles seien populärer als Jesus. Daraufhin kommt es zu Protesten und öffentlichen Plattenverbrennungen. Laut einem anonymen Anrufer soll beim Konzert in Memphis ein Beatle während des Auftritts erschossen werden. Auch für San Francisco gibt es Hinweise. Ein gepanzertes Auto wartet deshalb mit laufendem Motor hinter der Bühne.

Nach nur elf Songs beendeten die „Fab Four“ das Konzert. Schlanke 33 Minuten dauerte der letzte Auftritt der Jungs aus Liverpool. Ein Abschluss mit Ansage und doch überraschend. Der enorme Lärm hatte die Band schon lange gestört. Ihre Kompositionen waren längst zu komplex, um sie zu viert live spielen zu können. Der Rückzug ins Studio schien logisch. Bis zur endgültigen Trennung 1970 steckten John, Paul, George und Ringo ihre musikalische Genialität in die Produktion sechs weiterer Alben – die alle unsterblich wurden. Der Candlestick Park existiert mittlerweile nicht mehr. „The Stick“ musste 2015 einem Einkaufszentrum und Wohnanlagen weichen. Edel: Sir Paul McCartney sagte am 14. August 2014 mit einem Konzert goodbye zu der Bühne, auf der die legendären Pilzköpfe 48 Jahre zuvor letztmals gemeinsam öffentlich aufgetreten waren.

Impressum Herausgeber und Verlag: Deutscher Sparkassen Verlag GmbH, 70547 Stuttgart, Tel. +49 711 782-0 Chefredakteur: Thomas Stoll Stv. Chefredakteur: Ralf Kustermann (Redaktionsleitung), Tel. +49 711 782-1586, Fax +49 711 782-1288, E-Mail: ralf.kustermann@dsv-gruppe.de Art Director: Joachim Leutgen Chefin vom Dienst: Antje Schmitz Layout und Grafik: 7Stars NewMedia, Leinfelden-Echterdingen Autoren und Mitarbeiter: Alexander Fangmann, Wolfgang Hörner, Marco Löw, Julia Lutzeyer, Sebastian Moll, Lilith Nickl, Ulrich Pfaffenberger, Yorca Schmidt-Junker, Britta Scholz, Birga Teske Druck: MP Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn Anzeigen: Anneli Baumann, Tel. +49 711 782-1278 Artikel-Nr. 330 155 045

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Foto: Koh Hasebe/Shinko Music/Getty Images

Ein kalter Konzertabend an der nordkalifornischen Küste. Leichter Nebel zieht durch den mit 25 000 Besuchern gefüllten Candlestick Park in San Francisco. Aufgeregt erwarten die zumeist jugendlichen Fans den Auftritt ihrer Idole. Noch wissen sie nicht, dass der Abend des 29. August 1966 in die Musikgeschichte eingehen soll. Um 21.27 Uhr ist es dann so weit: „The Beatles“ betreten die Bühne, das Publikum tobt. Die Schreie der Fans machen es fast unmöglich, den Gesang der frenetisch gefeierten Band zu verstehen. Diese verliert während ihrer Welttournee zunehmend an Spiellaune. Nachdem sie auf den Philippinen eine Essenseinladung der Präsidentengattin ausgeschlagen hatte, kam es dort zu heftigen Tumulten. Seit dem 12. August touren die vier nun durch die USA. In Cleveland wird das Konzert unterbrochen, als 2500 Fans die Absperrungen durchbrechen. Tags

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Was macht glücklich?

Gute Freunde, Musik, ein blauer Himmel, die Liebe, nette Kollegen, ein großes Eis? Jeder Mensch hat große und kleine Träume vom Glück. Wir wollen helfen, dass auch für Menschen mit Behinderungen viele dieser Träume wahr werden. In einem Leben, das so selbstbestimmt wie möglich ist, mit so viel Hilfe wie nötig. Denn Freiheit macht glücklich.

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