Ein bisschen Geschichte Das Valtellina und insbesondere das Val Masino gehören zu den ersten Orten in Italien, an denen sich das freie Klettern entwickelt hat und an denen die Messlatte der Schwierigkeiten immer höher gelegt wurde, von der ersten 8a bis hin zur heutigen 9a. Bis in die Mitte der 70er Jahre wurde am Sasso Remenno und in Klettergärten wie La Sirta, Lassella und Isolaccia nur im alpinistischen Stil geklettert: die Linien wurden mit Felshaken erschlossen, die sowohl zur Sicherung als auch zur Fortbewegung dienten, und Sinn und Zweck des Ganzen war die Vorbereitung für die ganz hohen Wände. Die Idee des freien Kletterns, so wie wir es heute kennen, verdankt seinen Ursprung dem Alpinisten Paul Preuss, der im Jahr 1912 die Möglichkeit einführte, eine Linie auch ohne Verwendung von künstlichen Hilfsmitteln zur Fortbewegung klettern zu können. Danach griffen die stärksten Alpinisten nur bei nicht absicherbaren Abschnitten auf dieses Konzept zurück und nutzten die Haken, um zwischen zwei frei gekletterten Sequenzen zu rasten. Wirklich konkret wurde das Konzept des freien Kletterns aber erst in den 60er Jahren, als John Gill den Blickwinkel komplett verschob: von den hohen Wänden hin zu den Felsblöcken und kleinen Klettergärten. Auf der gleichen revolutionären Welle schwammen auch in Italien zwei große Bewegungen: der sogenannte „Nuovo Mattino“ im Valle dell’Orco und der „Sassismo“ im Val Masino. Sie revolutionierten auch in Italien die Herangehensweise an das Klettern und die Beziehung zum Fels. „Diese Jungs fanden, dass in die Berge gehen nicht das Ergebnis eines Duells zwischen Männern, oder zwischen Supermännern, sein sollte, sondern vielmehr eine persönliche, freudebringende und spontane Erfahrung, bei der jeder frei ist, neue Möglichkeiten zu suchen, um sich selbst auszudrücken. Der Sassismo war ein Moment großer Provokation, der Zerstörung, Suche und Vorschläge. Die erste Provokation war es, einen neuen Spielplatz zu suchen: so weit entfernt wie nur möglich von jenem, der von Konkurrenz und organisiertem Heldentum geprägt war, den damaligen Idealen der Vorgängergeneration. Die Wahl fiel auf ein Terrain, das genauso einfach zu finden war, wie es in den Augen des offiziellen Alpinismus unnütz war: die Felsblöcke. Auf diesen Blöcken entdecken diese jungen Kletterer das spielerische Klettern, die Freude, zu spüren, wie sich der Körper mit seinen Bewegungen an die verschiedenen Situationen anpasst, das Klettern, ohne dabei Spuren zu hinterlassen, genauso, wie es Spinnen, Ameisen, Affen oder andere Tiere schon immer gemacht haben. Es war eine sehr kreative und lustige Zeit: die schweren und umständlichen Bergstiefel, die zu einem Kletterstil fernab von Natürlichkeit und Spontanität zwangen, wurden verbannt und die Felshaken, die seit Jahrzehnten das unbestrittene Werkzeug waren, um hässliche und unlogische Wände zu bezwingen, wurden auf ein Minimum reduziert und von den „weicheren“ und „ökologischeren“ Nuts und Friends ersetzt.“ Auszug aus „Mellomito“, J.Merizzi, edizioni VEL 2013. Im Fahrwasser des tatkräftigen Ivan Guerini legten Persönlichkeiten wie Antonio Boscacci, die Brüder Merizzi und Popi Miotti den Grundstein für das, was sich dann in den Granitwänden des Val Masino und im ganzen Valtellina entwickeln sollte. Ab den 80ern nimmt das Sportklettern dann richtig Aufwind und Kletterer wie Daniele Pigoni, Paolo Cucchi, Enrico Fanchi, Roberto Bianchini, Martin Scheel und Beppe Dallona erschließen und rotpunkten die ersten Routen im Val Masino. Nennenswert sind mit Sicherheit die Linien von Daniele Pigoni, großer Künstler und sehr starker Kletterer, der mehr als alle anderen die schwierigsten Möglichkeiten zwischen den Griffen und Tritten dieser Felsen erkennen konnte. Hier spiegeln sich Jahre des Experimentierens und Erfahrungen in Frankreich, England und Amerika in der Herangehensweise an den Fels in Italien wieder. Aber nicht nur im Guten, zu den nega-
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