LIEBE AUF DIE ERSTE PLATTE Von Martina Cislaghi
Es liegt wohl daran, dass sich meine sportlichen Aktivitäten schon immer auf die unteren Gliedmaßen konzentriert haben, aber mit großen Überhängen, Dächern und Kopfüberkletterei bin ich noch nie so richtig warm geworden. Dazu kommt, dass mir nie jemand genau erklärt hat, wie man im Riss klettert und daher habe ich mit dieser Technik noch eine Rechnung offen. Aber es macht mir Spaß, Neues zu lernen und auszuprobieren und früher oder später werden mich auch Risse und Überhänge im Angriffsmodus erleben. Die Wahrheit ist jedoch, dass ich bereits seit meiner ersten Kletterschritte von der Platenkletterei fasziniert war. Genau, denn die Platte ist das, was du ansiehst – vor allem als Anfänger – und dich fragst: „aber wo sind denn die Griffe?“, „wo kann man denn hier klettern?“, „hier kann man wirklich klettern?“. Du schaust die Platte an und vergleichst sie dabei mit der Tafel aus Schulzeiten und kommst zu dem Schluss, dass die Wand deutlich glatter ist als die Tafel. Ein erster Grund für meine Liebe zur Platte sind die Reaktionen, die sie beim ersten Anblick auslöst: sie scheint unbezwingbar, unlesbar, unkletterbar. Die Platte hat die Macht, ihren Betrachter aus dem Gleichgewicht zu bringen, Zweifel aufkeimen zu lassen und Unsicherheit über die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, sie klettern zu können. Gleichzeitig aber ruft sie jene, die in der Lage sind zuzuhören, sie schlägt ein Duell vor, aber nur ganz leise, sie schlägt einem nicht den Handschuh ins Gesicht, so wie es ein großer Überhang oder ein Offwidth Riss tun würde; die Platte ist diskret, sie lässt die Tür offen und lädt dich in, dich anzunähern, sie zu beobachten, zu berühren und zu entdecken, dass sie gar nicht so platt, formlos und eben ist, sondern ganz im Gegenteil, lebendig, dreidimensional und reich an Relief, ein Mosaik an wahrnehmbaren, tastbaren und greifbaren Formen für all jene, die wirklich Lust darauf haben, so ein Abenteuer in Angriff zu nehmen. Die Platte ist der George Seurat der Felsen: so wie im Pointillismus die Farben in kleinste Punkte zerteilt wurden, damit sie sich dann im Auge des Betrachters zu einem großen Ganzen zu-
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sammenfügen, so wird die Kletterei auf der Platte in kleine Kristalle und Quarze aufgeteilt, von denen jeder unerlässlich für Gesamtkomposition eines großen Kunstwerks ist. Der Plattenkletterer ist daher eine Art Hybrid aus Entdecker, Forscher und Künstler: er braucht einen besonderen Blick, mit Auge fürs Detail, die Lust, etwas entdecken zu wollen, einen neuen Blickwinkel auszuprobieren, bei dem das Kleine und Kleinste von großer Bedeutung ist. Er muss angetrieben sein, von der der Lust, zu suchen, von dem Bewusstsein, dass das Versteckte nicht unauffindbar ist, dass es nur auf jemanden wartet, der es auch entdecken will. Er muss fest daran glauben, dass das Versteckte in Wirklichkeit sichtbar ist und dass die Leere keine Leerstelle ist. Und er muss in der Lage sein, ein Ganzes zu schaffen, eine Form, er muss die Textur lieben, den Felsspat, das Material, er muss die Felsstruktur so sehr lieben, dass er in der Lage ist, auch die mikroskopisch kleinsten Teilchen zu einem traumhaft schönen Puzzle zusammenzusetzen, so wie viele Pixel zusammen das perfekte Foto schaffen. Nicht nur beim ersten Anblick und bei der Art und Weise sie anzugehen, sondern vor allem im Moment der Besteigung zeigt die Platte all ihre Besonderheiten: um sie bewältigen zu können, muss man ehrlich mit sich selbst sein, denn Kraft allein und null Technik werden dir nicht zum Sieg verhelfen. Die Platte verdreht nicht nur die räumliche Dimension (das Kleine überwiegt dem Großen), sondern auch die zeitliche: es ist das Reich eines gedehnten Zeitbegriffs, die Inkarnation der Langsamkeit, die sich manchmal ins Zeitlose verwandelt. Auf der Platte kann es keine Hektik geben, es ist nicht die Eile, die die Bewegungen vorgibt: die richtigen Strategien sind Ruhe, Beobachtung, Verlangsamung. „Werde ich es wagen, hier die größte, wichtigste, die nützlichste Regel der Erziehung kundzutun? Man muss es verstehen Zeit zu verlieren, um Zeit zu gewinnen“, wenn Rousseau jemals mit dem Klettern in Berührung gekommen wäre, dann wäre er mit Sicherheit ein Plattenkletterer! Die Uhr muss man vergessen, genauso wie das Voranschreiten der Zeit, man muss es sich