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Die Sache beginnt in der analogen Welt
Das Start-up Two Next unterstützt den Sozialbereich bei der Digitalisierung
Maribel Königer
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Direktorin Kommunikation, Journalismus und Medien der ERSTE Stiftung
Georg Spiel
Obmann der pro mente-Gruppe in Kärnten und Geschaftsführer von pro mente: kinder jugend familie GmbH
Nicole Traxler
Geschaftsführerin von Two Next
Von den wenigen positiven Effekten der Pandemie des Jahres 2020 wird am häufigsten der Schub genannt, den die Digitalisierung auf allen Ebenen des Arbeits- und Gesellschaftslebens dank Abstandsregeln, Telearbeit und Videotelefonie erhalten hat.
Doch während in den Inkubatoren und Accelerators der nicht mehr ganz so neuen New Economy schon lange nach skalierbaren digitalen Geschäftsideen gesucht wird, um Wachstumspotenziale zu finden, scheint im Non-Profit-Bereich der Bürocomputer manchmal immer noch das modernste Tool im Werkzeugkasten zu sein.
Aber stimmt das wirklich? Initiativen wie die von der ERSTE Stiftung gegründete Two Next GmbH entwickeln gemeinsam mit Partnern digitale Lösungen für soziale Probleme und unterstützen gemeinnützige Organisationen bei der Digitalisierung ihres Angebots.
Maribel Königer sprach mit Nicole Traxler, Geschäftsführerin von Two Next, und Georg Spiel, Obmann der pro mente-Gruppe in Kärnten und Geschäftsführer von pro mente: kinder jugend familie GmbH, über die Chancen, die die Digitalisierung im Sozialbereich bietet, und die Hürden, die dabei zu überwinden sind.
Lange vor dem Jahr, in dem Homeoffice, Onlineshopping und Telekonferenzen zur täglichen Erfahrung der meisten von uns wurden, 2016, hat die ERSTE Stiftung die erste Initiative für digitale Projekte im Sozialbereich gestartet. Damals noch unter dem Namen BeeTwo. Im Jahr 2020 ist aus BeeTwo dann Two Next geworden. Warum die Umbenennung und wo steht Two Next heute?
Nicole Traxler: 2016 waren wir mit der Digitalisierung zur Lösung sozialer Problemstellungen sehr früh dran und mussten uns gemeinsam mit den NGOs erst vortasten: Was ist überhaupt möglich und, vor allem, „wie ist was möglich, damit am Ende die Probleme auch wirklich gelöst werden? In den letzten zwei Jahren haben wir unsere Organisationsstrukturen und unser Angebot professionalisiert. Nach zwei erfolgreich durchgeführten Innovation Labs stand am Ende dieser Entwicklung die inhaltliche Fokussierung auf die Themen Pflege und Finanzinklusion. Jetzt fühlen wir uns in unserem Setting angekommen und wollten dem auch mit einem geschärften Erscheinungsbild Ausdruck verleihen.
Herr Spiel, Institution Building haben Sie schon lange hinter sich, die pro mente-Gruppe in Kärnten ist eine Organisation mit einer erfolgreichen Geschichte. Mit welchen Zielgruppen arbeiten Sie und welche Leistungen bieten Sie an?
„Die App soll eine tägliche Begleiterin sein und sowohl die Betroffenen als auch BeraterInnen Georg Spiel: Die pro mente-Gruppe in Kärnten besteht aus mehreren Gesundheits- und Sozialdienstleistern, die Men- und TherapeutInnen schen mit psychischen Problemen oder Beeinträchtigungen unterstützen.“ respektive Erkrankungen und deren Angehörigen evidenzbasierte innovative und individualisierte Dienste anbieten. pro Georg Spiel mente kärnten, die älteste Unternehmung, hat vor Kurzem das 40-jährige Bestehen gefeiert, pro mente: kinder jugend familie das 20-jährige. Die Rehaklinik – der jüngste der drei Betriebe – besteht seit 2002. Das Spezifische unserer Angebote – und ich verwende hier bewusst die Mehrzahl – ist, dass wir sehr unterschiedliche Angebote dezentral und gemeindenah anbieten. Wir wenden uns an Kleinstkinder, Kinder und Jugendliche wie auch an Erwachsene und Alte, es gibt Angebote für Menschen mit psychischen Problemen respektive Krankheiten, aber auch Angebote für Menschen mit Behinderungen. Das Spektrum reicht von Beratung, ambulanter Betreuung, Angebote einer Tagesstruktur bis zu vollstationärer Behandlung. Zusammenfassend werden in der pro mente-Gruppe in 56 Einrichtungen in fast allen Bezirken Kärntens unterschiedlichste Betreuungen angeboten.
Offensichtlich ist bei so beeindruckend vielfältigen Betreuungsangeboten wie von pro mente und anderen Organisationen der persönliche Kontakt zu den KlientInnen der Kern der Dienstleistung. Was können digitale Anwendungen in diesem Umfeld überhaupt leisten?
Nicole Traxler: Digitalisierung ist – wie auch andere Maßnahmen von sozialen Diensten – ein Mittel zum Zweck. Sie kann persönlichen Kontakt nicht ersetzen, aber zum Beispiel Kontakt herstellen, wo sonst keiner möglich wäre. Wir haben während der Pandemie erlebt, dass wir – oft gezwungenermaßen – nur dank Videotelefonie und sozialer Medien mit anderen in Verbindung geblieben sind. Ähnliche Tools werden bereits in der Telemedizin und Telepflege eingesetzt. Digitalisierung kann aber Menschen auch Zugang zu Bereichen eröffnen, die diesen sonst verwehrt bleiben. So haben wir zum Beispiel mit den Lebenshilfen Soziale Dienste Frag Tobi entwickelt. Der Avatar setzt auf bestehenden Suchportalen auf und bietet Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen einen einfachen, niederschwelligen Zugang zu Websuche, indem er sie durch die Eingabe und die Ergebnisse führt. Dann gibt es Menschen, die Unterstützung und Informationen nicht bekommen, weil Themen schlecht aufbereitet und Hilfsangebote unverständlich präsentiert sind. Oft sind diese „Die meisten Organisationen Themen auch schambesetzt, manche spre- haben zumindest ein Gespür, chen nur ungern über für welche Probleme ihre Probleme und tun Digitalisierung eine Teillösung sich schwer, Hilfe anzunehmen. Viele Men- darstellen könnte.“ schen kann man mit einer App oder WebNicole Traxler site niederschwellig erreichen, nämlich daheim in den eigenen vier Wänden. So müssen sie nicht den Schritt in eine Beratungseinrichtung machen, sondern können ein Hilfsangebot – von FreundInnen, NachbarInnen und Familienmitgliedern unbemerkt – ausprobieren. So unterstützt Rat auf Draht überforderte Eltern mit gezielten Informationen auf der Elternseite www.elternseite.at. Aktuell arbeiten wir mit der Caritas Wien und dem Ludwig Boltzmann Institut Digital Health and Patent Safety an einem Projekt zur Entlastung von pflegenden Angehörigen, bei dem ebenfalls die Niederschwelligkeit von digitalen Angeboten der entscheidende Vorteil ist.
Was hat pro mente dazu bewogen, am Innovation Lab von Two Next teilzunehmen?
Georg Spiel: Wir nutzen schon seit mehreren Jahren die Möglichkeiten der Digitalisierung, um unsere Angebote zu verbessern und effizienter zu gestalten. Eine konkrete Initiative sieht digitale Angebote für PatientInnen und KlientInnen vor. Wir haben uns bei Two Next beworben, um gemeinsam digitale Unterstützungssysteme für Menschen mit psychischen Problemen und Erkrankungen zu entwickeln.
Die App, die Sie im Rahmen des Innovation Lab entwickelt haben, heißt Coach yourself. A mental health tracking tool. Was kann diese Anwendung? Wer sind die Menschen, die sie verwenden, und welchen Nutzen bringt sie?
Georg Spiel: Wir wissen nicht nur aus Erfahrung, sondern auch durch Studien, dass Menschen mit psychischen Problemen oder Erkrankungen nicht selten spezielle Unterstützung in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Therapiesitzungen brauchen. Die App ist so konzipiert, dass deren NutzerInnen einerseits ihre Befindlichkeit einschließlich Stimmungslage und ihre (Alltags-)Aktivitäten monitieren können und Anregungen bekommen, wie sie mit auftauchenden Problemen besser umgehen können. Die App unterstützt auch, wann und wie Betroffene professionelle Hilfe erreichen können, wenn die eigenen Bewältigungsstrategien erschöpft sind. Die App soll eine tägliche Begleiterin sein und sowohl die Betroffenen als auch BeraterInnen und TherapeutInnen unterstützen, die damit ein zuverlässiges Bild von den Lebensvollzügen der Betroffenen bekommen können. Klar ist, dass die Daten unseren KlientInnen und PatientInnen gehören. Wir haben in der App vorgesehen, dass Betroffene und BetreuerInnen gemeinsam Bewältigungsstrategien und Interventionen vereinbaren können, die angewendet werden sollen. Die Sache beginnt also in der analogen Welt.
Kommen die meisten Organisationen schon mit so konkreten Ideen für Anwendungen oder ist es auch eine Aufgabe von Two Next, aufzuzeigen, welche Erleichterungen für die KlientInnen oder MitarbeiterInnen einer Organisation durch digitale Anwendungen überhaupt möglich sind?
Screenshots der App Coach Yourself, einer Zusammenarbeit von pro mente research und Two Next; Design und Entwicklung in Zusammenarbeit mit v_labs
Nicole Traxler: So wie pro mente haben die meisten Organisationen sehr wohl eine Vorstellung oder zumindest ein Gespür, für welche Themen und Probleme Digitalisierung eine Teillösung darstellen und wie man sie einsetzen könnte. Wir begleiten sie auf dem Weg von der Problemstellung zu einem ersten digitalen Prototyp als greifbares Lösungskonzept. Dabei stoßen wir weiterhin auf einige Hürden. Das Feld ist relativ jung und in den Organisationen gibt es noch recht wenig Wissen und Erfahrungswerte. Außerdem fehlt der Zugang zu Netzwerken. Wir unterstützen NGOs daher auch beim Aufbau von Wissen und Netzwerken. Ein weiteres großes Hindernis für den Einstieg in die Digitalisierung sind auch die relativ hohen Kosten für Entwicklung und Design. Bei den ersten Schritten können wir diese Kosten durch die Unterstützung der ERSTE Stiftung entlasten und so den Start in das Thema erleichtern. Gleichwohl ist das Interesse an unserer Arbeit groß. In den letzten zwei Jahren waren viele namhafte Non-Profit-Organisationen vor allem aus Österreich im Innovation Lab mit dabei: neben pro mente research etwa Arbeiter-Samariterbund Österreich, Caritas der Erzdiözese Wien, Lebenshilfen Soziale Dienste, SOS Kinderdorf, Lebenshilfe Salzburg, Caritas St. Pölten, NARKO-NE aus Bosnien und Volkshilfe Wien.
pro mente plante die Anwendung, die Sie mit Two Next entwickelt haben, ja schon länger, aber rückblickend wäre eine App zum Selbst-Coaching ein Tool gewesen, das wir alle im Lockdown des Pandemiejahrs gut hätten gebrauchen können. Wo stehen Sie gerade, im Frühjahr 2021, mit dem Produkt? Wird es demnächst einsetzbar sein?
Georg Spiel: Es war sicher eine besondere Herausforderung, diese App im Jahr 2020 zu entwickeln. Andererseits wurde, wie Sie richtig sagen, die Bedeutung dieses Angebots in Zeiten von verstärkter Isolation umso klarer. Der Prototyp ist fertig und wir planen bereits in diesem Frühjahr, sie in verschiedenen Betreuungssettings einzusetzen, um aus den Erfahrungen zu lernen und die App weiterzuentwickeln. Der Prototyp ist nur der Beginn einer Entwicklung mit viel Potenzial. Es bietet sich an, eine Modifikation für Kinder und Jugendliche zu entwickeln oder für Menschen mit chronischen Erkrankungen.
„Viele Menschen kann man Wie ist es Two Next in diesem ungewöhnlichen Jahr gemit einer App oder Website gangen? Womit mussten Sie besonders kämpfen? niederschwellig in den eigenen Nicole Traxler: 2020 hat uns gefordert, aber auch neue vier Wänden erreichen.“ Möglichkeiten eröffnet und uns als Organisation geprägt. Als Team arbeiten wir seit März 2020 größtenteils von zu Nicole Traxler Hause aus. Wir haben neue Prozesse der Zusammenarbeit aufgebaut, zum Beispiel ein tägliches Check-in als Team in der Früh. Jetzt wissen wir, was online alles möglich ist – und wo die Grenzen sind. Unser Innovationsprogramm mussten wir im April unterbrechen, denn einige unserer TeilnehmerInnen gingen in Kurzarbeit oder bauten neue Projekte mit Coronabezug auf. Den Sommer haben wir deshalb zur Einführung eines neuen Formats genutzt: In den Summer Sprints haben wir den NGO-Netzwerken der ERSTE Stiftung Trainings in userzentrierter Innovation, agilem Projektmanagement und Softwareentwicklung angeboten. Im Herbst ging es wieder online weiter. Das war witzigerweise auch für uns eine neue Erfahrung, die unsere Prozesse sicher langfristig beeinflussen wird. So haben wir bereits zwei neue Projekte komplett digital gestartet. Zusätzlich haben die Pandemie und die damit verbundene Krise einige soziale Missstände noch einmal deutlicher aufgezeigt, im Pflegesystem zum Beispiel – ein Grund, um Pflege zu einem Fokusthema zu machen. Wir wollen uns speziell auf den größten Sektor der Pflegekräfte konzentrieren, die pflegenden Angehörigen. Unterstützt durch die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und gemeinsam mit einem Netzwerk an Non-Profit-Organisationen arbeiten wir bereits an einem Projekt zu ihrer Entlastung.
Herr Spiel, wie sehen Sie im Nachhinein die Rolle von Two Next? Was war hilfreich, was könnte aus Ihrer Sicht noch verbessert werden?
Georg Spiel: Grundsätzlich wäre die Entwicklung von Coach yourself ohne Two Next nicht möglich gewesen. Wir haben sehr von der Organisations- und Innovationsstrategie von Two Next profitiert sowie von der Softwarekompetenz. Für uns ist es ein Gewinn, dass die Möglichkeiten der App deutlich weiterausgebaut werden könnten bis hin zu digitaler Beratung und digitaler Therapie für verschiedenste Klientengruppen. Für uns war diese Initiative der Einstieg in das, was ich gerne als „E-Mental-Health“ bezeichne.
Beispiele für Apps oder webbasierte Anwendungen, die mit Unterstützung von Two Next entwickelt wurden:
Frag Tobi!
Die Web-App unterstützt beim Suchen im Internet, schlägt interessante Themen vor und ist barrierefrei.
frag-tobi.at
Elternseite
Hier finden Eltern und alle, die mit Kindern zu tun haben, Österreichs erste Online-Beratung. Die Beratung erfolgt individuell über die Kanäle Video, Audio und Live-Textchat.
elternseite.at
Coach yourself – A mental health tracking tool
ist noch in Entwicklung.