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Auch Szczepan Twardoch erzählt vom Krieg

Obdachlos in Europa

In Roman „Demut“ erzählt Szczepan Twardoch eindrücklich von einem Mann, der ins Räderwerk der Geschichte gerät

Der Mond scheint hell über Flandern, als der Offizier Alois Pokora einigen Männern des schlesischen Pionier-Bataillons Nr. 6 bedeutet, noch zu warten. Wenig später gibt er den Befehl zum Angriff auf die britischen Soldaten auf der gegnerischen Seite.

Ende Oktober 1918 ist der Große Krieg fast vorbei. Pokora wird schwer verwundet und erwacht 19 Tage später in einem Berliner Krankenhaus. „Sie haben das Ende der Welt verschlafen, Herr Leutnant“, sagt die Diakonissin, die sich um ihn kümmert. Der deutsche Kaiser, auf den Pokora seinen Eid geschworen hat, ist in die Niederlande geflohen. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann hat die Republik ausgerufen. Kurz danach betrat der Kommunist Karl Liebknecht den Balkon des Berliner Schlosses und proklamierte ebenfalls eine Republik, allerdings eine sozialistische.

Wir befinden uns in einer Zwischenzeit, die für einen weiteren rauschha en Roman von Szczepan Twardoch, einem der bekanntesten Schri steller Polens, wie geschaffen ist. Eine alte Ordnung bricht zusammen, niemand weiß, was kommen wird. Ideologen jeglicher Ausrichtung sind auf Menschenfang.

Schon in seinem Roman „Morphin“ (Rowohlt, 2014), der Twardoch zum Durchbruch verholfen hat, stolpert der Protagonist unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 durch ein Gebiet, das nach mehreren Teilungen und Tilgungen von der Landkarte einer unbekannten Zukun gegenübersteht.

Auf Polnisch trägt das neue Buch den Titel „Pokora“, den Nachnamen des Ich-Erzählers, der auf Deutsch eben „Demut“ bedeutet. Das Kriegsende, die Versuche, eine Revolution in Deutschland nach russischem Vorbild durchzuführen und die ersten Anzeichen von sexueller Befreiung schaffen einen Rahmen, um die eigentliche Geschichte zu erzählen, die von unau örlicher Gewalt

Der Konflikt, der Schlesien nach dem Ersten Weltkrieg zerreißt, spiegelt sich in der Sprache wider: Spricht man nun Wasserpolnisch, Polnisch oder Deutsch?

Szczepan Twardoch: Demut. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt, 464 S., € 25,70

und ständigen Demütigungen handelt. Agnes, eine Bürgerstochter und Pokoras große Liebe, benutzt diesen nur für ihre perfiden Machtspiele und Erniedrigungen. Seine Abhängigkeit von ihr und seine Gedanken an sie tragen den Roman; der Wunsch, eines Tages für Agnes mehr als nur ein Objekt der Verachtung zu sein, treibt ihn an.

Alois Pokora kommt 1891 als Sohn eines armen Bergmanns in Schlesien, damals Teil Preußens, zur Welt. Wie schon alle seine Brüder soll auch er eines Tages im Kohlebergwerk schu en. Doch der Pfarrer bewahrt ihn davor und kommt für die Ausbildung am Gymnasium auf. Ein zweifelha es Glück. Der eigenen Familie entfremdet, wird Alois zugleich von seinen wohlhabenderen Schulkollegen verachtet und gedemütigt. Vor allem der „Rüpel“ quält Alois Tag für Tag, indem er ihn verprügelt, ihn auf alle Viere zwingt und ihm befiehlt, wie ein Hund zu bellen. „Einmal hielt es der Rüpel, wütend, dass ihm das Vergnügen am Vortag entgangen war, für angebracht, auf mich, der ich aus Lippen und Nase blutend auf dem Boden lag, zu pinkeln.“

Pokora fühlt sich nirgends zugehörig. Er hat zwar einen Ort zum Wohnen, doch „damals und bis heute bin ich obdachlos geblieben“. Diese Empfindung betrifft auch den Ort seiner Herkun , Schlesien. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs existiert Polen schon seit über 140 Jahren nicht mehr. Schlesien ist Teil Preußens. 1918 wird Polen wiedererrichtet, was zu einer Zerreißprobe des Gebietes zwischen dem neuerstandenen Staat und Deutschland führt. Dieser Konflikt betrifft ganz wesentlich auch die Sprache. Verständigt man sich nun auf Wasserpolnisch – dem schlesischen Dialekt mit alter polnischer Grammatik und vielen Germanismen –, auf Polnisch oder auf Deutsch?

Twardoch hat sich zu dieser Frage immer wieder öffentlich geäußert. Er selbst deklariert sich nicht als Pole, sondern als Schlesier. Die Handlung seines Romans, die die Jahre 1918 bis 1921 umfasst, endet also nicht zufällig mit der Volksabstimmung über jenen Landesteil, der schließlich zwischen Deutschland und Polen aufgeteilt wird.

Alois Pokora ist zu schwach, um sich festzulegen. Bei seinem Studium in Breslau wendet er sich zuerst „polnischen Agitatoren“ zu, meldet sich dann aber 1914 bei der deutschen Armee. Nach 1918 schließt er sich den Revolutionären um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an und wird gefangengenommen. Nirgends fühlt er sich tatsächlich daheim, die Frage „Wer bin ich?“ kann er nicht beantworten. Auch nicht, als er wieder nachhause zurückkehrt, aus beruflichen Gründen Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei wird und sich an einem kleinbürgerlichen Leben mit Frau und Kind versucht.

Pokora scheitert. Krieg, Gewalt und Demütigungen holen ihn immer wieder ein, machen ihn unfähig, Entscheidungen zu treffen; lassen ihn um Gnade flehen, wenn ihm der Tod droht.

Szczepan Twardoch hat mit „Demut“ einen weiteren großartigen Roman geschrieben. Die anschaulich dargelegten historischen Ereignisse dienen ihm dabei als Hintergrund. Doch noch mehr interessieren ihn die Zwischentöne in der Zwischenzeit, die nicht selten zu einem angsteinflößenden Donnergrollen anschwellen. Dabei scheut sich Twardoch nicht, überwältigende Bilder zu zeichnen; er arbeitet mit Wiederholungen, die für einen mitreißenden sprachlichen Rhythmus sorgen.

Wohin verirrt sich einer, der nirgends hingehört? Kann er aus seinem Taumel ausbrechen und wieder Tritt fassen? Der Autor gibt darauf keine Antworten. Er tut das, was er am besten kann: einem Menschen in den Wirrnissen der Geschichte ein wenn auch o entstelltes Gesicht zu geben.

STEFANIE PANZENBÖCK

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