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Wieder zu entdecken: der Australier Gerald Murnane

Die Ekstasen der Ebene

Der Australier Gerald Murnane ist als literarischer Solitär zwischen Ka a und Borges neu zu entdecken

Ein Mann sitzt in der Bibliothek eines Herrenhauses und schreibt. Die Bücher, die ihn umgeben, hat er nie gelesen. Vielleicht schlägt er sie irgendwo auf und findet einen Satz, der vorüberzieht wie die Wolken am Himmel. Oder er sucht die Buchrücken an den Wänden nach farbigen Mustern ab, die sich im Zusammenspiel ergeben.

Wenn er aufsteht, um aus einem Fenster zu schauen, blickt er auf Pappelreihen, Brunnen, Stangen und eine weite, unendliche Ebene. Die Leere, die ihn umgibt, nennt er „Alföld“, wie die Große Ungarische Tiefebene. Sein Dorf liegt dort in der Nähe von Kunmadaras im Komitat Szolnok.

Diese Namen lassen sich auf Landkarten finden. Landkarten liest der Mann lieber als Bücher, um sie nach den Ebenen und Prärien dieser Welt abzusuchen. Tatsächlich befindet sich der Schreibtisch des Autors Gerald Murnane im Südosten Australiens, im Melbourne County.

Das Grasland dort ist längst bebaut, doch seine Kindheit wurde von der Landscha geprägt, die es jetzt nur noch in seiner Erinnerung gibt. Murnane, inzwischen 81 Jahre alt, hat diesen Distrikt in seinem ganzen Leben nie verlassen. All seine Bücher sind hier angesiedelt, in den „Ebenen“, den „Grenzbezirken“ – so die Titel der seit 2017 auf Deutsch erschienenen Romane, mit denen dieser seltsame, irgendwo zwischen Borges und Ka a anzusiedelnde Solitär der australischen Literatur hierzulande endlich zu entdecken ist.

Der Suhrkamp Verlag, der sich mit den kristallklaren Übersetzungen von Rainer G. Schmidt um Murnane verdient macht, hat für diesen das Adjektiv „murnanesk“ erfunden und bezeichnet „Inland“ als dessen „murnaneskesten“ Roman. Als er 1986 „Inland“ schrieb, war Gerald Murnane 47 Jahre alt, genau wie der Schreibende in seinem Buch, der sich den ungarischen Landedelmann bloß ausgedacht hat, so wie dieser

Von Geburt an fehlt Murnane der Geruchssinn. Blumen sind für ihn nur Form und Farbe. Durch das Sinnliche hindurch ist der Autor auf der Suche nach Transzendenz

Gerald Murnane: Inland. Roman. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Bibliothek Suhrkamp, 272 S., € 22, 95

wiederum sich eine Lektorin als Adressatin seiner Aufzeichnungen herbeifantasiert, die im Städtchen Ideal im US-Bundesstaat South Dakota auf sein Geschriebenes wartet. Diese ideale Leserin sitzt dort im „Institute of Prairie Studies“, wo die Zeitschri „Hinterland“ ediert wird, die aber wohl deswegen nie erscheint, weil es Streit um die Besetzung der Chefredaktion gibt.

Alles, was Murnane zu Papier bringt, ist Vorstellung oder Erinnerung. Das „Inland“ bezeichnet nicht nur die Ebenen, die es ihm angetan haben, sondern mehr noch das Land im eigenen Inneren. Die Vorstellung führt hinaus in die Weite und in Welten, die der eigenen ähneln.

Murnane entwir ein Spiegelkabinett der Bilder und Landscha en, sodass man bei der Lektüre bald nicht mehr weiß, wer sich wen ausgedacht hat. Der immer wieder direkt angesprochene Leser – bzw. die Leserin in den USA – ist genauso Imagination wie das eigene Ich, das am Tisch sitzt und schreibt oder auch nur davon träumt, wie es schreibt.

Nach und nach bekommt dieses schreibende, träumende, sich erinnernde Ich aber immer deutlichere Konturen. Der Landedelmann und seine Lektorin gehen schließlich verloren, während sich die australischen Erinnerungen in den Vordergrund drängen. Es geht um erste Liebesversuche mit zwölf, zahlreiche Umzüge, Goldfische in einem Wasserglas, eine Hündin, die vom Vater mit dem Hammer erschlagen wurde, Gottesdienste, baltische Flüchtlinge im Jahr 1951 und um Wettschulden, die der Vater bei Pferderennen anhäu e – eine Leidenscha , die Murnane mit ihm teilt, so wie sich diese Erinnerungen überhaupt lesen, als wären sie autobiografische Bruchstücke einer herben, verlorenen Kindheit. Das Erwachsenwerden beginnt mit der Erkenntnis, dass nichts auf der Welt einfach das ist, als was es erscheint. Murnane schreibt sinnlich, und das bedeutet hier vor allem: visuell. Seine Prosa ist voller Farben, überall finden sich Fenster, tun sich Durchsichten auf. Das hat auch damit zu tun, dass der Autor, so wie auch sein Ich-Erzähler, über keinen Geruchssinn verfügt: Blumen sind für ihn bloß Form und Farbe. Dieses Defizit beschert ihm allerdings auch die Gewissheit, dass wir nie alle Dimensionen der Welt erfassen können. Durch das Sinnliche hindurch ist Murnane auf der Suche nach Transzendenz. Die Bibliothek inmitten der Ebene, in der sein Schreibender sitzt, ist dafür der symbolische Ort. Zentral ist deshalb ein Satz von Paul Éluard, den er in einem seiner ungelesenen Bücher findet: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier.“

Murnanes Prosa steckt voller Rätsel, Absurditäten und Leerstellen. Und vielleicht sind es gerade die Pausen, die – so wie auch in der Musik – eine besondere Bedeutung haben, weil sie es erlauben, innezuhalten und die durchgespielten Themen nachwirken zu lassen. Mit einer ebensolchen Zäsur endet „Inland“: einem Spaziergang über den Friedhof, auf dem der Blick auf die Ebenen auch in der Gegenwart noch möglich ist.

Hier will Murnane, will sein Erzähler einmal begraben sein. Die Stille, die sich nach dem Gesang der Vögel einstellt, hört er schon. Und er schließt, indem er das Ende von Emily Brontës „Sturmhöhe“ zitiert, einen Satz, der in seiner Schönheit von Murnane selbst stammen könnte: „Ich verweilte ein wenig bei ihnen unter diesem sanften Himmel, sah die Nachtfalter zwischen Heidekraut und Glockenblumen umherfliegen, lauschte, wie der Wind leicht durch das Gras strich, und wunderte mich darüber, dass jemand sich einbilden könne, es gäbe etwas in der Welt, was den letzten Schlummer der Schläfer in diesem stillen Stückchen Erde stören könnte.“

JÖRG MAGENAU

«Markus Gasser erzählt uns die bittere Wahrheit mit größtmöglicher Spannung und bösem Humor.» Julian Schütt, St. Galler Tagblatt «Ein wortgewaltiger, atemberaubender Ritt durch das puritanische Zeitalter, ein grandioser Historienfilm zwischen zwei Buchdeckeln» Susanne Rikl, gute-buecher-lesen.de

Ernst Peter Fischer erzählt so anekdotenreich wie wissenschaftlich anschaulich und versiert vom großen Jahrzehnt der Physik zwischen 1922 und 1932, seinen genialen Protagonisten und von den ungeheuren Folgen, die der damals vollzogene Wandel mit sich bringen sollte.

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