3 minute read
Brutale Welten, zärtliche Filme
Von singenden Gaunern, revolutionären Frauen und philosophierenden Streunern bei der Viennale V’20
VORSCHAU: MICHAEL OMASTA
Gleich mehrere Filme feierten vor zwei Jahren den 200. Geburtstag von Karl Marx. Nun tritt erstmals Eleanor, seine Tochter, in den Mittelpunkt. „Miss Marx“, der Eröffnungsfilm der diesjährigen Viennale, erzählt von ihrem Kampf um die Rechte der Frauen. Die Diktatur des Kapitals und die Tyrannei der Männer seien ursächlich miteinander verbunden, erkannte Eleanor, genannt „Tussy“, und machte in ihrer Kritik auch vor dem eigenen Vater nicht Halt. „Er wollte alles für mich, nur nicht meine Freiheit“, lässt Regisseurin Susanna Nicchiarelli sie einmal sagen und zeigt, dass Eleanor später in einer zusehends toxischen Beziehung verfangen war. Schön sind die kleinen Irritationen, die der Film setzt: Wenn Miss Marx sich direkt an die Kamera wendet, ein Cowboy über die Schlachthöfe von Chicago spricht oder plötzlich Punkmusik losdröhnt und Darstellerin Romola Garai selbstvergessen und wie befreit zu tanzen beginnt.
Der Kanadier John Cook, der Grieche Antonis Lepeniotis, der Iraner Mansur Madavi gehörten zu den Exoten des heimischen Films der 70er-Jahre. Ihnen und einer Handvoll weiterer „Austrian Auteurs“ ist eine Reihe des Filmarchivs Austria gewidmet. Mit dabei auch Wilhelm Pellerts „Jesus von Ottakring“. Dort, im 16. Hieb, sorgt ein gewisser Ferdinand Novacek für Unruhe. „Bei uns geht’s zu wie in Soho!“, beschwert sich ein alteingesessener Wiener. Ja, genau. Soho in Ottakring anno 1976, als alle Hinterhöfe noch so schön grau waren und Herwig Seeböck – anstelle eines Erzählers – gleich die Ballade anstimmt: „Im Lichthof, wo die Razz’n unterm Coloniakübel spül’n …“.
Dokumentarfilm des Jahres aus österreichischer Sicht ist „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel. Herzstück sind die Erzählungen des legendären Wienerlied-Sängers Kurt Girk und seines Haberers Alois Schmutzer. Beide müssen ihre Nähe zum illegalen Kartenspiel „Stoß“ in einem umstrittenen Prozess mit langen Haftstrafen büßen. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern erinnern sich die zwei Charismatiker, ein ehemaliger Kieberer sowie ein Gefängniswärter lange vergangener Zeiten. Und dann ist da auch noch der Toni Österreicher: „Den haben s’ zweimal in den Kopf gschossen − der hat die Kugel wieder ausgspuckt.“
Ein Moment der Befreiung: „Miss Marx“ (Romola Garai) schmeißt sich weg
Ein Gauner und Gentleman: Kurt Girk in „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“
gen Französin dauern zusammen keine anderthalb Stunden. In der ersten, „Isabella Morra“ (2015), widmet sie sich mit ebenso zärtlichem wie nüchternem Blick ein paar Kindern aus einer von Verkehrslärm umtosten Siedlung, ihren Spielen auf der Straße und den brutalen Sprüchen, mit denen sie einander zu übertrumpfen suchen.
Sprüche klopfen undblöde Witze erzählen, das können auch Martin und Anthony, die Protagonisten von Ludwig Wüsts „3.30 PM“, ganz gut. Der mit Bodycam und improvisierten Dialogen gedrehte Film führt vom Brachland des ehemaligen Nordwestbahnhofs in den Prater und schließlich raus aufs Land, wo dieses experimentelle Zwei-Personen-Stück ein überraschend freundliches Ende findet. Dazwischen wird Bier getrunken, über Gott und die Welt philosophiert („Oktoberfest in Wien, it’s awful!“), ein Kindheitstrauma durchforstet und ein verwilderter Garten noch dazu.
Experimentierfreudig, politisch links, aber vor allem seit jeher radikal unabhängig arbeitet der serbische Filmemacher Želimir Žilnik. Mit seinen Werken ist der 78-Jährige längst Dauergast in Wien, nun wird er in der Kunsthalle mit einer Ausstellung und bei der Viennale mit einer kleinen Personale bedacht. Auf dem Programm steht auch sein Langfilmdebüt „Frühe Werke“ („Rani radovi“), eine studentische Tragikomödie, deren verzweifelter Furor an das lateinamerikanische Revolutionskino denken lässt und die 1969 in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
Revolutionär dachte auch Helen Keller (1880−1968), die erste gehörlose und blinde Person, die ein Studium absolvierte und später zur militanten Feministin und Kämpferin für den Sozialismus wurde. Der amerikanische Dokumentarist John Gianvito zeichnet in „Her Socialist Smile“ nicht nur das bewegte Leben der berühmten Autorin und Aktivistin nach, sondern arbeitet in seinen Essayfilm auch längere Passagen ihrer Texte ein. Manche sind von gespenstischer Aktualität, etwa wenn Keller gegen „Wohltätigkeit“ argumentiert, weil sie eine Vielzahl von Sünden verdecke: „Sie verdeckt den Umstand, dass der Reichtum der Wenigen auf der Arbeit der Vielen beruht.“ Zugegeben, der Film ist mindestens so spröde wie er fesselnd ist. Es gibt kaum Bilder, kaum Tonaufnahmen von Helen Keller. Das Archiv, in dem sie lagerten, ging 2001 in Flammen auf. Es befand sich neben dem World Trade Center. F