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Gut, besser, Boston
Die Statistik gibt Boston recht: Vor der Corona-Pandemie waren die Arbeitslosenzahlen in der Stadt erfreulich niedrig, die Diversität in der Verwaltung sichtbar
Wie funktioniert eine Stadt? Diese Frage stellt sich Frederick Wiseman in seiner jüngsten Arbeit „City Hall“, die – in bewährt ausufernder Manier – hinter die Kulissen des riesigen Getriebes blickt, ohne das das tägliche Leben nicht seinen akkuraten Verlauf nähme: die Verwaltung einer großen Stadt. Die eindringlichen Porträts, in denen der US-Dokumentarist sich vornehmlich amerikanischen Institutionen widmet, wurden stets in ihrem historischen und politischen Kontext gelesen.
Die Bibliothek, die er in „Ex Libris – The New York Public Library“ (2017) abbildete, bezeichnete Wiseman als die wahrscheinlich demokratischste Institution von allen: Jeder ist willkommen, unabhängig von Hautfarbe, sozialer Schicht und Herkunft. Genau das, wofür der amtierende Präsident der USA nicht steht. Donald Trump ist gegen Migration, kürzt Mittel für Gesundheits- und Bildungsprogramme, ignoriert wissenschaftliche Evidenz. So wurde der Film nach der Wahl Trumps unvermittelt zu einem politischen Statement.
Wie funktioniert eine demokratisch regierte Stadt? Das führt zum Kern von „City Hall“, in dem Wiseman die Wiege der Freiheit, das „Athen Amerikas“, wie die Metropole in Fremdenverkehrsprospekten beworben wird, porträtiert: Boston.
Der Dokumentarfilmer, Pionier des rein beobachtenden Direct Ci-
In „City Hall“ feiert Frederick Wiseman seine Heimatstadt als positives Role-Model für Amerikas gespaltene Gesellschaft
DOKUMENTATION: MARTIN NGUYEN
nema, vor 90 Jahren selbst in dieser Stadt in Neuengland geboren und aufgewachsen, streift scheinbar unbemerkt – ohne zu kommentieren oder Interviews zu führen – durch Besprechungszimmer, nimmt an Konferenzen in Bezirksämtern und Treffen zur Stadtentwicklung teil. Er erkundet die Dienste der Kommunalregierung, die in ihrer Komplexität und Vielzahl manchmal die Bürgerinnen und Bürger sogar eher abschrecken, als dass sie sie in Anspruch nähmen. „Die Menschen verstehen nicht, was wir tun“, fasst der seit 2013 amtierende demokratische Bürgermeister Marty Walsh die Kluft zwischen Verwaltungsapparat und Bevölkerung zusammen.
Walsh tritt nicht als Hauptfigur des Films, nicht als strahlender Held auf, vielmehr ist er das wiederkehrende Symbol für die Stadtverwaltung selbst. Ganz im Gegensatz zur Trump’schen Inszenierung als besserwisserischer, allmächtiger Politiker, hat der charismatische Bürgermeister gänzlich konträre Qualitäten aufzuweisen: soziale Kompetenz und Empathie.
Aus der eigenen Biografie schöpft er Anknüpfungspunkte zu seinen „Bostonians“. Vor von inneren und äußeren Wunden gezeichneten Kriegsveteranen spricht Walsh erstaunlich freimütig von seiner früheren Alkoholsucht als Symptom einer Sprachlosigkeit. Demonstrierenden Krankenschwestern dankt FOTOS: VIENNALE