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Schöpferische Zerstörung

Christoph Schlingensief war Aktionskünstler, Film- und Theaterregisseur und gefiel sich als Publikumsschreck. Aus Anlass des zehnten Todestages zeigt die Viennale eine umfassende Retrospektive seines filmischen Schaffens

EINFÜHRUNG: RAMÓN REICHERT

Seit seiner Kindheit hat Schlingensief Filme gemacht. Seinen ersten dreht er als Achtjähriger. Selbst im Zentrum des filmischen Geschehens stehend, parodiert er einen autoritären Lehrer, der im Unterricht kläglich scheitert. Overacting pur: Schlingensief schreit, tobt, wälzt sich am Boden. In seinen ersten filmischen Versuchsanordnungen spielt er aber auch mit den Illusionswerkzeugen des Kinos und übersetzt diese in Slapstick und pathetische Selbstinszenierungen. Ein Repertoire für alle späteren Filme ist im Entstehen.

Verstand sich in erster Linie als Filmemacher: Christoph Schlingensief (1960–2010)

Die frühen Filme

Nach dem Abitur bewirbt sich Schlingensief an der Film- und Fernsehhochschule in München. Er wird zweimal abgelehnt. Später wird er sich mit seiner „Trilogie zur Filmkritik“ dafür rächen. 1982 geht er zurück nach Oberhausen und arbeitet als Aufnahmeleiter, Kameraassistent und Darsteller für den Experimentalfilmemacher Werner Nekes.

Die Zusammenarbeit mit Nekes hinterlässt Spuren, die sich in den darauffolgenden Filmen verdichten werden. In seinen frühen Filmwerken wie „Mensch Mami, wir dreh’n ’nen Film“ (1977), „Wie würden Sie entscheiden?“ (1983) und der „Trilogie zur Filmkritik“(1983/84) – „Phantasus muss anders werden“, „What Happened to Magdalena Jung“ und „Tunguska – Die Kisten sind da“ – sind dann schon die Weichen für die späteren Hauptwerke gestellt. Sein obsessiver Werkcharakter besteht aus den folgenden Ingredienzien: Auflehnung gegen das stringente Erzählkino, Befreiung vom filmischen Realismus, Film als Prozess der schöpferischen Zerstörung der alten Ordnung, Filmproduktion als Verschmelzung von Aktionismus, Gruppendynamik und Performancekunst.

Die einzelnen Filme und Termine der Monografie: Christoph Schlingensief finden Sie im Timetable ab S.16 und im Filmlexikon ab S. 24

Ramón Reichert ist Kulturwissenschaftler und Medientheoretiker und lebt in Wien

»Schlingensief führt das Kino wieder zum Theater zurück, kämpft gegen das Kino der Repräsentation und der Reproduktion und sucht an dessen Stelle das Lebensweltliche der direkten Konfrontation

Film als Transformation

In der Wendezeit 1989/90 und nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 erlangte Schlingensief mit strategisch forcierten Anti-Deutschlandbildern erstmals eine größere Bekanntheit als Regisseur. Indem er Deutschland zum Feindbild stilisierte, zog er die Aufmerksamkeit auf sich. In der von Nationalpatriotismus, Chauvinismus und neoliberaler Härte geprägten Umbruchsituation der deutschen Vereinigung entstand seine Deutschlandtrilogie „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ (1989), „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) und „Terror 2000“ (1992). In seinen Schriften nennt Schlingensief die Medien seiner aktionistischen Interventionen „Transformationskörper“.

Seine Filme wollen nicht nur die Sehgewohnheiten und Einstellungen des Publikums im Kinosaal verändern, sondern sie operieren mit einem affektiven Regime von Schockwirkungen und Irritationen. In „Phantasus muss anders werden“ schreit Schlingensief sein Manifest frontal in die Kamera: „Jetzt wird alles anders!“

Indem er seine Zuschauer direkt adressiert und körperlich attackiert, um sie aus ihrer Passivität sowohl im Kinosaal als auch im Alltagsleben zu reißen, führt er Präsenzerfahrungen des Theatralischen in die Kinokultur ein. Eine Art Rückkehr zum frühen Kino, in dem der direkte Dialog mit dem Publikum gesucht wird.

Die direkte Interaktion mit dem Publikum in der Überlagerung von Straßentheater, politischer Aktion und Film als Waffe wird in der Container-Aktion „Bitte liebt Österreich“ auf ein neues Level gehoben. Auf Einladung der Wiener Festwochen stellt Schlingensief im Frühjahr 2000 direkt neben der Wiener Staatsoper einen Container auf. Ironische Referenz: die Fernsehshow „Big Brother“. Politische Travestie: Asylwerber werden für ihre Abschiebung gecastet, auf dem Container wird das Schild „Ausländer raus“ enthüllt, blaue FPÖ-Flaggen werden gehisst. Schlingensief lässt aus dem Container Videobilder live ins Internet übertragen – das Publikum kann online über Abschiebungen abstimmen.

Eine Konstante seines filmischen Werkes ist die extradiegetische Bearbeitung des Publikums: „Schlingensief ist ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und distanziert ist, der, bewusst oder unbewusst, zur direkten Konfrontation, zum Theater und zur Performance strebt.“ (Georg Seeßlen) Schlingensief führt das Kino wieder zum Theater zurück, kämpft gegen das Kino der Repräsentation und der Reproduktion und sucht an dessen Stelle das Lebensweltliche der direkten Konfrontation. So ist es nur konsequent, dass er den Film aus dem Kino befreien und erweitern wird.

Erweitertes Kino

Christoph Schlingensief genießt nicht nur seine Rolle des Publikumsschrecks, sondern auch seine missionarische Rolle als sozialer Regisseur und verordnet allen Beteiligten eine gemeinschaftsstiftende Intensiverfahrung: „Immer wieder entrückt er sein Team für die Dauer der Dreharbeiten der Normalität. Für ‚100 Jahre Adolf Hitler‘ sperrt er sie in einen Bunker in Mülheim/Ruhr, für ‚Terror 2000‘ in eine trostlose NVA-Kaserne in Massow/Brandenburg, für ‚United Trash‘ entführt er sie bis Afrika.“ (Enno Patalas)

Der 60-minütige Streifen „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ wird in 24 Stunden gedreht und verdeutlicht, dass Schlingensief in eine tiefe Sehnsucht nach Präsenz, Authentizität − etwas, das er im industriell-technischen Kinokomplex nicht finden kann − verwickelt ist. Seine Filmarbeiten stehen dem Ansatz des in den 1960er-Jahren entwickelten Expanded Cinema nahe. Das „erweiterte Kino“ gibt sich nicht damit zufrieden, Film auf eine Leinwand zu projizieren, es arbeitet mit Multimedia-Aktionen, Performance-Elementen (Schauspiel, Tanz) und zielt darauf ab, das Publikum in die Aufführung interaktiv einzubinden.

Erweitertes Kino wird von Schlingensief bevorzugt auf der Theater- oder Opernbühne eingesetzt, etwa bei „Bambiland“, das 2003 am Burgtheater in Wien Premiere hat, oder im Rahmen der 2004 uraufgeführten „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth. Am konsequentesten setzt Schlingensief diesen Ansatz mit seiner Aktion „Area 7“ um, die 2006 am Burgtheater uraufgeführt wird. In einer begehbaren Installation, die er „Animatograph“ nennt, verteilt er Videobilder und Livekameras auf unterschiedliche Projektionsflächen und -gegenstände, wodurch Bühnenraum und Publikumsbereich ineinander übergehen können.

Schlingensief ist ein Filmregisseur im Übergang. Er hat Film und Video als Instrumente für die Dekonstruktion politischer Identität und medial gestützter Bildkulturen andauernd weiterentwickelt und für neue Anwendungskulturen adaptiert – und damit neue Räume (medien-)politischer Intervention eröffnet. F

Der neunjährige Christoph als Lehrer in seinem Frühwerk „Die Schulklasse“ von 1969, daneben: zwei Szenen aus Bettina Böhlers aktueller Doku „Schlingensief –In das Schweigen hineinschreien“

Artwork zu Schlingensiefs erstem Langfilm, „Tunguska – Die Kisten sind da“ (1983/84), der bei seiner Uraufführung gleich einmal Feuer fing

Schlingensief machte lieber Avantgarde als Subventionskino: „The African Twintowers (2005–08), „Die 120 Tage von Bottrop“ (1997, mit Kurt Kren, winkend) und „United Trash“ (1994/95)

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