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Massage in Echtzeit

Miranda Julys „Kajillionaire“ ist eine Tragikomödie mit Trickbetrügern und Modern-Dance-Choreografien (l.). Kleine Bosheiten, illegitime Berührungen: Elisabeth Moss in „Shirley“ mit Odessa Young (o.) und Michael Stuhlbarg (u.)

lebenskunst

Heim als unlebbaren Ort

sa Young als Zofe, Muse und Schülerin von Elisabeth Moss. La Moss, sie macht uns ein: Königin im Reich der Ehehöllerollen als tippende Titanin mit Giftpilz-Gusto in dieser Lustgruselkammer von einem Biopic. Das Verschwinden einer Studentin, dem Shirleys neuer Roman gelten soll, ist eine Spur unter vielen Motivparallelen von schaurigem Werk und häuslichem Leben. Geschieht hier „Haunting“, ein Spuk? Oder das Irrewerden einer Intellektuellen im patriarchalen Sozialgefüge und übervollen Interieur? Endlose Bettschwere, kleine Bosheiten, illegitime Berührungen: Wie in Jacksons „Hill House“ oder im Film „Lizzie“ stachelt eine funkelnde Frau eine fragile an. Shirley selbst hat ihr lebensdienliches Arrangement: Ihr Narziss-Gemahl ermöglicht ihr das Saufen und Schreiben. Die junge Frau ist irgendwann Mutter, aber nie wieder „wifey“. F

„Kajillionaire“

Urania: Mo, 26.10., 21.15 + So, 1.11., 16 Uhr Stadtkino im Künstlerhaus: Mi, 28.10., 13 Uhr Filmcasino: Do, 29.10., 18 Uhr Gartenbau: Sa, 31.10., 23 Uhr (OmU)

„Shirley“

Urania: Fr, 23.10., 11 Uhr Stadtkino im Künstlerhaus: Di, 27.10., 15 Uhr Gartenbau: Do, 29.10., 23.15 Uhr Votiv: Fr, 30.10., 20.30 Uhr (OF)

Massage in Echtzeit

Tsai Ming-liang setzt mit „Rizi“ seine Erkundung der Langsamkeit fort

EINFÜHLUNG: GERHARD MIDDING

Es ist eine kuriose Prozedur, der sich Kang hier unterzieht. Merkwürdige Objekte sind auf seinen Rücken drapiert, kleine Holzstückchen liegen neben Metallscheiben, über denen Kugeln glühen oder wieder entzündet werden müssen. Diese Behandlung mag Heilung versprechen, erfordert aber komplizierte Brandschutzmaßnahmen. Es dauert eine Weile, bis wir entdecken, dass es sich bei ihr um eine besonders brenzlige Spielart der Akupunktur handelt.

Orthopädische Unbill ist uns bereits aus Tsai Ming-liangs früheren Filmen vertraut, die den Betroffenen eher Kontorsionen als Bewegungen gestatteten. Sein Stammschauspieler Lee Kang-Sheng, der früher die Jüngeren verkörperte, übernimmt in „Rizi“ (internationaler Titel: „Days“) nun den Part des Älteren, Gebrechlichen. Zuweilen erleben wir ihn nur als ruhende Figur, die atmet und schaut. Der zweite Protagonist Non (Among Houngheuangsy) ist etwas aktiver. Nicht, dass ihm Aufsehenerregendes widerfahren würde. Sein Dasein erfüllt sich in alltäglichen Verrichtungen, vornehmlich der Zubereitung von Mahlzeiten und deren Verspeisen. Auch er muss manchmal ruhen. Die Kamera bewegt sich zum ersten Mal nach einer Stunde; eher aus Notwendigkeit, denn einer tröstlichen kinetischen Energie folgend.

Tsai hat seit jeher Geduld mit seinem Publikum. Ungern weiht der Taiwanese es zu früh ein in das, was gerade passiert. Liegt in diesem Zögern heute noch eine Provokation?

Als sein Hauptwerk „Der Fluss“ 1997 im Wettbewerb der Berlinale lief, waren es nicht nur das Tabuthema Inzest, den Vater und Sohn am Ende vollziehen, sowie die Atmosphäre uneingeschränkter Hoff nungslosigkeit, die das Publikum verstörten. Das Unbehagen verdankte sich wesentlich auch dem quälend getragenen Rhythmus, der seinerzeit herkömmlicher Sehgewohnheiten spottete. Letztere haben sich seither geändert, und Ersterer gehört mittlerweile zur Grundausstattung, zum Alltagsgeschäft des Slow Cinema. Heute darf ein Film wie „Rizi“ also, ohne den Umweg der öffentlichen Empörung (allerdings einhergehend mit einem gewissen Überdruss), grundlegende Fragen über das Kino aufwerfen: jene nach Erwartung und Zumutung, nach Aufmerksamkeit und Geduld, nach Legitimität oder Lässlichkeit erzählerischer Abkürzungen.

Inzwischen herrscht noch größere Ereignislosigkeit bei Tsai. Er hat den Zeitfluss noch mehr verdickt. Aber beides wirkt nicht mehr so entmutigend wie früher. Gewiss, noch immer lasten Einsamkeit und eine existenzielle Traurigkeit auf seinem filmischen Kosmos. Aber die sanitären Katastrophen, die einst zwischen Jacques Tati und Apokalypse schillerten, scheinen behoben. Und diesmal findet eine erotische Begegnung statt, die geglückt, ja ekstatisch ist, und einen hübschen melodischen Nachklang hat. Die Spieluhr, aus der Chaplins „Smile“ erklingt, könnte sich zu einem der unvergesslichen Requisiten im Kosmos des Regisseurs mausern.

Wäre „Rizi“ ein Kurzfilm von zwölf Minuten, würde er uns aufgrund seines Mangels an äußerer Handlung langweilen. Mit einer Laufzeit von über zwei Stunden jedoch lässt er Reaktionen zu, die weniger prosaisch sind: Nun wird die Form zu seiner zentralen Mitteilung. Das Verstreichen der filmischen Zeit soll erlebt werden; auch als Lebenszeit aller Beteiligten. Der Wechsel zwischen den Sphären der zwei Protagonisten ist ein wichtiges strukturierendes Element. Darin liegt sogar eine Zielstrebigkeit: Sie werden sich berühren. Die langen Einstellungen lösen einander ab, ohne dass das Vorangegangene verdrängt oder ausgelöscht würde. Die Tableaus wollen gemustert werden, manchmal auch enträtselt oder einfach nur bestaunt.

Das Herzstück von „Rizi“ ist eine Massage, die der Regisseur in Echtzeit filmt. Den Gesten bleibt Zeit, sich als heilend oder stimulierend zu entpuppen. Wann hört die Massage auf, Therapie zu sein, wann fängt sie an, ihren erotischen Zweck zu erfüllen? Eigentlich stand dieser von Anfang an fest, aber ihre Doppeldeutigkeit verliert die Sequenz nicht einmal am Schluss. So ist es den ganzen Film über: Die Dinge verwandeln sich vor unseren Augen in das, was sie sind. F

Gerhard Midding ist Filmkritiker und Übersetzer, schreibt u.a. für Berliner Zeitung, epd-Film und Falter

Urania: Sa, 24.10., 11 Uhr Stadtkino im Künstlerhaus: Di, 27.10., 17.45 Uhr Gartenbau: So, 25.10., 20.30 + Do, 29.10., 14.30 Uhr Blickle Kino: So, 1.11, 20 Uhr (kein Dialog)

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