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Der Kooperationsaspekt ist ganz entscheidend» Gespräch mit Olga Meier-Popa, Marianne Stöckli und Jan Weisser von Marc Fischer

«Der Kooperationsaspekt ist ganz entscheidend»

Das Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der Pädagogischen Hochschule FHNW (ISP) feiert dieses Jahr seinen 50. Geburtstag. Ein Gespräch mit Expert*innen zum Jubiläum.

Von Marc Fischer (Text) und Christian Irgl (Fotos)

Das ISP ist das Kompetenzzentrum der PH FHNW im Bereich inklusiver Bildung und individueller Förderung und deckt die Fachgebiete Schulische Heilpädagogik, Heilpädagogische Früherziehung und Logopädie ab. In den 50 Jahren des Bestehens haben sich die Anforderungen an die Fachpersonen im Bereich der Speziellen Pädagogik verändert. Grund genug, mit Expert*innen mit unterschiedlichem Background über diese Entwicklungen zu sprechen. Olga Meier-Popa, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik und Praxisbeirätin der PH FHNW, Marianne Stöckli, Leiterin der Abteilung Sonderpädagogik im Amt für Volksschulen des Kantons Basel-Landschaft und Jan Weisser, Leiter des ISP, diskutieren über Integration und Inklusion, über Geduld und Ressourcen und über Vielfalt und Offenheit.

Das Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der Pädagogischen Hochschule FHNW wurde 1971 gegründet und wird dieses Jahr 50 Jahre alt. Solche Jubiläen sind immer auch ein Anlass, um zurückzuschauen. Welche Entwicklungen fanden im Bereich Sonderpädagogik in den letzten 50 Jahren statt?

Jan Weisser: Als ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet habe, habe ich mir zunächst die gesellschaftlichen Entwicklungen in diesen 50 Jahren angeschaut. Das ISP ist gleich alt beziehungsweise jung wie das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Das Schulkonkordat der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) war 1971 noch nicht einmal ein Jahr alt. Der Sozialstaat mit dem Bundesamt für Sozialversicherung und der IV-Gesetzgebung war erst im Primarschulalter. Die Schweiz hatte damals noch 6 Millionen Einwohner und ein Autobahnnetz von gerade mal rund 400 Kilometern. Heute sind es über 1500 Kilometer. Das alles zeigt, wie sich die Gesellschaft in den letzten 50 Jahren entwickelt hat.

Das ISP ist ein Akteur, bei dem man Entwicklungen im sonderpädagogischen Bereich aufzeigen kann. Die Vorläufer waren pädagogisch-psychologische Fachkurse, die 1966 eingerichtet wurden. 1971 wurde dann das ISP als an die Universität Basel angegliedertes Institut gegründet. Es sollte einen interfakultären und interdisziplinären Geist haben und erhielt den Auftrag, Ausbildungen für Fachpersonen aus dem weiteren Schulfeld anzubieten. Dabei waren Praktika von Anfang an enorm wichtig. Schon damals war das ISP zwischen den beiden Basel interkantonal organisiert.

Die Anfänge der Heilpädagogik, wie sie damals hiess, gehen noch weiter zurück. Wie das Wort schon sagt, lag der Fokus damals auf dem medizinischen Aspekt. Ist es eine Hauptentwicklung, dass man sich von diesem rein medizinischen Ansatz wegentwickelte?

Jan Weisser, Leiter des Instituts Spezielle Pädagogik und Psychologie der PH FHNW: «Heute gibt es zwar immer noch ein Exklusionsrisiko bei separativen Massnahmen, doch die Gefahren allfälliger Diskriminierung werden breit diskutiert.»

Marianne Stöckli: Die meisten schulischen Einrichtungen für behinderte Kinder waren früher kirchlich-diakonische, beziehungsweise karitative Einrichtungen und ihre Praxis war daher stark religiös geprägt. Erst ab 1959 wurde über die Invalidenversicherung strukturiert ein Sonderschulanspruch definiert.

Olga Meier: Damals stand die Fürsorge im Zentrum. Das Motto war: «Wir machen etwas für diese Menschen. Wir bauen für sie spezielle Institutionen, isolieren sie dort und kümmern uns um sie.» Aber die Bildungsfähigkeit von Menschen mit einer Behinderung wurde sehr lange infrage gestellt. Es war ein grosser Schritt als man anerkannte, dass jeder Mensch bildungsfähig und entwicklungsfähig ist. In den 1960er-Jahren kam das Normalisierungsprinzip auf. Es wurde viel diskutiert, aber bis zur Umsetzung hat es gedauert. Es stellte sich auch die Frage, was passiert mit den Menschen mit einer Behinderung, wenn wir nicht mehr separieren wollen.

Sie sprechen damit einen wichtigen Punkt an: Von Isolation und Separation kam man mehr und mehr zu Integration und Inklusion. Lassen Sie uns zuerst kurz die beiden Begriffe klären.

Olga Meier: Wie viel Zeit haben wir? (alle lachen)

Marianne Stöckli: Zur Anwendung und Umsetzung von Massnahmen muss ich mich auf das Bildungsgesetz und das Sonderpädagogikkonkordat beziehen. Dort lautet der Begriff «Integration». Ich verstehe das aber nicht als Gegensatz zur Inklusion. Die Inklusion ist für mich wie eine weitergehende Vision: Wie setzen wir integrative Schulungsformen um und wie kommen wir zu einer Inklusion im gesamtgesellschaftlichen Kontext?

Jan Weisser: Die Differenz zwischen Integration und Inklusion ist eher eine historische. Der Integrationsdiskurs kam in der Schweiz in den 1980er-/1990er-Jahren auf und war stets fortschrittlich besetzt – er wurde auch im Umfeld der Frauen-, der Jugend- und der Ökologiebewegung genutzt. Er war ein Zeichen für Aufbruch und Veränderungswillen. Mit dem Jahrtausendwechsel wurde der Begriff weiter gefasst und mit grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen untermauert. So wurde der Diskurs vermehrt zum Inklusionsdiskurs.

Olga Meier: Ich würde eine Parallele ziehen zwischen dem Verhältnis Integration-Inklusion und der Sichtweise auf Behinderung. Bei der Integration lag der Fokus auf dem einzelnen Menschen und der Frage, wie er integriert werden kann. Bei Inklusion wird auf das Verhältnis zwischen einem Menschen und seiner Umwelt fokussiert. Wenn wir schauen, dass in jedem Lebensbereich die Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass Teilhabe und Integration möglich sind, dann ist das für mich Inklusion.

Marianne Stöckli: Um diese Präzisierung bin ich sehr froh. Tatsächlich stossen wir mit den Bemühungen immer wieder an Grenzen, wenn es über das schulische Umfeld hinaus geht. Auch beim barrierefreien Lernen, das Teil eines inklusiven Systems wäre, sind wir noch nicht soweit. Es müsste selbstverständlich sein, dass sich Menschen mit einer Behinderung überall in unserer Gesellschaft gleichberechtigt einbringen und partizipieren können.

Im Schulfeld ist diese Entwicklung also deutlich weiter fortgeschritten. Wie kam sie zustande?

Jan Weisser: Aus meiner Sicht geht der erste Entwicklungsschub in der jüngeren Geschichte auf die

Marianne Stöckli, Leiterin der Abteilung Sonderpädagogik im Amt für Volksschulen des Kantons Basel-Landschaft: «Integration funktioniert, wenn die Ressourcen ausreichend sind und die adäquate Unterstützung erfolgen kann.»

Sozialversicherung zurück. Dieser hat die Schweiz bis in die 1990er-Jahre geprägt. Der zweite Entwicklungsschub wurde anfangs der 2000er-Jahre durch das Behindertengleichstellungsgesetz und die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen ausgelöst, indem man die Sonderschulung in die kantonale Bildungshoheit gegeben hat.

Marianne Stöckli: Das Loslösen vom Bund hat unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten zugelassen. Eine Integrationssituation im Wallis oder Tessin ist anders als in Luzern oder in Basel-Landschaft. Im Bildungsauftrag der Kantone und der Gemeinden haben sich unterschiedliche Integrationsformen entwickelt. Im Kanton Basel-Landschaft sind die strukturellen Unterschiede zwischen dem Oberbaselbiet und der stadtnahen Region gross. Da dürfen, sollen und müssen sich unterschiedliche Schulungsformen etablieren.

Jan Weisser: Zum Start des neuen Jahrtausends gab es generell eine grosse Veränderungsbereitschaft im Bereich Bildung und Integration, etwa mit dem HarmoS-Konkordat oder dem Lehrplan 21, zu dem es einen Zusatzteil zur Sonderpädagogik gibt. Man sieht, dass viele Impulse gekommen sind. Doch man ist immer noch daran, herauszufinden, wie man diese am besten umsetzen kann. Seit einigen Jahren hat sich das politische Klima eher wieder abgekühlt. Mit den Herausforderungen der Umsetzung wuchs auch der Widerstand.

Was braucht es denn, dass eine integrative Schule oder eine integrative Klasse funktioniert?

Olga Meier: Die Frage ist: Was braucht das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne besonderem Bildungsbedarf? Es braucht viele Faktoren: gut ausgebildete Lehrer*innen und Fachpersonen der Sonderpädagogik. Es braucht eine gute Absprache und Kooperation, eine gute Planung und differenzierenden Unterricht. Geduld ist ebenfalls nötig und der Wille, Entwicklungen immer wieder zu überprüfen. Auch die Einstellung aller Personen, die mit der Klasse arbeiten, ist wichtig. Es braucht überdies Unterstützung der Schulleitung und den gemeinsamen Willen von Klasse, Schule und Gemeinde. Die Familien und das soziale Umfeld sind

Olga Meier-Popa, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik und Praxisbeirätin der PH FHNW: «Es war ein grosser Schritt als man anerkannte, dass jeder Mensch bildungsfähig und entwicklungsfähig ist.»

ebenfalls wichtige Akteure und müssen unbedingt miteinbezogen werden.

Marianne Stöckli: Ich kann all das unterstützen. Es braucht vor allem genügend Zeit, die Motivation der Lehrpersonen und das Engagement der Schulleitungen für die Weiterentwicklung. Im Kanton Basel-Landschaft hat sich die integrative Schulung zuerst im Kindergarten und dann auf der Primarschule durchgesetzt. Jetzt ist die Integration auch auf der Sekundarstufe I gut etabliert. Es braucht Zeit, damit sich das integrative System entwickeln und tragfähig werden kann und es braucht gute Erfahrungen, auf die aufgebaut werden kann.

Gibt es Studien, die zeigen, dass die integrative Schulung nicht nur den Kindern mit Behinderungen Vorteile bringt, sondern auch allen andern?

Jan Weisser: Ja, die Studien sind eindeutig. Es gibt für alle Schüler*innen einen Lern- und Kompetenzzuwachs. Ein schwieriger Punkt ist das Sich-Willkommen-Fühlen in der Schule. Das schulische Wohlbefinden und die soziale Integration werden durch eine grosse Heterogenität der Schüler*innen zu einem wichtigen Handlungsfeld. Das bedeutet, dass man auf das Wohlbefinden aller Kinder einer Schule gut Acht geben muss – damit sie sich so gut fühlen, dass sie überhaupt lernen mögen.

Marianne Stöckli: Dafür braucht es Ressourcen. Integration funktioniert, wenn die Ressourcen ausreichend sind und die adäquate Unterstützung erfolgen kann. Das Integrationsmodell im Kanton Basel-Landschaft sieht etwa vor, dass Kinder mit einer Behinderung nach Möglichkeit gruppenweise integriert werden. So können sie als Gruppe im Klassenverband auftreten. In Integrationsklassen arbeiten zusätzlich zur Regellehrperson ein*e Heilpädagog*in (100%) und eine Assistenz (100%).

Jan Weisser: Ich würde hier gerne noch anknüpfen: Ressourcen und die Frage nach dem Wohlbefinden haben einen Zusammenhang. Wenn der Stresspegel bei Lehrpersonen steigt, dann leiden auch die Fragen nach dem Miteinander und der Schulkultur.

Marianne Stöckli: Die Lehr- und Fachpersonen in Integrationsklassen arbeiten trans- und interdisziplinär

und unterstützten die ganze Klasse. Davon profitieren auch Kinder ohne Behinderung.

Arbeitet man überall in der Schweiz nach den gleichen Ansätzen? Und wie sieht es im Bildungsraum Nordwestschweiz aus?

Olga Meier: Schweizweit gibt es verschiedene Modelle. In der Romandie wird beispielsweise oft mit multidisziplinären Teams gearbeitet, die von Schule zu Schule gehen. Auch hier geht es um die Bündelung von Ressourcen.

Jan Weisser: Im Bildungsbericht Nordwestschweiz, der auf der Website des Bildungsraums Nordwestschweiz zum Download bereit steht, zeigt das Kapitel Sonderpädagogik sehr schön, dass es ganz verschiedene Modelle, ganz verschiedene Begriffe und ganz verschiedene Umsetzungen gibt. Die Grundlinien sind aber natürlich gleich.

Olga Meier: Da in den verschiedenen Kantonen unterschiedliche Begriffe verwendet werden, ist es schwierig eine vergleichende Datenerhebung zu machen. Im Sonderpädagogikkonkordat ist etwa der Begriff «verstärkte sonderpädagogische Massnahme» genannt. Was das genau bedeutet ist aber nur allgemein definiert und jeder Kanton interpretiert dies etwas anders. Zudem sind auch nicht alle Kantone dem Konkordat beigetreten, sondern sind das Problem auf Gesetzesebene angegangen.

Marianne Stöckli: «Kleinklasse» ist beispielsweise ein unterschiedlich verwendeter Begriff. Im Baselbiet gehört sie als Spezielle Förderung zur Regelschule und ist nicht eine verstärkte Massnahme. Sie ist tatsächlich einfach eine kleinere Klasse, die Schüler*innen ein sehr individuelles Lernmilieu bietet. Eine Kleinklasse kann auch eine Lerninsel für Schüler*innen mit einem punktuellen Förderbedarf sein, die temporär dorthin wechseln und dann wieder in ihre Regelklasse zurückkehren.

Jan Weisser: Wichtig ist, den Unterschied zu früher herauszuheben. Damals wurden Kleinklassen bewusst unterhalb der Volksschule eingerichtet und damit die Chancen der betroffenen Jugendlichen weitgehend minimiert. Heute gibt es zwar immer noch ein Exklusionsrisiko bei separativen Massnahmen, doch die Gefahren allfälliger Diskriminierung werden breit diskutiert. Solche Massnahmen müssen sich am Ziel messen lassen, dass alle Schüler*innen eine echte Chance bekommen.

Marianne Stöckli: Der Grundsatz «einmal Kleinklasse, immer Kleinklasse» ist tatsächlich aufgehoben. Kleinklassen stützen den Förderbedarf der Schüler*innen, des Schülers. Dieser ist nicht unbedingt ein Schuljahr lang derselbe. Wichtig ist dabei auch, wie der Förderbedarf erhoben wird und welche Instrumente angewendet werden. Entsprechend dem Sonderpädagogikkonkordat wird für die Bedarfsabklärung der Sonderschulung, also für die verstärkten Massnahmen, das standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) durch die abklärenden Fachstellen angewendet. Der Bedarf in der speziellen Förderung wird mittels schulnaher Diagnostik durch die Schulische Heilpädagogik erhoben. Gerne gebe ich diesbezüglich eine positive Rückmeldung an die Ausbildungsinstitutionen: Die Schulischen Heilpädagog*innen verfügen über gute fachliche Kompetenz, die schulnahe Diagnostik anzuwenden.

Sie haben bereits angesprochen, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Fachpersonen – Schulischen Heilpädagog*innen, Logopäd*innen, Regellehrpersonen – ist. Was bedeutet das für die Ausbildung dieser Fachleute?

Jan Weisser: Der Kooperationsaspekt ist ganz entscheidend. Er geht auch über die Schule hinaus. Personen, die im Bereich Sonderpädagogik und Logopädie unterwegs sind, sind, mit Ausnahme der Schulischen Heilpädagog*innen, nie ausschliesslich im Schulalter unterwegs. Früherziehung beginnt bei Säuglingen und geht im Vorschulalter weiter. Logopäd*innen arbeiten oft mit älteren Menschen oder Erwachsenen mit sprachlichen Beeinträchtigungen.

Wir haben an der PH FHNW das Glück, dass nicht nur Lehrpersonen ausgebildet werden, sondern auch heilpädagogische Früherzieher*innen, Schulische Heilpädagog*innen und Logopäd*innen. Wir sind als Institut gleichzeitig auch in der Lehrpersonenbildung tätig und schauen dort, dass wir angehenden Lehrpersonen, die Wichtigkeit von Kooperation für eine gute Schule vermitteln – nicht zuletzt dadurch, dass wir die Kooperation vorleben. Das Ziel ist die gemeinsame Verantwortung für das Wohlergehen des Kindes. Kurz: Zusammenarbeit ist ein Schlüsselmoment – und sie wird auch das Tagungsthema unserer Jubiläumstagung im November (vgl. Box Seite 13).

Olga Meier: Hinzu kommt auch der berufspraktische Teil der Ausbildung, der sehr wichtig ist. Die Praxis in Schulen zeigt den Studierenden, wie die Situation vor Ort aussieht. Wichtig sind auch die sonderpädagogischen Aspekte in der Ausbildung der Regellehrpersonen. Hierzu gibt es Empfehlungen von Swissuniversities an die Ausbildungsinstitutionen von Lehrpersonen, etwa dass bereits in der Ausbildung angehende Regellehrpersonen und Sonderpädagog*innen gemeinsame praktische Erfahrungen machen.

Marianne Stöckli: Auch aus meiner Sicht ist das inter- und transdisziplinäre Arbeiten für das prakti-

sche Feld zentral. Im Kanton Basel-Landschaft ist die Sozialpädagogik als ergänzende Disziplin dazu gekommen. Schüler*innen können sich zunehmend weniger strukturieren und organisieren oder haben Probleme auf dem Schulweg und in der Pause. Das sind nicht primär Handlungsfelder für die Schulische Heilpädagogik. Die Unterstützung durch die Sozialpädagogik im Schulfeld dürfte zunehmen.

Jan Weisser: Es gibt den Berufsweg von der Sozialpädagogik in die Schulische Heilpädagogik. Diese Passerelle existiert und es gibt einige Studierende, die diesen Weg wählen. Das sind sicherlich enorm spannende Personen fürs Schulfeld.

Marianne Stöckli: Was ich in puncto Ausbildung anmerken möchte: Wir erhalten für die integrative Schulpraxis heute viel mehr Fachleute – gerade auch im Bereich der Logopädie – die nicht mehr nur ausschliesslich mit Einzelunterricht oder mit Einzeltherapien arbeiten, sondern die Kinder auch in Gruppen oder in Klassen unterstützen und die mit Präventions- und Screeninggefässen arbeiten. Das Berufsverständnis in der Sonderpädagogik hat sich positiv verändert, hin zu einem integrativen und interdisziplinären Verständnis mit einem hohen Anspruch auf professionelle Fachlichkeit.

Oft ist nur die Rede von den Kindern mit Behinderungen. Doch immer mehr spielen auch Migration, Sprachprobleme und Verhaltensauffälligkeiten eine Rolle. Inwiefern beeinflussen diese Aspekte das Feld der Sonderpädagogik?

Jan Weisser: Heute stehen weniger die einzelnen Labels im Fokus, sondern die Frage, was ein Kind kann, wenn es in die Schule kommt und was es gemäss Lehrplan in der Schule lernen sollte. Entlang dieser Lern- und Förderthemen wird geschaut, was es in einer Klasse an Unterstützung etwa im Bereich des sprachlichen Ausdrucks, der Bewegung oder des sozialen Lernens braucht.

Marianne Stöckli: Rund 40 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund. In gewissen Gemeinden sind es noch deutlich mehr. Die bestehenden Gefässe wie «Deutsch als Zweitsprache» funktionieren. Es ist aber eine grosse Herausforderung für die Schulen. Zunehmend sind sie auch mit disziplinarisch auffälligen Schüler*innen oder Schulverweigerer*innen gefordert. Das verlangt neue Interventions- und Handlungsmöglichkeiten.

Olga Meier: Klar ist: Wenn wir an Inklusion denken, denken wir nicht nur an Kinder mit erhöhtem Förderbedarf oder Behinderungen. Wir denken an alle Formen von Diversity und Vielfalt. Wir müssen auf diese Vielfalt vorbereitet sein und die Kinder und Jugendlichen ihr Potenzial entfalten lassen. Und wir sollten auf die Vielfalt mit Flexibilität reagieren können. Damit meine ich sowohl Flexibilität in den Beratungssituationen aber auch Flexibilität in puncto Ressourcen.

Jan Weisser: Dazu braucht es die Bereitschaft zu Offenheit. Wenn etwa die Schulische Heilpädagogik einem engen Selbstverständnis folgen würde, dürfte sie möglicherweise in der Schule Schiffbruch erleiden. Je nachdem, wie es an einer Schule aussieht, braucht es andere Inputs. Aufgrund ihrer Ausbildung haben die Fachpersonen jedoch gelernt, Lösungen zu entwickeln und mit ihrem Wissen und Können die Praxis vor Ort innovativ zu unterstützen.

50 JAHRE ISP – JUBILÄUMSTAGUNG IM NOVEMBER «Auf dem Weg zu Learning Communities in Frühförderung, Logopädie und Schule»: So lautet der Titel der Tagung, die anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Instituts Spezielle Pädagogik und Psychologie der PH FHNW im kommenden November stattfinden wird. Die Tagung stellt Lerngemeinschaften unter zwei Perspektiven in den Mittelpunkt: Erstens braucht es für das inklusive und das heisst gleichberechtigte und gemeinsame Lernen ausnahmslos aller Kinder und Personen Strukturen und Konzepte. Zweitens arbeiten Teams interprofessionell in den pädagogischen und therapeutischen Institutionen zur Realisierung inklusiver und partizipativer Ziele. Die Tagung gibt Denkanstösse und Forschungseinblicke, vermittelt Handwerkszeug für die professionell Tätigen und schafft die Gelegenheit, sich mit der je eigenen Rolle im beruflichen Alltag auseinanderzusetzen. Zur Zielgruppe gehören denn auch Logopäd*innen, Heilpädagogische Früherzieher*innen, Schulische Heilpädagog*innen, Lehrpersonen und weitere Interessierte. Die Jubiläumstagung wird am Samstag, 13. November 2021, stattfinden. Als Durchführungsort ist der FHNW-Campus Muttenz vorgesehen. Die Anmeldefrist startet Anfang Mai. Das Programm sowie Hinweise zu einer pandemiebedingt alternativen Durchführung finden sich auf der Tagungs-Website.

www.fhnw.ch/ph/50-jahre-isp

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