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Behinderung und Migration in der Sonderpädagogik – einige Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis von Diana Sahrai

Behinderung und Migration in der Sonderpädagogik – einige Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis

Von Diana Sahrai

Das Thema Migration kommt in der Sonderpädagogik in unterschiedlichen Kontexten vor. So ist Mehrsprachigkeit ein wichtiger Arbeitsbereich in der Logopädie und die Kleinklassen für Fremdsprachige fallen in vielen Kantonen in den Verantwortungsbereich der Schulischen Heilpädagogik. Zudem zeigen Studien immer wieder, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund signifikant häufiger die Diagnose «Sonderpädagogischer Förderbedarf» erhalten (etwa in den Bereichen Lernen oder Verhalten). In den letzten Jahren ist zudem in Folge der neuen Fluchtbewegungen der Zusammenhang von Flucht und Trauma stark in den Vordergrund gerückt. Ein weiterer etwas anders gelagerter Kontext ist die besondere Situation von Schüler*innen mit einer Behinderung, die ebenfalls einen Migrationshintergrund haben, also die Frage der Intersektionalität dieser beiden Dimensionen. Während in den ersten genannten Kontexten Migration selbst als Teil der Sonderpädagogik verstanden wird oder die Kategorien vermengt sind, bildet sie im letztgenannten Kontext also eine zusätzliche Kategorie, die zu Behinderung dazu kommt.

«Intuitiv ist es relativ naheliegend, dass Mehrsprachigkeit keine Störung darstellt und kulturelle Differenz keine Behinderung ist.»

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in der Praxis also häufig eine selbstverständliche Zielgruppe der Sonderpädagogik. Häufig wird betont, dass die Sonderpädagogik über die geeigneten Kompetenzen und Unterstützungsmöglichkeiten verfügt, die auch für Kinder mit Migrations- und/oder Fluchterfahrung von Bedeutung sind. Dabei sind aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive die beiden sozialen Gruppen kaum leicht zu definieren. Alleine die Definierung der relevanten Begriffe zur Bestimmung dieser beiden Gruppen ist keine leicht zu bewältigende Aufgabe. Was bedeutet Migration? Wer wird genau zu den Migrant*innen in einem Land gezählt? Und wer zu den Ausländer*innen? Wer zu den Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationserfahrung? Und wer nicht? Wer gilt als «behindert» oder als «Mensch mit einer Behinderung»? Wie wird besonderer Bildungsbedarf definiert und gemessen? Wer kriegt verstärkte Massnahmen? Und warum?

Diese Fragen mögen banal klingeln, ihnen liegen aber jeweils komplexe theoretische Konzepte und Konstruktionen zu Grunde. Die jeweilige Bestimmung ist aber zentral für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Migration und Sonderpädagogik. So ist hier wichtig zu erwähnen, dass es sich bei allen genannten Gruppen um sozial konstruierte Gruppen handelt. Die Art der sozialen Konstruiertheit ist bei einer Diagnose «Verhaltensauffälligkeit» jedoch eine andere als bei einer Sehbeeinträchtigung. Bei Menschen mit Migrationshintergrund gehen Überlegungen darüber, wer als «Andere» oder «Fremde» definiert wird, den im Alltag verwendeten Begriffen voraus, teilweise handelt es sich wie beim Begriff Migrationshintergrund um einen wissenschaftlichen Kunstbegriff.

Doch worin liegt das Problem, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund signifikant häufiger sonderpädagogische Massnahmen erhalten? Woran liegt es und warum ist es erklärungsbedürftig? Was genau macht sie zur Zielgruppe der Sonderpädagogik? Und welche professionellen Kompetenzen bringen Schulische Heilpädagog*innen mit, dass sie nicht nur den besonderen Bildungsbedürfnissen von Kindern mit einer diagnostizierten Behinderung gerecht werden sollen, sondern ebenfalls jenen mit Migrationshintergrund? Was darf aus einer normativen Perspektive überhaupt miteinander verglichen werden? Dürfen Kategorien so gleichgesetzt werden? Wann könnte ein Vergleich für welche Gruppe als diskriminierend empfunden werden? Eine Person mit Migrationshintergrund etwa kann argumentieren, dass sie lediglich aus einer anderen Kultur komme und sonst keinen besonderen Förderbedarf habe. Eine Person mit einer Beeinträchtigung dagegen könnte argumentieren, dass sie nur einen besonderen Förderbedarf habe und sonst kein*e «Fremde*r» sei. Intuitiv ist es relativ naheliegend, dass Mehrsprachigkeit keine Störung darstellt und kulturelle Differenz keine Behinderung ist.

Doch was tun? Migration als einen Teil der Sonderpädagogik zu betrachten, ist solange problematisch, solange Behinderung oder Sonderpädagogischer Förderbedarf mit Defizitdiagnosen, negativen Zuschreibungen, Ausgrenzung und Benachteiligung einher geht. Eine Vergleichbarkeit der beiden Kategorien ohne Gefahr der Diskriminierung einer Gruppe wird nur dann ermöglicht, wenn eine konsequent differenzorientierte und menschenrechtliche Perspektive, die sowohl kulturelle Differenz als auch Behinderung als Ausdruck menschlicher Vielfalt betrachtet und auf einem allgemeinen Gleichwertigkeitsprinzip beruht, zu Grunde gelegt wird. Die Perspektive, dass alle Menschen gleich geboren und gleich an Rechten auf Teilhabe und Autonomie sind und den gleichberechtigten Zugang zu allen gesellschaftlichen Gütern (z. B. Bildung, Gesundheit, Arbeit etc.) haben dürfen, ist nicht neu, hat aber in Folge der UN-Behindertenrechtskonventionen neuen Schwung erhalten. An Schulen wird eine solche Perspektive unter dem Leitbegriff der Inklusion gefasst.

Die in den letzten Jahren auch in der Öffentlichkeit aufkommenden Debatten um Identitäten und Identitätspolitik können dabei an Schulen wichtige Ankerpunkte sein, um das komplexe Verhältnis von Differenzen und Gemeinsamkeiten verschiedener sozialer Gruppen zu thematisieren.

DIANA SAHRAI ist Leiterin der Professur Soziales Lernen unter erschwerten Bedingungen am Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der PH FHNW.

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