filmdienst7/2013

Page 1

+ + g e m m a a r t e r to n + + + t h o m a s v i n t e r b e r g + + + J u l i a J Ä g e r + + + r a i n e r m at s u ta n i + +

PORTRÄT

film dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

Mads Mikkelsen DÄNEMARKS SCHAUSPIEL-STAR ist in der Weltspitze angelangt

4,50 www.filmdienst.de 66. Jahrgang 28. märz 2013

7|2013

Malen mit Licht Visionär an der Kamera: Reinhold Vorschneider tV-tIPPs

Kinderfilme zu Ostern

Alle GeGeN eiNeN

• Lynchjustiz im Film: Wie sich die Wut der Masse gegen den Einzelnen richtet • Thomas Vinterbergs „Die Jagd“ erzählt von einer modernen Hexenverfolgung

sEriE

Woran erkennt man gute Filme?

Fokus Filmmusik: Der gute Ton zum guten Film

56

Seiten Extra-Heft Alle Filme im TV vom 30. März bis 12. April


FilmDieNST 7 | 2013

Kino 10 Alle Filme im TV vom 30.3. bis 12.4. Das Extraheft

alle gegen einen Von Fritz Langs „M“ bis zu Thomas Vinterbergs „Die Jagd“: Wie das Kino die aggressive Dynamik zwischen Masse und Individuum inszeniert. Von Tim Slagman + „Die Jagd“: Ein Interview mit Regisseur Thomas Vinterberg und ein Porträt von Hauptdarsteller Mads Mikkelsen.

16

Dänemarks „Beitrag zum euroäischen Kino“: Der Schauspieler Mads Mikkelsen brilliert (nicht nur) in „Die Jagd“ S. 14

„wir brauchen unerschrockenheit und mut.“ Das Fantasy-Kino ist in Deutschland ein Stiefkind. Trotzdem hat sich ihm Regisseur Rainer Matsutani verschrieben. Im Gespräch erzählt er wieso. Von Margret Köhler Yella | Drama 11.4. zdf.kultur 8 Frauen Krimikomödie 30.3. EinsFestival Das Meer am Morgen Drama | 8.4. arte

18

auch zwerge haben klein angefangen Portugals junge Regisseure sorgen für Furore und setzen der wirtschaftlichen Krise ihre Kunst entgegen. Von Josef Nagel

21

ostern: tv-ProgrammtiPPs fÜr kinder

Wie vielsagend eine reduzierte Bildsprache sein kann, zeigt der Film „9 Leben“. Hinter der Kamera stand Reinhold Vorschneider S. 22 Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

Filmdienst 7 | 2013

S. 48

Akteure 22

erzÄhlen mit licht und raum Reinhold Vorschneider gehört zu Deutschlands besten Kameraleuten. Für seine Fähigkeit, die Visionen der Regisseure sichtbar zu machen, wurde er mit dem Marburger Kamerapreis geehrt. Eine Hommage in Bildern. + Die Kamerapreis-Laudatio von Regisseurin Angela Schanelec


Martin Scorseses katholische Wurzeln schlagen sich immer wieder in seinen Filmen nieder: Hier die Kreuzigungspose im Storyboard zu „Taxi Driver“ (s.28)

Neue Filme + alle starttermine

Film-Kunst Titel: picture alliance/empics; Fotos: Sony/Peripher/Warner/Universum/Martin Scorsese Collection, New York

28

oPferlÄmmer im kreuzfeuer Motive des christlichen und speziell katholischen Glaubens sind eine Konstante im Schaffen von Martin Scorsese. Wie er dieses Erbe seinem filmischen Kosmos einverleibt, ist provozierend und faszinierend. Von Kristina Jaspers & Nils Warneke

36 37 38 39 40 41 41 41 41 41 42 43

„Das Fenster zum Hof“: In Alfred Hitchocks Klassiker wird die Schaulust auf mehreren Ebenen zelebriert.

32

Free the Mind [28.3.] Jack and the Giants [14.3.] Mitternachtskinder [28.3.] Heute bin ich blond [28.3.] Indian Dreams [4.4.] Peak [28.3.] Die Elbe von oben [28.3.] Voll abgezockt [28.3.]

38

s. Jack and the giants [stARt 14.3.]

An Enemy to Die For [4.4.] Zimmer 205 [14.4.] Ein freudiges Ereignis [4.4.]

44 Anfang 80 [28.3.] KinOtiPP der katholischen Filmkritik

s. 45 die Jagd [28.3.] Drama von Thomas Vinterberg

31

magische momente

Oslo, 31.August [4.4.]

in den usa ist bryan singers fantasy-film „Jack and the giants“ an den kinokassen nicht gut angekommen. schade, denn er erzählt durchaus unterhaltsam ein märchen für erwachsene. auch das europäische kino liefert sehenswerte neustarts.

46 47 47 47 47

Jenseits der Mauern [28.3.] Beautiful Creatures [4.4.]

40

s. heute bin ich blond [stARt 28.3.]

36

s. oslo, 31. august [stARt 7.4.]

G.I. Joe: Die Abrechnung [28.3.] Dead Man Down [4.4.] Sadako 3D [4.4.]

den richtigen ton treffen Teil 4 der Serie „Was ist ein guter Film?“ beschreibt, wie eine gelungene Filmmusik einen Kinofilm prägt. Von Roland Mörchen

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor zu Trends im Fantasy-Kino

Fantastische Filme: Hänsel, Gretel und Cinderella kehren zurück Kritiken und Anregungen?

rubriken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau/Impressum

3 4 6 27 50 51

Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf facebook (www.facebook.com)filmdienst.

Filmdienst 7 | 2013

5


In Scorseses Filmen schlägt sich die christliche Bildsprache nieder. Hier in der „Kreuzigungspose“ aus seinem Storyboard zu „Taxi Driver“

Opferlämmer im Kreuzfeuer

Regisseur Martin Scorsese gibt mit seinen bildmächtigen Filmen Orientierung im moralischen Vakuum unserer Zeit. Seine filmische Suche nach Religion und Spiritualität ist auch in seinen gewalttägsten Werken intensiv zu spüren. Kristina Jaspers & Nils Warnecke

28

Filmdienst 7 | 2013


Religion & Film

M

In Bildern von geradezu magischer Anziehungskraft erzählt Martin Scorsese in „Kundun“ (1997) die Geschichte des tibetischen Bauernjungen, der als 14. Dalai Lama zum geistigen Oberhaupt des Buddhismus wird. Einmal fordert sein Lehrer Ling Rinpoche

Kundun auf, die vier edlen Wahrheiten des Buddha zu erläutern. Der Disput kreist um das Leiden, seine Ursachen und seine mögliche Überwindung. Kundun horcht in sich hinein und sagt dann, mit großer Gewissheit und Gelassenheit: Jeder muss lernen, dass er sein Leiden meist selbst ganz unnötigerweise hervorruft. Er muss in seinem Leben nach den Gründen hierfür suchen und darauf vertrauen, sein Leiden zu beenden und sein wahres Selbst zu erkennen. In diesem Moment erscheint Erlösung möglich. Von je her sehnen sich die Filmhelden bei Martin Scorsese nach Erlösung – doch kein Weg scheint zu ihr zu führen. Sie leiden daran, Ursache dafür sind ihre eigenen negativen Emotionen. Wer sich selbst verzeiht, der kann auch im Einklang mit allen anderen Frieden finden. Vergebung erfolgt nicht von Gott, sie kann nur aus einem selbst kommen. Genau hier aber liegt das Problem. Schon Charly, Martin Scorseses Alter Ego im Film „Hexenkessel“ (1973), der von Harvey Keitel gespielt wird, hadert mit Gott. In einem Zwiegespräch in der St. Patricks Old Cathedral in Little Italy wirft er Gott vor, die zehn Ave Maria, die ihm der Priester als Buße auftrug, seien nicht als leere Worte. Was zählt, sei das Leben, das man führt. Der Heilige Franz von Assisi ist Charlies Vorbild; nicht Worte, sondern Taten sollen ihn vor Gott auszeichnen. Doch er wird seinen moralischen Anforderungen nicht gerecht: Charly sündigt, er begehrt, ist egoistisch. Daraus entstehen die Unzufriedenheit und die Wut, die sich gegen andere richtet, etwa seinen Freund Johnny Boy, und die doch nur ihn selbst meint. Solche Wut über das eigene Ungenügen treibt viele Helden Scorseses an. Sie suchen nach den Gründen in ihrer Umwelt, die ihnen Liebe und Anerkennung verwehrt, doch letztlich sind sie selbst es, die sich nicht vergeben können. Vieles an diesen Figuren ist autobiografisch motiviert. Scorsese, römisch-katholisch in einer Familie italienischer Einwanderer aufgewachsen, wollte mit neun Jahren Priester

FilmKuNST

„Kundun“ (2005): Scorsese gelingen Bilder von magischer Anziehungskraft.

werden. Mit 14 ging er auf das Cathedral Collage, ein Priesterseminar in der Upper West Side, wurde nach einem Jahr ausgeschlossen, weil er nicht bei der Sache war – er hatte sich verliebt, das Zölibat schreckte ihn ab. Später erwog er, an der Jesuit University in Fordham zu studieren, doch seine schlechten Schulnoten hielten ihn davon ab. Existenziellen Fragen ging er fortan in seinen Filmen auf den Grund. Nach Abschluss des Filmstudiums plante er eine Trilogie, deren erster Teil

spirituelle suchen, menschliche sünden „Jerusalem, Jerusalem“ unrealisiert blieb. Darin wollte er Jugendliche zwischen „religiösem Zweifel und sexuellen Versuchungen“ zeigen und dies mit einer modernen Interpretation der Leidengeschichte Christi verschmelzen. Die Verbindung religiöser und sexueller Fantasien inszenierte er dann in den beiden folgenden Teilen: „Who’s That Knocking at My Door“ (1968) und „Hexenkessel“. Bis Scorsese dann das Leben Jesu verfilmte, vergingen noch gut 20 Jahre. Auch in „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) steht die Frage nach dem Leben als Mensch (mit Frau und Kindern) einem Gott geweihten Leben der Enthaltsamkeit und als Opferlamm gegenüber. Der gleichnamige Roman von Nikos Kazantzakis hatte Scorsese bereits in den 1970er-Jahren beschäftigt; Kazantzakis Versuch, den Menschen Jesus zu ergründen und die schwierige Ambivalenz zwischen Mensch und Gottgestalt aufzuzeigen, faszinierten

Filmdienst 7 | 2013

29


Religion & Film

Scorsese bereitet die Kreuzigungsszene in „Die letzte Versuchung Christi“ vor.

Scorsese, der sich schon in seinen frühen Filmen mit dem Konflikt zwischen religiösen Geboten und den im Gegensatz dazu stehenden menschlichen Bedürfnissen auseinander gesetzt hatte. Den ersten Film über das Leben Christi sah er mit elf: Es war der erste in CinemaScope gedrehte Monumentalfilm „Das Gewand“ (1953). Scorsese verarbeitete das Gesehene, wie er überhaupt durch Filme zu ersten kindlichen Storyboards angeregt wurde, indem er die Kreuzigung Jesu in vielen Varianten zeichnerisch festhielt. Dieses Blutopfer, das für ihn ein bis heute vorhandener, aber vom Deckmantel der Zivilisation verborgener Topos ist, inspirierte ihn später zu Gewaltorgien wie im blutigen Showdown von „Taxi Driver“ (1976). Betrachtet man das Storyboard zu dieser Szene, fällt auf, dass die Erschießung des von Harvey

Keitel dargestellten Zuhälters wie eine Kreuzigungsszene festgehalten ist. Die in wenigen Strichen skizzierte Figur trägt Jesus-ähnliche Züge. Im Moment der Erschießung reißt er die Arme auseinander und fällt in Kreuzigungsposition nach hinten durch eine Glasscheibe. Im Film selbst ist dieses Moment dann weniger deutlich ausgearbeitet. In „The Departed“ (2006) bedient sich Scorsese erneut dieser von religiöser Symbolik aufgeladenen Inszenierungsidee: Jack Nicholson wird von Matt Damon erschossen und sackt mit weit ausgebreiteten Armen in Kreuzigungsposition nach hinten, was Scorsese in einer langen „Overhead“-Einstellung zeigt. Schon in früheren Filmen steht der gekreuzigte Jesus Pate für symbolträchtige Inszenierungen: In einer langen Sex-Szene in „Who’s That Knocking at My Door“ sieht man Harvey Keitel in Kreuzigungspose mit weit ausgestreckten Armen auf dem Bett liegen; das Motiv wiederholt sich in „Hexenkessel“. Beides sind Momente extrem verdichteter Symbolik: Der von seiner fleischlichen Lust getriebene Sünder begibt sich noch im Vollzug der Sünde in die symbolische Haltung des Blutopfers. Bevor Scorsese seine Version der Kreuzigung des Heilands für „Die letzte Versuchung Christi“ in Marokko auf Film bannte, ließ er bereits in „Boxcar

Filmische spiegelungen der kreuzigung Jesu Bertha“ (1972) den Rebell Big Bill Shelley (David Carradine) in Jesus-Pose an einen Eisenbahnwaggon nageln. In „The Gangs of New York“ (2002) überstrapaziert er dieses Bild, indem er mehrfach gefolterte oder getötete Protagonisten in Kreuzigungshaltung an Gaslaternen fesseln oder auf schmiedeeiserne Zäune spießen lässt. Für die eigentliche Kreuzigungsszene in „Die letzte Versuchung Christi“ steckt er einen weiten kultur- und

kunsthistorischen Bezugsrahmen ab. Für den Kreuzweg bedient er sich als Vorlage des Bilds der Genter „Kreuztragung“ von Hieronymus Bosch. In extremer Zeitlupe steht Jesus in halbnaher Einstellung vom Kreuz gebeugt in einer Gruppe von hämisch dreinblickenden Fratzen. Die Kreuzigung stellte der auf Authentizität versessene Regisseur einer nach archäologischen Untersuchungen iNFO rekonstruierten Kreuzigung Die Ausstellung „Martin Scorsese“ im aus der Zeit vor Christi GeMuseum für Film burt nach. Deshalb sieht man und Fernsehen, BerWilliam Dafoe nackt mit lin, ist noch bis 12. angewinkelten Beinen am Mai 2013 geöffnet. Kreuz hängen; auch werden kleine Holzstücke auf die Handgelenke gelegt, bevor man die langen Nägel hindurch treibt. Die klassische frontale Ansicht des Gekreuzigten variiert Scorsese, indem er Dafoe von der Seite halbnah ins Bild setzt und die Kamera um 90° kippt. Dieser Moment der Irritation zwingt den Zuschauer, über die Referenz zu vorhergegangen BibelVerfilmungen nachzudenken, und über Scorseses Bestreben, sich in dieser Genealogie zu verorten. Am nächsten kommt man Scorsese, wenn man ihn über andere Filmemacher sprechen hört. Er offenbart in seinen Beschreibungen anderer stets auch den eigenen Blickwinkel auf die Welt und die Kunst. In einer Laudatio auf Michelangelo Antonioni beschrieb er ihn als einen „Dichter unserer sich verändernden Welt, einen Maler unseres emotionalen Labyrinths“. Antonionis Vision sei spirituell und existenziell. Dessen Film „L’avventura“ (1960) empfand er als „Reise durch eine Gefühlslandschaft, die das moralische Vakuum unserer Zeit porträtiert“. Von einem ähnlichen Selbstverständnis sind Scorseses eigene Filme getragen: Er möchte Orientierung geben im moralischen Vakuum. Die Suche nach Religion und Spiritualität ist auch in seinen gewalttätigsten Filmen intensiv zu spüren.

„Mein ganzes Leben hat sich nur um Filme und Religion gedreht. Das war‘s. Sonst nichts.“ Martin Scorsese

30

Filmdienst 7 | 2013

Fotos: Martin Scorsese Collection, New York/Deutsche Kinemathek, Berlin

FilmKuNST


OslO, 31. August [4.4.]

Kein Anfang. Nirgends

Ein erschütterndes Meisterwerk von Joachim Trier über die Vergänglichkeit der Jugend Eine gute Schreibe habe er ja, sagt der Herausgeber von „Folio“ zu Anders, nachdem der mit ein paar prägnanten Sätzen klar gemacht hat, dass er den aktuellen Magazin-Markt und die Stellung von „Folio“ bestens einzuschätzen vermag. Immer diese Essays über HBO-Serien, die sich wie Proseminar-Arbeiten im Fachbereich Medientheorie ausnehmen: „Samantha in ,Sex & The City‘, gelesen mit Schopenhauer!“ Das Bewerbungsgespräch läuft gut, wäre da nicht die Tatsache, dass Anders seit 2005 fast nichts mehr veröffentlicht hat. Anders druckst etwas herum: Was er geschrieben habe, erscheine ihm heute nicht mehr relevant. Er habe als DJ gearbeitet und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Was für Jobs? Na gut, er sei drogenabhängig gewesen. Drogen aller Art, auch Heroin. Er habe auch gedealt. Hätte er das in

36

Filmdienst 7 | 2013

seinen Lebenslauf schreiben sollen? Das Gegenüber reagiert konsterniert, aber durchaus entgegen kommend, doch Anders bricht das Bewerbungsgespräch unvermittelt ab. Die letzten Jahre hat der mittlerweile 34-Jährige in Drogenkliniken verbracht. Jetzt gilt er als clean. Der erste Freigang gilt dem Vorstellungsgespräch. Einen Tag lang, den 31. August, begleitet ihn die Kamera auf seinen Wegen durch Oslo. Begonnen hat der Film (und der Tag!) allerdings mit einem etwas ungelenken Selbstmordversuch an einem See. Später, in der letzten Therapiesitzung vor dem Freigang, wird Anders

von seiner Erschöpfung sprechen und davon, dass es über das Bewerbungsgespräch eigentlich nichts zu sagen gebe. Dass sich jetzt alles zum Guten wende, sei eine Option, weiß Anders, sagt es auch. Aber das könne sich auch als Irrtum herausstellen. „Oslo, 31. August“ ist der neue Film von Joachim Trier, dessen Spielfilmdebüt „Auf Anfang [: reprise]“ vor einigen Jahren das intelligenteste und mitreißendste Statement über Jugend, Freundschaft und Literatur war, das man sich wünschen konnte. Schon damals ging es den Protagonisten buchstäblich immer um alles, war der psychische Zusammen-

bruch eine stets mitzudenkende Option. Man könnte „Olso, 31. August“ durchaus alseine Fortsetzung von „Auf Anfang [: reprise]“ halten; nicht nur, weil Anders Danielsen Lie erneut die Hauptrolle spielt und das Milieu beider Filme vergleichbar ist. Der Film ist pure Gegenwart, auch wenn bei Anders’ Stationendrama die Vergangenheit schlaglichtartig immer wieder aufleuchtet, wenn alte Bekannte auf ihn reagieren. Anders muss mal eine große Nummer in der Osloer Szene gewesen sein, bekannt wie ein bunter Hund. Das aber ist schon Jahre her. Es gibt aber auch Menschen, die sich vor Anders fürchten,

Norwegen 2011

Musik: Torgny Amdam, Ola Fløttum Schnitt: Olivier Bugge Coutté

Kristiansen (Petter)

Regie: Joachim Trier Buch: Joachim Trier, Eskil Vogt, nach dem Roman „Das Irrlicht“ von Pierre Drieu La Rochelle Kamera: Jakob Ihre Handwerk

Darsteller: Anders Danielsen Lie (Andfers), Hans Olav Brenner (Thomas), Ingrid Olava (Rebecca), Anders Borchgrevink (Øystein), Petter Width InHalt

Länge: 96 Min. Verleih: Peripher Kinostart: 4.4.2013 FD-Kritik: 41 612

darsteller

Ausführliche Kritiken zu jedem Film Online unter www.filmdienst.de


Fotos: Jeweilige Filmverleiher

im Kino die ihm ausweichen. Anders selbst ist nicht stolz auf die alten Geschichten, auf die Mythen, die mit seiner Person verbunden sind. Er hat mit seiner Vergangenheit gebrochen, aber die Begegnungen führen ihm deutlich – und schmerzhaft – vor Augen, dass das Leben weiter gegangen ist, dass sich Menschen verändert haben und Träume zerbrochen sind. Man kann sagen: Anders ist auf der Suche nach einem Grund, um weiter zu leben. Seine Selbstbefragungen fallen äußerst schmerzhaft aus, kurze Momente der Hoffnung zerbröseln vor seinen Augen. Für ihn gilt, um es mit einer Zeile der Godfathers aus ihrem Song „Birth School Work Death“ zu formulieren: „There’s nothing in this world for me.“ Ein erschreckender Befund, dem Joachim Trier durch die Einheit von Zeit und Ort der Handlung eine erschütternde Wucht verleiht. Während sein Spielfilmdebüt durch die Hemmungslosigkeit begeisterte, mit der Trier über den Stoff verfügte, durch das formalistische Spiel mit Parallelgeschichten, rasanten Rück- und Vorblenden sowie dem fragmentarischen Erzählen im Konjunktiv und Futur, geht „Oslo, 31. August“ – abgesehen von einem Found Footage-Prolog mit OffStimmen – ganz konzentriert zur Sache. Je länger man Anders bei seiner Odyssee durch Oslo begleiten, desto mehr weitet sich der Blick des Films, der schließlich en passant das Bild einer Generation entwirft, die sich im Status quo eingerichtet und mit

dem Zerplatzen ihrer Träume arrangiert hat. Wenn Anders schließlich Hand an sich legt, ist er nur etwas ehrlicher und rigoroser mit sich selbst als die Menschen, denen er auf der Zielgeraden begegnet. Dem Film liegt ein literarischer Text aus dem Jahr 1931 zugrunde: „Le feu follet“ von Pierre Drieu La Rochelle, 1963 von Louis Malle verfilmt („Das Irrlicht“, fd 13 588), mit Musik von Erik Satie: „Der Selbstmord ist der Akt für die, die keine anderen haben begehen können.“ Verglichen mit Joachim Triers radikaler und beklemmender Studie in Agonie und Fatalismus, die im Kern ein Film über die Vergänglichkeit der Jugend in Zeiten einer künstlich verlängerten Adoleszenz ist, muss Malles Stilübung in Sachen Existentialismus geradezu versöhnlich erscheinen. Ulrich Kriest

BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION Ein 34-jähriger Mann auf Drogenentzug kehrt für einen Tag aus der Klinik nach Oslo zurück, um sich bei einem Magazin als Journalist zu bewerben. Die Konfrontation mit der Stadt und seinen alten Freunden verstärkt jedoch sein tragisches Gefühl des Verlorenseins. Auf der Suche nach einem Grund, um weiter zu leben, fallen seine Selbstbefragungen äußerst schmerzhaft aus; kurze Momente der Hoffnung erweisen sich als Trug. Eine radikale, beklemmende Studie in Agonie und Fatalismus, die im Kern ein melancholischer Film über die Vergänglichkeit der Jugend in Zeiten einer verlängerten Adoleszenz ist. – Sehenswert ab 16.

Neue Filme

FrEE tHE minD [28.3]

Sich selbst ein Rätsel

Mit Yoga und Meditation gegen Angst und ADHS Vielleicht ist letztlich ja tatsächlich der Dalai Lama für diese Dokumentation der dänischen Filmemacherin Phie Ambo verantwortlich. Der soll nämlich 1992 den Hirnforscher Professor Richard Davidson gefragt haben, warum man das Instrumentarium der Neurobiologie nur zur Erforschung von Angst, Wut oder Depression anwende, nicht aber von Güte und Hingabe. Diese Frage hat Davidson nicht ruhen lassen. Der Wissenschaftler, der sich schon früh mit der Erforschung von Meditation beschäftigte, versucht nun, mit Atemübungen, Yoga und Meditation, aber ohne Medikation, Menschen mit Angstzuständen zu helfen. Anhand dreier Fall-

beispiele führt der Film vor, wie eine solche Therapie aussehen und welche Erfolge sie zeitigen könnte. Davidson selbst bleibt im Hintergrund. Weil aber das Gehirn, auf dessen selbsttherapeutisches Potenzial hier vertraut wird, filmisch noch eine Black Box ist, der mit semi-psychedelischen Animationen nicht beizukommen ist, tragen die Porträts der Patienten die Hauptlast des Films. Am Bemerkenswertesten ist dabei die Geschichte des fünfjährigen Will, der unter ADHS und Angstzuständen leidet und sich selbst ein Rätsel ist. Das ist ein gutes Bild dafür, worum es diesem Film geht. - Ab 14.

Dänemark 2012

Länge: 82 Min.

Regie, Buch: Phie Ambo Kamera: Phie Ambo Musik: Jóhann Jóhan sson

FSK: ab 12; f Verleih: mindjazz pictures (t.m.d.U.) Kinostart: 28.3.2013

Schnitt: Marion Tuor

FD-Kritik: 41 613

Handwerk

Ulrich Kriest

InHalt

Filmdienst 7 | 2013

37


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.