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Ü B E RWAC H U N G S K I N O

FILM

BIG BROTHER IS WATCHING LANGE VOR „PRISM“ HAT DAS KINO DEN DATEN-MISSBRAUCH PROPHEZEIT

DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 12. September 2013

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„SPIE

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IG“

Ronaldd l Zehrfe

P O L ITI K & D O K U

UNBEQUEME FILME Wie „Bottled Life“ Nestlé das Geschäft mit dem Wasser versalzt

WERBECLIPS

VERSCHRIENES GENRE „Werbefilm-Ästhetik“ ist häufig ein Schimpfwort. Dabei befruchten sich Kino- und Werbebranche. Viele namhafte Regisseure verpacken ihre Visionen in Clip-Formate.

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ausführliche Kinokritiken im web: Scannen Sie den QR-Code oder klicken Sie auf www.filmdienst.de

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editoriAl

Mads Mikkelsen spielt Michael Kohlhaas

NIEMAND IS(S)T FÜR SICH ALLEIN Die Überschrift ist ein Zitat. „Niemand is(s)t für sich allein“ war eine Kampagne betitelt, mit der das Hilfswerk „Brot für die Welt“ eine gerechtere Verteilung der natürlichen Ressourcen anmahnte. „Eine Milliarde Menschen weltweit hungert, die Hälfte von ihnen sind Kleinbauern. Unsere Kampagne zeigt auf, wie die Ernährungsunsicherheit im Süden entsteht und mit unseren eigenen Konsumgewohnheiten zusammenhängt.“ Unter anderem geht es dabei auch um faire Bedingungen im Handel. Ein Thema, das engagierte Dokumentarfilmer seit langem umtreibt. Der Schweizer Regisseur Urs Schnell hat in „Bottled Life“ dabei ein besonders brisantes Thema aufgegriffen: das grundlegende Menschenrecht auf Wasser. 1,2 Milliarden Menschen haben auf der Erde keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser; von einer sozial gerechten Wasserpolitik sind wir weit entfernt. Schlimmer noch: In Ungarn drehten Nationalisten jüngst den Bewohnern eines Roma-Viertels die Wasserzufuhr ab – weil die Roma das Wasser „verschwenden“ würden. Die Dokumentation „Bottled Life“, die jetzt bei uns in die Kinos kommt, fragt: Wie verwandelt man (Flaschen-) Wasser in Geld? Am Beispiel des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé wirft der Film einen Blick hinter die Kulissen des Milliardengeschäfts mit dem flüssigen Lebenselixier und vermittelt viel über die Strategien im Umgang mit einer vermeintlich selbstverständlichen Ressource. Also: Wasser marsch!

Makoto ist „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“. „Inszeniert“ wurde dieser Anime-Film von Mamoru Hosoda (vgl. S. 32).

Horst Peter Koll, Chefredakteur

Kleider machen Leute Helmut Käutners romantisches Märchen eines Schneidergesellen aus der Biedermeierzeit in einer Schweizer Kleinstadt. Eine vorzügliche Komödie als Verfilmung von Gottfried Kellers Novelle, die zart gesponnene Romantik und satte Milieumalerei mit ironischen Lebensweisheiten verwebt. - Sehenswert ab 12.

ONLINE-TIPP

„Kleider machen Leute“ jetzt ansehen auf: www.alleskino.de

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Filmdienst 19 | 2013 „Evolution“ eines Nike-Turnschuhs im Werbeclip von Neill Blomkamp (r.).

Akteure

Eine Biene aus dem Dokumentarfilm „More than Honey“ (l.)

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KALTER ZORN Als „Kleist pur“, ohne das Kostümrascheln des Historienfilms, versteht sich die deutsch-französische Verfilmung des „Michael Kohlhaas“. Ein Gespräch mit der Co-Produzentin Martina Haubrich. Von Josef Schnelle

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HAVE YOU EVER NOTICED...

alle Filme im TV vom 14.9. bis 27.9. Das extraheft

... welch ästhetisch aufregende Verbindung Werbeclips und Kinofilme eingehen? In der stilistisch zu Unrecht verrufenen Werbebranche tobten sich namhafte Kinoregisseure aus. Von Jörg Gerle + Interview mit Joerg E. Schweizer

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ER SUCHT. ER HÖRT. ER SIEHT Ronald Zehrfeld war Störtebecker, Republikflüchtling und abgeklärter DDRArzt in Christian Petzolds „Barbara“. Der bärbeißig-sanfte Riese strahlt bei aller Kantigkeit eine große Sensibilität aus. Von Alexandra Wach

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UNBEQUEME WAHRHEITEN Die Dokumentation „Bottled Life“ untersucht das Geschäftsgebaren des Nestlé-Konzerns beim Handel mit Mineralwasser. In der Schweiz wurde der Film kontrovers diskutiert. Von Irene Genhart

19 Brokeback Mountain 17.9. 3sat Nur die Sonne war Zeuge 22.9. arte Gerhard Richter Painting 26.9. WDR

MAGISCHE MOMENTE Eine widerspenstige Haarlocke markiert den Beginn einer innigen Liebesgeschichte, die Helmut Käutner in „Unter den Brücken“ erzählt. Ein Film, entstanden mitten im Krieg. Von Rainer Gansera

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IN MEMORIAM Die eine stieg zur Ikone des „New Hollywood“ auf, die andere war auf verruchte Nebenrollen abonniert: Erinnerungen an Eileen Brennan und Karen Black.

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

S. 48

Titelbild: Copyright by Stefan Klüter. Fotos: S. 4/5: Senator; Alamode; Alpenrepublik; Paramount; FD-Archiv; Pandora; Neue Visionen

Kino

Höhenflüge mit der Kamera: „Die Alpen - Unsere Berge von oben“

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Allmächtiger Übervater von „Marvel‘s The Avengers“: Nick Fury

Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

Die Alpen [12.9.] Bottled Life [12.9.] Da geht noch was [12.9.] Freedom Bus [12.9.] Der Fremde am See [19.9.] Grenzgänger [12.9.] Guerilla Köche [19.9.] HARTs5 - Geld ist nicht alles [12.9.] Il Futuro - Eine Lumpengeschichte in Rom [12.9.] 46 Lose Your Head [19.9.] 47 Lost Place [19.9.] Titelbild: Copyright by Stefan Klüter. Fotos: S. 4/5: Senator; Alamode; Alpenrepublik; Paramount; FD-Archiv; Pandora; Neue Visionen

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26 Filme starten in den nächsten beiden wochen, wobei vor allem literaturverfilmungen fest im sattel sitzen: Kleists „michael Kohlhaas“, „The congress“ nach stanislaw lem, der Kinderfilm „Das Pferd auf dem Balkon“ und „grenzgänger“ von Florian Flicker.

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S. MICHAEL KOHLHAAS

Film-Kunst 28

DAS ALLSEHENDE AUGE Lange schon vor „PRISM“ haben amerikanische Mainstream-Filme den Missbrauch omnipotenter Überwachungsinstanzen vorausgesehen. Ein Überblick über die Kino-Dystopien. Von Tim Slagman

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KEINE KOMPROMISSE Der Japaner Mamoru Hosoda kleidet seine Animes in märchenhafte Gewänder, ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Jüngstes Beispiel: „Ame & Yuki“. Von Stefan Stiletto

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DVD-PERLEN Mit Marco Ferreris „Das große Fressen“ und „Fellinis Schiff der Träume“ sind zwei Endzeitgemälde zu entdecken. Von Ralf Schenk

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S. THE CONGRESS

KinoTipp der katholischen Filmkritik

S. 38 MICHAEL KOHLHAAS [12.9.] Kleist-Verfilmung von Arnaud des Palliéres

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Das Pferd auf dem Balkon [19.9.] R.E.D. 2 [12.9.] R.I.P.D. [29.8.] Room 237 [19.9.] Die schönen Tage [19.9.] Storm Surfers 3D [19.9.] The Congress [12.9.] The World’s End [12.9.] Ummah - Unter Freunden [12.9.] What Moves You? [12.9.] Zum Geburtstag - geschenkt ist geschenkt [19.9.] 39 Zwei Leben [19.9.]

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S. DAS PFERD AUF DEM BALKON

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S. GRENZGÄNGER

erste „oscar“-anwärter Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über anspruchsvolle Filme, die ein Ende des Blockbuster-Sommers ankündigen. (S. 27)

Kritiken und Anregungen?

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Akteure

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er sucht. er hört. E Der Schauspieler Ronald Zehrfeld. Von Alexandra Wach

E

in Ost-Berliner am Hindukusch. Die 40 Kilo schwere Kampfmontur steckt er dank seiner massigen Körpergröße noch weg. Die drohende Ermordung des Dolmetschers durch die Taliban, den die sich zurückziehende Bundeswehr in Afghanistan zurücklässt, zehrt schwerer an seinen Kräften. Im zweiten Spielfilm der Regisseurin Feo Aladag („Die Fremde“), der im Frühjahr 2014 ins Kino kommt, spielt Ronald Zehrfeld, zur Abwechslung mal ohne Bart und kurzhaarig, einen zwischen Vorschriften und Moral hin und her gerissenen Soldaten. „Später im Sommer“ wurde an Originalschauplätzen in Afghanistan gedreht. Eine körperbetonte Rolle, die wie für den breitschultrigen Mittdreißiger geschrieben wirkt und das deutsche Kino vorbildlich um ein weiteres Mosaikstück bundesrepublikanischer Gegenwart bereichert. Surreal verzerrter mögen es die Macher von „Finsterworld“, einem entgleisten Deutschlandmärchen aus der Feder des Berufsmisanthropen Christian Kracht. Zehrfelds Gegenpart übernimmt in dem beeindruckenden Figurenensemble Sandra Hüller. Er Polizist, sie Dokumentarfilmerin. Dazwischen ein Bärenkos-

FIlMOgRaFIe 2012 2012 2011 2011 2011 2010 2009 2009 2009 2008 2005

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Finsterworld Wir wollen aufs Meer Barbara Das unsichtbare Mädchen Die Stunde des Wolfes Die Unsichtbare Im Angesicht des Verbrechens 12 Meter ohne Kopf Die Grenze In jeder Sekunde Der Rote Kakadu

tüm, in dem man dem anderen aus dem Weg gehen kann. Was für ein Paar! Ob der Film der Wucht dieser explosiven Konstellation gewachsen ist? Bereits in Dominik Grafs Fernsehserie „Im Angesicht des Verbrechens“ mimte Zehrfeld den Gesetzeshüter: redselig, von sich eingenommen und im Ernstfall zu brachialen Methoden bereit. Ein Charakter mit Ecken und Kanten, der Zehrfeld einen Grimme-Preis einbrachte. Seinen Theatereinstand gab der JudoLeistungssportler gleich bei einem Wüterich wie Peter Zadek. Der engagierte ihn am Deutschen Theater noch als Student der Schauspielschule Ernst Busch, die Zehrfeld nach einem abgebrochenen geisteswissenschaftlichen Studium wählte. Der Umweg hat ihm nicht geschadet. In Interviews glänzt der Sohn eines DDR-Ingenieurs und einer Betriebswirtin durch ungewohnte Reflexionstiefe, die man von einem 1,90 Meter großen Kraftpaket nicht sofort erwarten würde. Ausgestanzte Phrasen kommen ihm nicht über die Lippen. Die Distanz zum eigenen Beruf scheint getragen von einer leisen Melancholie, einer seltenen Integrität, die stets nach der allzu menschlichen Dimension einer Rolle fragt. Vielleicht das Erbe einer von politischen Umbrüchen durcheinandergewirbelten Biografie? Oder doch nur das Resultat einer verstolperten Berufswahl durch einen zufällig besuchten Theaterworkshop? Die Rollenskala vom fechtenden Seeräuber Klaus Störtebeker über den Republikflüchtling in „Wir wollten aufs

Meer“ bis zum empfindsamen Arzt in Christian Petzolds Drama „Barbara“ muss dem viril nachdenklichen Beau ohnehin erst einer in seiner Generation nachmachen. Der junge Gerard Depardieu drängt sich auf, der von Marguerite Duras und Maurice Pialat als authentischer Unterschichttyp besetzt wurde, aber auch im Mainstream als publikumswirksamer Kommissar oder Gangster eine gute Figur machte; nur den abgeklärten Intellektuellen würde man Depardieu wohl nicht abnehmen. An der Seite von Nina Hoss bekam Zehrfeld in „Barbara“ seine bislang dankbarste Rolle geschenkt, die er nicht zuletzt aufgrund der eigenen Kindheitserfahrungen in der DDR mit einer entwaffnenden Natürlichkeit zur Wirksamkeit brachte, ganz ohne die latent eruptive Haudraufpräsenz, auf die man ihn bis dahin zu reduzieren drohte. Christian Petzold sagte damals über seinen Hauptdarsteller: „Ronny schaut sich die Welt an, weil er sie liebt. Wenn er das Set betritt, dann geht er herum, und schaut und berührt und öffnet. Gegenstände, Schränke, Ordner. Man merkt das gar nicht, ganz dezent macht er das. Nicht wie Kinder oder Polizisten. Er sucht. Nimmt auf. Er hört. Er sieht.“ Ein Schauspieler also, der mit Haut, Haar und Herz die Dinge des Lebens in sich aufsaugt. Bleibt zu hoffen, dass sich Petzold erneut in den sanften Riesen mit der Berliner Schnauze verliebt und ihm eine neue Facette entlockt. Bis dahin ruft erstmal der Echte-MännerJob in Afghanistan.

PORTRÄTS IN DEN KOMMENDEN AUSGABEN

Nora von Waldstätten, Mark Waschke, Anne Ratte-Polle und Jakob Diehl

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Er sieht Er ist ein ganzer Kerl, wie gemacht, um Pferde zu stehlen. Ein Kumpel, auf den man sich verlassen kann, stark und ausdauernd. Und nicht aufs Maul gefallen. In den Augenwinkeln von Ronald Zehrfeld lauert der Schalk, in seinen Bewegungen schwingt die Behändigkeit des früheren Judoka nach. Manchmal aber strahlt er auch eine stille Rätselhaftigkeit aus, ein Wissen oder eine Ahnung um Dinge, die schwer auf der Seele eines Menschen lasten.

„Ich komm aus’m Osten, kann also quasi allet.“ Ronald Zehrfeld als Sven Lottner in „Im Angesicht des Verbrechens“

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e- mA i l Foto: Warner Bros.

Von Franz Everschor

erste „oscar“anwärter

Foto: The Weinstein Company

Während die Kinospielpläne in den USA noch vorwiegend von sommerlichen Effekt-Spektakeln beherrscht werden, drängen sich wie in den letzten Jahren einzelne anspruchsvollere Außenseiter nach vorn: erste Anzeichen eines herbstlichen Niveauwechsels, auf den viele von der Gleichförmigkeit des Angebots frustrierte Filmfans seit langem warten. Überraschend räumte Lee Daniels’ „The Butler“ jüngst die Action-Konkurrenz aus dem Weg und setzte sich an die Spitze der Erfolgsskala. Von Woody Allens „Blue Jasmine“ hatte man ein überdurchschnittliches Einspielergebnis erwartet, aber nicht von Daniels’ Film, der Story eines Butlers im Weißen Haus, der zwischen 1952 und 1986 insgesamt acht Präsidenten diente. Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings, dass „The Butler“ alle Ingredienzen besitzt, um bei der breiten amerikanischen Mittelschicht Interesse zu wecken. Er handelt von einer realen Person, mixt hohe Politik mit privatem Familienleben, rührt an die Rassenprobleme jener Zeit, hat Oprah Winfrey unter seinen Dar-

Franz everschor berichtet für FILMDIENST seit 1990 aus Hollywood

A us

stellern und erzählt seine Story im beliebten „Forrest Gump“-Stil. Daniels war es vor ein paar Jahren mit „Precious“ schon einmal gelungen, aus der Masse der unabhängig produzierten Filme auszubrechen und am Abend der „Oscar“-Preise von sich reden zu machen. Ähnlich ging es mit „Winter’s Bone“ und „Beasts of the Southern Wild“, mit „The Kids Are All Right“ und „Midnight in Paris“. Sie alle eint der Umstand, dass sie im Hochsommer gestartet sind, zu einer Zeit also, die gemeinhin für sogenannte Minderheitenfilme als Dürreperiode gilt. Gerade deshalb aber bleiben diese Filme dem Publikum und den Preisgremien in guter Erinnerung. Die größte Aufmerksamkeit galt in den letzten Wochen allerdings einer bescheidenen Erstlingsproduktion, die für lediglich zwei Millionen Dollar von Ryan Coogler, einem ehemaligen Studenten der USC-Filmschule, gemacht wurde, der eigentlich Footballspieler werden wollte. „Fruitvale Station“ ist die filmische Rekonstruktion des letzten Tages im Leben von Oscar Grant,

H o l lY W o o d einem 22-jährigen Schwarzen, der in der Nacht zum 1. Januar 2009 ohne zwingenden Grund von einem (weißen) Polizisten in der U-Bahn-Station Fruitvale im kalifornischen Oakland erschossen wurde. Der Film erschien in den amerikanischen Kinos, als in Florida gerade der Prozess gegen einen weißen Wachmann zu Ende ging, der einen jungen Schwarzen im Handgemenge erschossen hatte. Der Freispruch des Gerichts in Florida sorgte im ganzen Land für aufgebrachte Diskussionen, von denen „Fruitvale Station“ fraglos profitierte. Doch auch ohne die aktuelle Bestätigung seiner gesellschaftlichen Brisanz ist Cooglers Film eine bemerkenswert klarsichtige, komplexe Aufarbeitung realer Vorgänge, die sich nicht an ein Ereignis festklammert, das die Gemüter aufputschte, sondern in glaubwürdigen, sorgfältig inszenierten Hintergrundszenen dem Leben von Oscar Grant nachspürt. Damit wird ein Umfeld geschaffen, das das gewaltsame Ende in einen größeren Zusammenhang einordnet. Statt den heutzutage so übermäßig beliebten Weg eines Dokumentarfilms einzuschlagen, ließ sich Coogler auf die weitaus schwierigere Dramatisierung der Ereignisse ein. Er hat dabei jede Schwarz-weiß-Zeichnung vermieden und reüssiert am nachhaltigsten bei der unprätentiösen Schilderung des amerikanischen Alltags. Das macht das tragische Ende von „Fruitvale Station“ noch schockierender und im Umfeld belangloser Effektfilme umso signifikanter. Zur „Oscar“-Zeit dürfte man von diesem Film wieder zu hören bekommen.

∆ „‚The Butler‘ besitzt alle Ingredienzen, um bei der breiten amerikanischen Mittelschicht zu reüssieren.“ √

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Keine Kompromisse In den Animes des japanischen regisseurs mamoru Hosoda mischen sich unterschiedliche Genres mit fantastischen Elementen. Im Gewand mythisch-märchenhafter Fabeln erzählt er von Konflikten zwischen Tradition und Technik, Mystik und Moderne. Nach seinen Lehrjahren bei Toei und Ghibli hat er nun sein eigenes Studio gegründet. Von Stefan Stiletto

e in Zeitreise-Coming-of-AgeFilm über ein 17-jähriges Mädchen, das plötzlich die Vergangenheit verändern kann und erst noch lernen muss, die Verantwortung ihrer Macht zu begreifen, eine romantische ScienceFiction-Familiengeschichte, in der eine japanische Großfamilie im Zentrum eines globalen Cyberkriegs steht und ein Fantasy-Familienfilm über eine junge Mutter und ihre beiden Kinder, die halb Mensch, halb Wolf sind und noch nicht wissen, in welche Welt sie eigentlich gehören: Mit „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ (2006), „Summer Wars“ (2009) und „Ame & Yuki – Die Wolfskinder“ (Kritik im DVD-Teil dieser Ausgabe) ist der 45-jährige Mamoru Hosoda

im Laufe weniger Jahre zu einem der bedeutendsten Anime-Regisseure neben Hayao Miyazaki und Makoto Shinkai geworden. Was Hosodas Filme prägt, ist vor allem eine aufregende Variation bekannter Genres, die dadurch in neuem Licht erscheinen und sich doch zu einer überraschend harmonischen Einheit fügen. Denn indem Hosoda seine Filme immer in der Gegenwart ansiedelt und nicht von Helden mit Superkräften, sondern von ganz normalen Menschen mit nachvollziehbaren Sorgen und Wünschen erzählt, wirken seine Geschichten sehr vertraut. Bei ihm stehen die Figuren, oftmals starke Mädchen oder Frauen, im Mittelpunkt, ihre Beziehungen und die Welt, in der sie leben. Nahtlos bettet Hosoda fantastische Elemente ins Hier und Jetzt ein und nutzt den Genre-Mix, um über das soziale und kulturelle Leben in Japan zu erzählen. Dabei verläuft zwischen Tradition und Technik in seinen Filmen

animes

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2005: One Piece Baron Omatsuri und die geheimnisvolle Insel 2006: Das Mädchen, das durch die Zeit sprang 2009: Summer Wars 2012: Ame & Yuki: Die Wolfskinder

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Fotos: Anime Video; AV Visionen; Kazé

Mamoru Hosoda oftmals eine Konfliktlinie. Zwischen Mystik und Moderne, Gesellschaft und Natur müssen sich die Wolfskinder in „Ame & Yuki“ entscheiden; in „Summer Wars“ werden die Nachfahren eines alten Samurai-Clans mit dem Angriff einer körperlosen Künstlichen Intelligenz konfrontiert. Damit greifen die Filme klassische Anime-Themen auf, sind andererseits aber zugleich auch zutiefst persönlich. Vor allem seine beiden jüngsten Regiearbeiten, die nach eigenen Ideen von Hosoda entstanden – „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ basierte frei auf einem in Japan sehr bekannten Jugendroman von Yasutaka Tsutsui –, lassen immer deutlicher biografische Einflüsse erkennen. So spielt „Summer Wars“ nahe Ueda, nicht weit entfernt von Hosodas Heimatstadt in der Präfektur Toyama, und enthält Anspielungen darauf, wie Hosoda die Familie seiner Frau kennengelernt hat; die Idee, in „Ame & Yuki“

eine Geschichte über eine junge Mutter und ihre liebevolle Beziehung zu ihren Kindern zu erzählen, geht auf Hosodas eigenen Kinderwunsch zurück. Vielleicht ist es gerade dieses Herzblut, das die Geschichten und Figuren in seinen Filmen so authentisch und ehrlich macht. Auffällig ist aber auch, wie sich Hosodas Inszenierungsstil im Laufe der Zeit verändert hat. Die Animation der Figuren, die mittlerweile nicht mehr so grob gezeichnet sind, wurde immer sorgfältiger und feingliedriger. Und auch die typischen visuellen Anime-Codes – Schweißtropfen für Anstrengung, heftiges Nasenbluten für sexuelle Erregung – werden subtiler und weniger karikaturhaft eingesetzt. Zudem kann Hosoda, dessen erste Auftragsarbeiten Sequels etablierter AnimeReihen wie „Digimon“ oder „One Piece“ waren, dank größerer Budgets nun auch auf die Tricks der „limited animation“ verzichten, in

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denen beispielsweise Dynamik durch Kamerafahrten über statische Tableaux suggeriert wird. Stattdessen verleihen dezente digitale Effekte und detailreiche Hintergrundzeichnungen den Bildern eine atmosphärische Dichte, die durch die naturalistischen Lichtstimmungen sehr lebendig – und nicht selten auch sehr poetisch – wirken. Kein Zweifel: Mamoru Hosoda dreht Filme für die große Leinwand. Um dieses Ziel weiter verfolgen zu können, hat er jetzt das Studio Chizu gegründet – nach dem großen Vorbild des GhibliStudios, das ausschließlich qualitativ hochwertige Animes fürs Kino produziert und keine Kompromisse akzeptiert.

BIOGRAFISCHE NOTIZ: Nach einem Studium der Kunst stieg Mamoru Hosoda (*19.9.1967) bei der Toei Animation ein und arbeitete an verschiedenen Fernsehserien mit. 2005 wechselte er zum Studio Ghibli, wo er zunächst als Regisseur für „Das wandelnde Schloss“ gehandelt wurde. Für „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ gewann er diverse Preise. 2011 gründete er sein eigenes Studio Chizu, in dem „Ame & Yuki: Die Wolfskinder“ entstand. Hosodas Filme sind bei AV Visionen als DVD/BD erhältlich. FILMDIENST 19 | 2013

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8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e

Die Alpen

The World‘s End

[start 12.9.]

[start 12.9.]

Endzeit-Parodie

Dokumentarfilm

FILM DIENST

ALLE NEUEN FILME SO WERTET FILMDIENST HanDwerK

Die Qualität von Regie, Schnitt, Kamera, Musik.

inHalT

Thema und Gehalt der erzählten Geschichte.

DarsTeller

Die Leistungen der Schauspieler.

Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte

Guerilla Köche

Kulinarische Doku-Reise

[start 19.9.]

Freedom Bus

Dokumentarfilm

[start 12.9.]

The Congress von Ari Folman [START 12.9.] Michael Kohlhaas von Arnaud des Pallières [START 12.9.] Zwei Leben von Georg Maas [START 19.9.]

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