FILM-DIENST 23_2012

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www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 8. November 2012 · 4,50 Euro · 23/2012

Alle Kinofilme vom 8.11. und 15.11. Alle Filme im Fernsehen Set-Design: „Cloud Atlas“ Schauspielerin Brigitte Hobmeier Oskar Werner / Francesco Rosi Politik & Satire: Ben Afflecks „Argo“

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DAS FILM MAGAZIN


„The Fall“

INHALT 23/2012

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„Skyfall“ 12

ALLE NEUEN KINOFILME VOM 8.11. UND 15.11.2012 36 42 23 29 43 22 30 40 39 41 44 38 38 32 26 35 41 27 34 34 37 28 32 25 44 20 21 31 24 36

Agent Ranjid rettet die Welt Argo Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters Bis an DIE GRENZE – Der private Blick auf die Mauer Camp 14 – Total Control Zone Çanakkale 1915 Cloud Atlas Dicke Mädchen Dredd – 3D Fraktus Fun Size – Süßes oder Saures Das Geheimnis der Feenflügel 3D Harodim – Nichts als die Wahrheit? Im Nebel More than Honey Nemesis Paranormal Activity 4 Pieta Possession – Das Dunkle in dir Robert Mugabe – Macht um jeden Preis Rosia Montana – Ein Dorf am Abgrund Tepenin ardi – Beyond the Hill Das Schwergewicht Skyfall Stille Seelen Süßes Gift – Hilfe als Geschäft Die Vermessung der Welt Was machen Frauen morgens um halb vier? Winterdieb Zeit zu leben

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magazin kino Metamorphosen Das Set-Design zum Film „Cloud Atlas“ Von Kristina Jaspers porträt Feuer und Flamme Die Schauspielerin Brigitte Hobmeier Von Julia Teichmann aus hollywood Politik & Satire Ben Afflecks Drama „Argo“ steht nicht allein Von Franz Everschor geschichte Zeit und Charakter Erinnerungen an den Schauspieler Oskar Werner Von Marc Hairapetian porträt Die Wahrheit hinter der Wahrheit Meister der filmischen Anklage: Der italienische Regisseur Francesco Rosi Von Michael Hanisch veranstaltung Harte Brocken knacken Ernste Themen, kindgerecht vermittelt: Filme beim Festival „Schlingel“ Von Holger Twele neu im kino kino schweiz neu auf dvd impressum literatur nachspann

NEU AUF DVD 46 Erinnerungen an meine traurigen Huren 46 Speckles – Die Abenteuer eines Dinosauriers


Feuer und Flamme DIE SCHAUSPIELERIN BRIGITTE HOBMEIER

„Weiße Lilien“, „Was machen Frauen morgens um halb vier?“ (o.)


PORTRÄT

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ie vibriert auf der Bühne, und sie vibriert von der Leinwand herab. Wenn sie spielt, dann hört man, wie sich die Zuschauer in ihren Sitzen aufrichten. Die unbedingte Energie, mit der da von einer Figur Besitz ergriffen wird, ist ansteckend. Brigitte Hobmeier spielt immer gut. Selbst in einem misslungenen Film oder einer schlechten Inszenierung ist sie absolut sehenswert; ein Film, ein Stück mit ihr kann nicht wirklich schlecht sein. In ihrem neuen Film „Was machen Frauen morgens um halb vier?“ (Kritik in dieser Ausgabe) ist sie eine Bäckerin – und es wäre eindeutig das schönere Erlebnis, dürfte man den ganzen Film lang Brigitte Hobmeier einfach nur beim Backen zusehen. In München, in Bayern, ist Brigitte Hobmeier ein Star, eine Volksschauspielerin auch. Im Jahr 2011 wurde sie mit dem Theaterpreis der Stadt München geehrt, 35-jährig. Damit war sie die bislang jüngste Trägerin eines Preises, der Künstler ehrt, die sich um das Theaterleben der Stadt verdient gemacht haben. Und das hat sie getan. Angefangen hat sie an Christian Stückls Volkstheater, fulminant in der Rolle der Geierwally. Zum wachsenden Erfolg des Volkstheaters hatte sie damit entscheidend beigetragen, auch wenn sie nach drei Spielzeiten an die Kammerspiele ging. Die Paraderolle der rebellischen, einfachen Frau aus der Provinz, die gegen die katholische Kirche aufbegehrt, gegen ein bigottes Umfeld, hat sie seither oft gespielt, inzwischen eher im Kino als auf der Bühne. Sie sagt selbst: „Im Theater bin ich die Femme Fatale, im Film die Gummistiefeltante.“ Die „Gummistiefeltante“ ist natürlich schon ein wenig untertrieben, angesichts von Filmrollen wie in „Tannöd“, „Ende der Schonzeit“ oder „Die Hebamme“. Sie ist eine Rothaarige. Mit dieser Haarfarbe, die schon immer mehr war als eine Haarfarbe, sind die Rebellinnen – und die Femmes Fatales – vorprogrammiert: Rote Haare sind Stigma und Versprechen, Alleinstellungsmerkmal und Fluch, schön und fremd. Sie sei eben rothaarig, daran könne sie nichts ändern, bemerkt Brigitte Hobmeier lakonisch. Sie selbst habe noch nie daran gedacht, sich die Haare zu färben, aber die Lust an der Veränderung, mit Perücken zum Beispiel, „ist natürlich schon da“. In ihrer ersten KinoHauptrolle als psychisch kranke Karen in „Identity Kills“ (2003) von Sören Voigt bewältigte sie ein „Spiel im Spiel“: Ihre Figur schlüpft in eine andere Identität, in die einer anderen Frau, einer Angepassten, nicht Ausgestoßenen, vermeintlich Glücklichen. Die Dialoge in „Identity Kills“ wurden von den Schauspielern improvisiert, die Schauspieler, so drückte es der Regisseur aus, „müssen sich ihre Figuren selbst erfinden“. Der Zu-

schauer wird also Zeuge, wie sich Brigitte Hobmeier ihre Figur und wie sich ihre Figur eine neue aneignet – eine unheimliche Doppelung. Bislang zweimal hat sie mit Regisseur Martin Gypkens zusammengearbeitet. Sie spielte in seinem Generationenporträt und Ensemble-Film „Wir“ und war die „White Lady“ in der Karibik-Episode der Judith-Herrmann-Verfilmung „Nichts als Gespenster“. Allein wegen ihres mysteriös-klugen Spiels, das postkoloniale Attitüden inkorporiert und dann spöttisch entlarvt, war diese Episode die beste des Films. Das Blut tropft rot von weißen Blütenblättern in Christian Froschs poetisch-futuristischem Psychothriller „Weiße Lilien“. Brigitte Hobmeier schreitet in bewährt ätherischer Rothaarigkeit über eine Dachterrasse mit Pool, fest vor die Brust gedrückt einen Strauß Lilien als Schutzschild. Ihr selbstgewisser Blick trifft sich mit demjenigen der Jazz-Sängerin im blau schimmernden Kleid. Als Hauptfigur Hannah trifft Brigitte Hobmeier grandios den Ton, in dem die Paranoia durch den dystopischen Überwachungsstaat schrillt. Das „Bauerndrama“, auf das sie sich inzwischen „filmisch festgelegt“ fühlt, kam also später – vielleicht mit Marcus H. Rosenmüller, mit dem sie „sehr gern arbeitet“. Dreimal hat sie mit ihm gedreht, zuerst bei „Räuber Kneißl“. Sie würde sich mehr Mut wünschen, „gegenzubesetzen“: „Zu einem Redakteur habe ich Mal gesagt: ‚Ich kann mich übrigens schon verwandeln. Und hochdeutsch spreche ich auch.’“ Das Theater sei da eben viel freier als das Kino, und Verwandlung etwas völlig Normales. „Venus von Ismaning“ hat sie der „Spiegel“ genannt, Botticelli wird gelegentlich in Texten über die Schauspielerin bemüht. Auf der Homepage ihrer Agentur gibt es ein Bild von ihr, auf dem sie im Stil alter Gemälde fotografiert ist. Der blasse Teint, die hohe, sommersprossige Stirn, das runde Gesicht, die nach oben geschwungenen Mundwinkel und der leicht melancholische Blick in die Ferne gemahnen tatsächlich an eine andere Zeit; wäre in Deutschland der Kostümfilm nicht ein weiteres Stiefkind des Kinos, man würde sie vielleicht häufiger auf der Leinwand sehen – wie Nicole Kidman zum Beispiel in Jane Campions „The Portrait of a Lady“. Aber Filme wie „Die Hebamme“ finden in Deutschland eben im Fernsehen statt. Mit Leib und Seele spielt sie da an der Seite von Misel Maticevic – eine sehr gelungene Paarung – die Hebamme Rosa Kölbl, die es wagt, gegen die Operationspraktiken der männlichen Ärzte und gegen die katholische Kirche zu opponieren. Bei diesem Film, sagt sie, „war viel Leidenschaft dabei“.

In Ismaning, in der Münchner Vorstadt, ist Brigitte Hobmeier aufgewachsen. Der Vater arbeitet als Baustellenleiter, die Mutter betreibt eine Heißmangel. Ursprünglich aber stammt ihre Familie aus Niederbayern, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Landshut. Die niederbayerische Herkunft ist kaum zu überhören, wenn die Schauspielerin Dialekt spricht. Ihre Familie führt dort eine Bäckerei, als Kind hat sie ihrer Oma oft in der Backstube geholfen. Der Onkel fährt noch das Brot aus, übers Land, zu den Bauern. Der Cousin hat gerade seinen Meister gemacht. Vor diesem Hintergrund hatte das Drehbuch zu „Was machen Frauen morgens um halb Vier?“ ihr Interesse geweckt. Brigitte Hobmeier formuliert es ganz allgemein und salomonisch: „Das Endprodukt“, beim Theater wie beim Film, sei eben „Berufsrisiko“. Auch, wenn es dann „sehr weh tut, wenn etwas nichts wird“. Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie an der Folkwang Hochschule in Essen, fern der Heimat. Fern der Heimat blieb sie dann auch zunächst, lebte in Berlin und tourte mit Peter Steins „Faust“-Ensemble – in diversen Minirollen. Bis sie zurückkehrte – ans Münchner Volkstheater. Sie ruht in sich. Würde hat bei ihr jede Figur, die Würde ist bei ihr unantastbar. Das mag daran liegen, dass sie sich nicht scheut, „die Fehlbarkeit eines Menschen darzustellen“. Sie braucht keine imaginierte Biografie, die dieses Fehlverhalten entschuldigen würde. Brigitte Hobmeier ist die ideale „Susn“, diese rothaarige, scheiternde Rebellin aus dem Bayerischen Wald. Herbert Achternbusch, der Autor des Stücks, hatte vier Schauspielerinnen für die vier Lebensalter der Susn vorgesehen. Brigitte Hobmeier spielt sie alle und gibt eine außerordentliche Solovorstellung, eine Tour de Force durch ein Leben, erschütternd traurig und hinreißend komisch. Die Inszenierung von 2009 wurde von den Kammerspielen wieder in den Spielplan genommen und ist Dokument der kongenialen Arbeitsbeziehung zweier Rothaariger, zweier Niederbayern: von Brigitte Hobmeier und Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne. Da scheint sie wieder auf, die „Hanna-SchygullaHaftigkeit“ (Laudatio Theaterpreis) aus Ostermeiers FassbinderAdaption der „Ehe der Maria Braun“. Brigitte Hobmeier ist Viele: Der muskulöse Körper ist gespannt wie eine Feder und zugleich extrem weich. Ihr Gang ist kräftig und tänzerisch sich wiegend, ihr Auftritt unprätentiös. Sie ist bodenständig und versponnen, komisch und todernst, ätherisch, aber nicht esoterisch, sie ist ein einzigartiger Typ und extrem wandelbar. Wer ihr zusieht, muss aufpassen: Zurücklehnen ist bei ihr verboten. Julia Teichmann film-dienst 23/2012

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DIE KRITIKEN SEHENSWERT „Cloud Atlas“

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Süßes Gift – Hilfe als Geschäft

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Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters Cloud Atlas Im Nebel Pieta Skyfall Stille Seelen Winterdieb

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DISKUSSIONSWERT Camp 14 – Total Control Zone Dicke Mädchen More Than Honey Nemesis Rosia Montana – Ein Dorf am Abgrund Süßes Gift – Hilfe als Geschäft

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bwohl die afrikanischen Staaten von den Kolonialmächten schon vor einem halben Jahrhundert in die politische Unabhängigkeit entlassen wurden, kann in den meisten Ländern von wirklicher Unabhängigkeit bis heute nicht die Rede sein. Ökonomisch hängen sie noch immer am Tropf der westlichen Welt, und das, obwohl der Kontinent seither mit rund 600 Milliarden US-Dollar Entwicklungshilfe gefördert wurde. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Zahlungen, so die zugespitzte These von „Süßes Gift“, hat in Afrika keine Entwicklung stattgefunden. Das ist eine Sicht, die nicht unbedingt neu, aber deshalb nicht falsch ist. Zumal Peter Heller, der sich im Lauf der Jahre in rund 30 Dokumentationen des Themas Afrika angenommen hat, auf diesem Gebiet als ausgewiesener Experte gelten kann. Neu ist vor allem, dass die Kritik nicht von westlichen, sondern vornehmlich von afrikanischen Intellektuellen formuliert wird. An drei konkreten Beispielen macht Heller deutlich, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist und noch immer falsch läuft. Wobei er einräumt, dass bei den Geberländern oft guter Wille vorhanden war, es aber an der nötigen Kompetenz und Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten und Mentalitäten mangelte. So kamen norwegische Entwicklungshelfer auf die Idee, von der Dürre geplagte Nomaden im Norden Kenias an den nahen Turkana-See umzusiedeln und ihnen das Fischen beizubringen, um dem Hunger der Menschen ein Ende zu setzen. Damit nicht genug, errichteten sie eine Fabrik, in der die Fische für den Export verarbeitet werden sollten. Eine glatte Fehlinvestition: Die Nomaden ließen sich nicht dauerhaft zu Fischern machen, kauften mit dem verdienten Geld sogleich Vieh und zogen damit in ihre angestammten Gebiete zurück. Außerdem war die Fabrik mit ihrem riesigen Energiebedarf gänzlich überdimensioniert. Heute dient sie, halb verfallen, als Lagerhalle für Trockenfisch. In den beiden anderen Beispie-

len aus Mali und Tansania beleuchtet der Film ähnliche Fehlplanungen. Noch bemerkenswerter als diese Einzelfälle nehmen sich die Einschätzungen der einheimischen Experten über die grundsätzliche Problematik von Entwicklungshilfe aus. Sie beklagen, dass ein großer Teil der Hilfsgelder in Form von Aufträgen oder Lebensmittelkäufen ohnehin wieder in die Ursprungsländer zurückfließe. Sie machen aber auch keinen Hehl daraus, dass die dauerhafte Hilfe ihre Landsleute über die Jahre hinweg lethargisch gemacht habe. Selbst Hilfsprojekten, die dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ folgen, war selten Erfolg beschieden, wenn die Aufbauhelfer ihre Arbeit beendet hatten. Zudem fehlen in vielen Ländern die politischen Rahmenbedingungen für einen dauerhaften Wandel. „Echte Entwicklungshilfe“, so ein Journalist, „müsste zunächst einmal Regierungen stürzen, um wirksam zu sein.“ Trotz einiger kleiner Beispiele, die Anlass zur Hoffnung geben, zeichnet Hellers Dokumentation ein überwiegend düsteres Bild des Kontinents, verzichtet dabei aber wohltuend auf die Präsentation holzschnittartiger Patentlösungen. Heller greift auf viele (teils vor Jahren selbst gedrehte) Archivbilder zurück. So entsteht kein bebildertes Thesenpapier, sondern ein originärer Dokumentarfilm, der deutlich macht, dass die Probleme Afrikas letztlich auch unsere sind. Am Ende sitzt ein Junge in einem Baum und erklärt lächelnd: „Wenn Gott hier alle Tiere tötet, komme ich zu euch.“ Reinhard Lüke KINOSTART 8.11.2012 Süßes Gift – Hilfe als Geschäft Deutschland 2012 Produktion Produzent Regie und Buch Kamera Musik Schnitt Länge FSK Verleih

Lichtfilm/WDR/ARTE Wolfgang Bergmann Peter Heller Sulemann Kissoky, Dieter Stürmer Arpad Bondy Gesa Marten 92 Min. o.A.; f W-film

50 Jahre Entwicklungshilfe und 600 Milliarden US-Dollar haben den afrikanischen Kontinent nicht vorwärts gebracht, sondern seine allumfassende Stagnation festgeschrieben. Anhand von drei Fallstudien aus Mali, Kenia und Tansania bilanziert der Dokumentarfilm hellsichtig die Gründe für die kontraproduktive Wirkung der Unterstützung aus dem Westen. Zu Wort kommen vor allem afrikanische Intellektuelle und Praktiker. Während viele Hilfsgelder in die Geberländer zurückfließt, verfallen die Nehmerländer in Lethargie. Peter Heller zeichnet intensiv ein desillusioniertes Afrika-Bild, verzichtet aber wohltuend auf holzschnittartige Patentlösungen. – Ab 14.


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Die Vermessung der Welt

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ls Alexander von Humboldt im südamerikanischen Dschungel einmal auf einen Jaguar stößt, dreht er sich vorsichtig um, geht langsam Schritt für Schritt los, am dann doch bald in panische Flucht zu verfallen. An Bord des rettenden Floßes entscheidet er sich später, die Ereignisse im Tagebuch so zu beschreiben, „wie sie sich hätten abspielen sollen: Er würde behaupten, sie wären zurück ins Unterholz gegangen, die Gewehre im Anschlag, doch ohne das Tier zu finden“. Es ist diese angenehm ironische Fallhöhe zwischen (angeblicher) Wirklichkeit und der Vorstellung, wie sie sein sollte, durch die der seinerzeit 30-jährige Daniel Kehlmann seinen „historischen“ Roman so attraktiv machte. Dabei bot er im Kern doch „nur“ zwei parallel verlaufende, sich erst spät berührende Lebenswege: Im Mittelpunkt steht die Forschungsreise des Naturforschers und Geografen Alexander von Humboldt (1769-1859), der zur Jahrhundertwende mit dem Botaniker Aimé Bonpland durch den Norden Südamerikas reiste; außerdem geht es um den Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß (1777-1855), der nie seine Heimat verließ, mit 30 Direktor der Sternwarte in Göttingen wurde und seine Forschungen zu

Physik und Mathematik zwischen den Impulsen der Aufklärung und den beginnenden sozialen Unruhen in der westlichen Staatenwelt betrieb. Gauß und von Humboldt, zwei zeitgebundene Prototypen des „Einzelforschers“ unter individuell grundverschiedenen Bedingungen, begegneten sich erst im hohen Alter während eines Naturforschungskongresses – längst müde, ernüchtert und verbittert, mehr ahnend als wissend, dass all ihre abenteuerlichen, mitunter selbstherrlichen „Vermessungserkundungen“ durchaus etwas Vermessenes hatten, nicht zuletzt weil sie die Welt erforschten, nie aber den Menschen entdeckten. Was hätte dies für ein spannender und tiefgründiger, dabei doch populärer Unterhaltungsfilm werden können! Dafür hätte allerdings Kehlmanns radikaler Stilwille auf Augenhöhe in eine filmisch angemessene Form übertragen werden müssen – doch Bucks Film gebiert trotz 3D einen eher flachen Abklatsch. Seine fleißig bebilderte Nacherzählung des Romans findet nie zu eigenständiger filmischer Kraft, liefert sich kampf- und widerstandslos handelsüblichen (Erzähl-)Techniken und standardisierten Genres aus. Buck bebildert die Ereignisse in oft erlesen

fotografierten Szenerien – üppig und schwelgerisch in den (über-)betont wild-exotischen Urwaldszenen, akribisch und detailversessen als illustratives Ausstattungsstück, wenn er deutsche Befindlichkeiten und Lebensumstände im späten 18. Jahrhundert abbildet. Die entgegengesetzten Welten, die des reiseunlustigen, misanthropischen Gauß sowie die des rastlosen (im Film mitunter allzu redefreudigen) Forschungsreisenden von Humboldt, zehren ein Stück weit von der Präsenz der soliden Darsteller, besonders in den Nebenrollen: Sunnyi Melles als von Humboldts exaltierte Mutter, Katharina Thalbach als die Mutter von Gauß, die mit kleinsten Blicken und Gesten Zuneigung und Verstehen aufblitzen lässt, Vicky Krieps als lebenspralle Johanna und, vor allem, Theater-Star Michael Maertens als skurril-verschlagener Herzog von Braunschweig, entstellt durch verfaulte Zähne, lustvoll überzeichnet als dumm-dumpfer, dabei nie harmloser Regent und Förderer der Künste und Wissenschaften. Eigentlich müsste also alles stimmen – und doch funktioniert fast gar nichts. Fast teilnahmslos, ja unbeteiligt lässt der vorbeirauschende Film, bleibt eine pittoreske Nichtigkeit, die hier eine kleine Regung, dort eine kleine Irritation provoziert, insgesamt aber kaum etwas auslöst: keine Empathie, keine Erkenntnis, keine Unterhaltsamkeit. Wo der Roman dank seiner distan-

zierten sprachlichen Lakonie, dank unterspielter Ironie und Komik virtuos glänzt, versteckt sich der Film hinter der schönen Oberfläche, flüchtet sich mitunter ins Klamaukig-Derbe – für die sprachliche Eleganz des Romans sucht und findet er visuell nicht annähernd Gleichwertiges, erst recht nicht in der 3D-Optik, die ihn oft gar als altmodischen Guckkasten mit hintereinander aufgestellten Flächen erscheinen lässt. Wie gesagt, es hätte ein tolles filmisches Abenteuer werden können: ein lustvolles Kino-Spiel mit der Geschichte, den Grenzen und Anmaßungen von Intelligenz und Zivilisation, der Fallhöhe von Größe und Lächerlichkeit – doch alles bleibt Chimäre, ein Wetterleuchten. Horst Peter Koll KINOSTART 25.10.2012 Die Vermessung der Welt Die Vermessung der Welt 3D, Scope. Deutschland/Österreich 2012 Produktion Boje Buck Prod./Lotus Film/WDR/ARD Degeto/BR/NDR/SWR ORF/A Company Produzenten Claus Boje, Detlev Buck, Erich Lackner, Thommy Pridnig, Peter Wirthensohn Regie Detlev Buck Buch Daniel Kehlmann, Detlev Buck, Daniel Nocke, nach dem Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann Kamera Slawomir Idziak, Jana Marsik (2. Kamera) Musik Enis Rotthoff Schnitt Dirk Grau Darsteller Albrecht Abraham Schuch (Albrecht Abraham Schuch), Florian David Fitz (Carl Friedrich Gauß), Jérémy Kapone (Bonpland), Sunnyi Melles (Baronin von Humboldt), Karl Markovics (Lehrer Büttner), Katharina Thalbach (Gauß' Mutter), Vicky Krieps (Johanna), Max Giermann (Mann vom Militär), David Kross (Eugen) Länge 123 Min. FSK ab 12; f Verleih Warner Bros.

Während der Naturforscher und Geograf Alexander von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts den südamerikanischen Dschungel bereist, erforscht der Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß in Göttingen Physik und Mathematik. Die abenteuerliche, mal melancholische, mal derb-komische Doppelbiografie beschreibt Stationen aus dem Leben zweier zeitgebundener „Einzelforscher“, deren Vermessungserkundungen durchaus etwas Vermessenes haben, weil sie die Welt, nicht aber den Menschen erforschen. Solide gespielt und üppig ausgestattet, findet die Verfilmung des Romans von Daniel Kehlmann zu keiner eigenständigen Bildsprache und verharrt im Äußerlich-Illustrativen. – Ab 14.

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