FILM-DIENST 24_2012

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www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 22. November 2012 · 4,50 Euro · 24/2012

DAS FILM MAGAZIN Alle Kinofilme vom 22.11. und 29.11. Alle Filme im Fernsehen

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thema: Inklusion & Kino Der Weltuntergang im Kino Disney & Lucasfilm François Ozon


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kino Das Ende der Geschichte Weltuntergang im Kino: Über den apokalyptischen Film Von Michael Kohler

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aus hollywood Tinkerbell umarmt Darth Vader gekauft Die Walt Disney Company hat Lucasfilm Von Franz Everschor

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interview Die Liebe zu den Monstern Ein Gespräch mit François Ozon über „In ihrem Haus“ Von Marcus Seibert

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porträt Wie ein Goldregen el Zum Tod der Schauspielerin Käthe Reich nk Sche Von Ralf

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thema: inklusion Es fängt erst an g Die Inklusion, das Kino und die Filmbildun Von Holger Twele

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Wir zeigen es allen! Inklusion und Filmvermittlung nfuß Von Gudrun Sommer und Claudia Ziege

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Kino ohne Grenzen Barrierefreies Kino in der Diskussion Von Claudia Engelhardt

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Barrieren im Kopf Der Film „Inklusion – Gemeinsam anders“ Von Kathrin Häger

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INHAL

„The Happening“

T 24/2 012

kino Der weiße Fleck Warum Spielen Politik und Politiker im deutschen Filmschaffen keine Rolle? Von Reinhard Lüke

magazin personen neu im kino kino schweiz neu auf dvd impressum nachspann

NEU AUF DVD 55 Das Geheimnis von Kells 56 Am Ende der Nacht 56 Dreamhouse


Das Ende der Geschichte WELTUNTERGANG IM KINO: ÜBER DEN APOKALYPTISCHEN FILM „2012“


KINO

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m 21. Dezember 2012 werden wir entweder erschrocken erkennen, dass die Mayas den Weltuntergang als erste korrekt vorhergesagt haben, oder uns erleichtert daran erinnern, dass die Apokalypse die längste Fortsetzungsgeschichte der Menschheit ist. Zu allen Zeiten haben sich Gemeinschaften das Ende der Welt in schillernden Farben ausgemalt – und in die unheilvolle Prophetie meistens zugleich ein Hintertürchen eingebaut. In der christlichen Apokalyptik ist dies die Aussicht auf Erlösung; das Ende der irdischen Welt fällt mit dem Beginn des Reiches Gottes in eins. Als Faustregel gilt: Wer den Untergang weissagt, weiß in der Regel schon, wie es danach weitergehen soll; die Apokalypse ist vor allem eine Mahnung an die Lebenden. Doch woher rührt die religiöse Faszination am eigenen Untergang? Und warum hält sie in säkularen (Industrie-)Gesellschaften ungebrochen an? Auch in der aufgeklärten Apokalyptik ist mit dem Weltende die Aussicht auf eine Zeitenwende und die Offenbarung höheren Wissens verbunden. Nur dass diese nicht mehr religiöser, sondern sozialer Natur ist: Im Angesicht des Untergangs zeigt sich die bessere Seite des Menschen und reißt die Schranken zwischen den gesellschaftlichen Klassen ein. Die Verheißung einer strahlenden Zukunft ist dieselbe: Die Utopie steigt wahlweise aus den Trümmern einer sündhaften, gierigen oder hochmütigen Welt auf.

Die Prophetie folgt dem Zeitgeist In der Filmgeschichte gibt es diese sozialromantische Abwandlung der biblischen Apokalyptik erstaunlich häufig, wenn auch selten in so reiner Form wie im dänischen Stummfilm „Verdens Untergang“ (1916). Hier rast ein Meteorit der Erde entgegen und lässt den Klassen- zum Überlebenskampf eskalieren. Krisengewinnler machen selbst mit dem Weltende noch Geschäfte, während andere den Charaktertest durch Selbstlosigkeit und Solidarität bestehen. Auch in Roland Emmerichs Blockbuster „2012“ spielen die sozialen Schichten eine Hauptrolle: Die Reichen und Mächtigen der Welt lassen sich heimlich von einem dem Tod geweihten Arbeitsheer gigantische Archen bauen, während der Held des Films tausend Klippen überwinden muss, um eine kleine Gruppe amerikanischer „Otto Normalverbraucher“ in letzter Sekunde an Bord zu bringen. Im Animationsfilm „Wall-E“ ist die Utopie Wirklichkeit geworden: An Bord eines durchs Weltall steuernden Schlaraffenlands sind alle Menschen fettleibige Brüder und Schwestern und haben die unbewohnbar gewordene Erde längst vergessen. Allerdings hat auch diese Gesellschaft ihre

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Arbeiterklasse: Eine Armada an Robotern bedient die Menschen rund um die Uhr. Es liegt nahe, dass sich der apokalyptische Film wichtige Motive mit seinem kleinen Bruder, dem Katastrophenfilm, teilt. Hier wie dort bildet eine kleine Abordnung den Querschnitt der Menschheit ab und gibt den einzelnen Vertretern Gelegenheit, sich zu bewähren oder moralisch zu scheitern – letzteres kommt meist einem Todesurteil gleich. In dieser Hinsicht ist Lars von Triers „Melancholia“ die denkbar intimste Untergangsvision: Der Regisseur, dem sich die Welt verdunkelt, nimmt uns alle auf die Reise in seine persönliche Hölle mit. Am anderen Ende der Größenskala liegt „Deep Impact“, in dem die Bemühungen der US-Regierung geschildert werden, dem auf die Erde zurasenden Untergang mit demokratischer Haltung zu begegnen; in diesem streng säkularen Film ist die Erlösung erstens möglich und zweitens nur eine Frage gelungenen Krisenmanagements. Ganz ohne Pathos versucht Steven Soderbergh in „Contagion“ auszukommen. Seine Schilderung einer globalen Seuche opfert Helden beinahe im Minutentakt und gleicht am ehesten einem Laborbericht. So unterschiedlich apokalyptische Filme im Detail sind, so ähnlich sind sie sich in der Ursachenforschung – schon weil nur wenig Unheil für Weltuntergangsszenarien in Frage kommt. Neben der häufig aus Laboren entsprungenen Seuche sind dies vor allem atomare Kriege, Naturkatastrophen und interstellare Begegnungen mit Planeten oder Mars-Armeen. Eine originelle Variante bot zuletzt M. Night Shyamalan, der in „The Happening“ die Natur aus Notwehr gegen die Menschheit aufbegehren lässt. Überhaupt folgt die Prophetie dem Zeitgeist: Nach Hiroshima drohte in Filmen wie „Das letzte Ufer“, in dem ein U-Boot die Überlebenden des Dritten Weltkriegs aufsammelt, vor allem die atomare Vernichtung – eine Konstante, die seit dem Öko-Thriller „The Day After Tomorrow“ mehr und mehr vom Klimawandel verdrängt wird. Eher kurzlebig war die „Mad Max“-Mode, die in Folge des Ölschocks der 1970er-Jahre das Ende der Ölzeitalters als archaisches Kriegsspektakel heraufziehen sah; immerhin scheint eine Neuauflage nicht unwahrscheinlich.

Wenn das Gute verlöscht Neben dem Weltmaßstab unterscheidet sich die Apokalypse von der gewöhnlichen Katastrophe durch den prophetischen Gehalt. Ein Schiffsuntergang kann wie in „Titanic“ kann ein Menetekel für das Ende der Klassentrennung sein oder wie in „Der Unter-

gang der Poseidon“ den Glauben an den technischen Fortschritt hintertreiben. Erst die Vorhersage eines Weltendes bringt jedoch eine alttestamentarische Qualität hinein. In Alex Proyas’ „Knowing“ kommt sie in Form schier endloser Zahlenkolonnen, die ein Schulmädchen in den 1950er-Jahren wie in Trance aufgeschrieben hat. Gemeinsam mit hübschen Bildern ihrer Mitschülerinnen werden die Notate in einer luftdichten Kapsel im Boden versenkt und 50 Jahre später feierlich wieder ausgegraben. Als der kleine Sohn eines verwitweten Astrophysikers die Hinterlassenschaft nach Haus bringt, entdeckt sein Vater, dass eine kosmische Ordnung in den Zahlenreihen steckt. Sie geben die Daten historischer Unglücke aus dem letzten halben Jahrhundert an, die exakte Zahl der Opfer und die örtlichen Koordinaten des Geschehens. Für die sich apokalyptisch auftürmenden Prophezeiungen kommen nur zwei Absender in Frage: Gott oder eine außerirdische Lebensform. Proyas gibt sich alle Mühe, sowohl weltliche wie auch religiöse Auslegungen zuzulassen. Seine ganze Wucht entfaltet „Knowing“ aber nur, wenn man seinen biblischen Unterton beim Wort nimmt. Obwohl die Schuldfrage im apokalyptischen Film meist rasch geklärt ist – die Menschheit geht an der eigenen Hybris zu Grunde –, stellt sich fast immer auch die Gretchenfrage: Ist die Katastrophe Zufall oder Strafgericht? Dass die Menschheit den drohenden Untergang verdient, ist Danny Boyle in seinem Science Fiction-Thriller „Sunshine“ zumindest einen Gedanken wert. Er schickt ein nach dem mythischen Ikarus getauftes Raumschiff zur Sonne, weil deren Feuer langsam stirbt und nur eine nukleare Sprengung in ihrem Inneren das endgültige Verglühen verhindern kann. Es ist eine jahrelange Reise, und wenn die Astronauten von Schwermut befallen werden, steigen sie in ein Lichtbad, das ihnen in lebensechten Bildern die schönsten Erinnerungen an die Heimat simuliert. Doch wie mag es dort tatsächlich aussehen? Für den Philosophen Platon war die Sonne gleichbedeutend mit der Idee des Guten; nicht auszudenken, was passiert, wenn das Gute auf der Welt verlöscht. Das Geschehen auf der Erde bleibt in „Sunshine“ bis kurz vor Schluss verborgen. So kann sich die Fantasie das Schlimmste ausmalen, und die Ikarus wird wie von selbst zum Raumschiff Erde. Wir suchen in den Konflikten an Bord nach Anhaltspunkten für den Zustand unserer Zukunft und ahnen bald, dass sich in ihnen auch zwei einander entgegengesetzte Interpretationen der Katastrophe zeigen: Für die einen will Gott seinen missratenen Kreaturen buchstäblich das Lebenslicht ausknipsen. Die anderen erkennen


KINO im unendlichen Weltraum die ebenso weiten Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen. Der Kampf zwischen religiösem Glauben und Wissenschaft gehört zu den Leitmotiven des apokalyptischen Films, wobei die Parteien sich gegenseitig vorwerfen, einen Götzen anzubeten. Im Horrorfilm „Der Nebel“ (2007) spitzt sich die Auseinandersetzung exemplarisch zu: Nach einem Unwetter zieht über einem Städtchen gespenstisch dichter Nebel auf. Der Held fährt mit seinem Sohn in den örtlichen Supermarkt und stellt mit den übrigen Kunden nach einer Weile fest, dass im Schutz der weißen Nebelwand möglicherweise riesige Monster lauern. Genaues weiß man nicht, aber wer sich nach draußen wagt, wird nicht mehr gesehen. Als sich die bösen Zeichen verdichten, greift neben der Panik auch der religiöse Fundamentalismus um sich. Die eine Hälfte der Kunden bläst so lange zur Hexenjagd, bis es für diejenigen, die an eine rationale Erklärung glauben, draußen sicherer als drinnen scheint. Der Nebel ist ein schönes Mittel, um einer inszenatorischen Verlegenheit zu entgehen: die Apokalypse im Detail ausmalen zu müssen. An die Johannes-Offenbarung hält sich nicht einmal die evangelikale „Left Behind“Serie, das Unterhaltungskino greift in der Regel auf genrespezifische Motive zurück. So steigen in etlichen „Zombie“-Filmen die Toten aus den Gräbern, um – bittere Ironie der Auferstehung – die Lebenden zu jagen, und in Steven Spielbergs „Kampf der Welten“ düngen die Marsianer ihre Felder mit dem Blut der unterjochten Menschen. Lediglich Michael Tolkin wagt sich in „The Rapture“ an eine beinahe buchstäbliche Version des biblischen Untergangs: Bei ihm findet eine Sünderin zu Gott, ändert ihr Leben von Grund auf und findet sich dafür „belohnt“, indem ihr geliebter Ehemann ermordet wird. Am Tag der Apokalypse stellt sie Gott die Charakterfrage und beschließt, lieber im irdischen Fegefeuer zu bleiben als in den Himmel aufzusteigen.

Versöhnlicher sieht M. Night Shyamalan in „Signs“ die Bindung zwischen Gott und Mensch. Er inszeniert eine Invasion der Außerirdischen, um einen vom Glauben abgefallenen Priester auf den rechten Weg zurückzuführen. Dass seine Familie und letztlich auch die Erde gerettet werden, ist nur mit göttlicher Vorsehung zu erklären.

Die Offenbarung bleibt aus Im Fantasy-Genre kommt die Apokalypse meist als Mitgift alttestamentarischer Entscheidungskämpfe, in der die gewöhnlichen Menschen lediglich Wetteinsatz und Medien sind. Erst im postapokalyptischen Film nehmen sie das Heft des Handelns wieder in die Hand. In „The Road“ zieht ein Namenloser mit seinem Sohn durch die Ruinen der Welt. Es gibt keine Pflanzen mehr, der Himmel ist ergraut, und schlimmer als die Ödnis des Horizonts ist allein die Vorstellung, wer einem hinter der nächsten Straßenbiegung begegnen könnte. „Gehören wir zu den Guten?“, fragt der Sohn ängstlich seinen Vater. Ja, das tun sie, denn sie essen keine Menschen. Nach der Apokalypse fangen die Probleme erst richtig an. Die Hoffnung auf Rettung ist erloschen, und so geht es nur darum, zu überleben und dabei das Gute in sich zu bewahren. In „The Road“ beschwört der Vater seinen Sohn, dass sie „die Flamme“ im Herzen weiter tragen müssen. Natürlich ist damit die Flamme der Menschlichkeit gemeint; sie zu bewahren wird aber auch für den Helden schwierig, wenn er sein Kind vor den Menschenfressern beschützen will. Andrei Tarkowski zeichnete die Folgen der Apokalypse nicht ganz so düster. Der „Stalker“ im gleichnamigen Film führt eine kleine Gruppe in einen Landstrich, den eine Katastrophe in einen mythischen Ort verwandelt hat. Hier geschehen unerklärliche Dinge, sogar eine Art Wunschbrunnen soll entstanden sein. Als die Gruppe zu ihm vorzudringen versucht, stellt sie fest, dass im Inneren der hermetisch

abgeriegelten Zone alle weltlichen Überzeugungen ihre Bedeutung verlieren. Der Ort trägt durchaus paradiesische Züge, die Offenbarung höheren Wissens bleibt aber aus. Obwohl sich der apokalyptische Film seine Stoffe nicht durch religiöse Überlieferung beglaubigen lassen muss, stellt sich auch ihm die Frage von falschen und wahren Propheten. In „Take Shelter“ lässt Jeff Nichols einen psychisch labilen Mann düstere Vorboten sehen. Er beginnt, auch seine widerstrebende Familie auf den nahenden Untergang einzuschwören, und es könnte durchaus sein, dass alles nur Folge einer Psychose ist. Am Ende sehen auch Frau und Kind die Zeichen; das Glück des einen ist hier das Verderben aller anderen. Den umgekehrten Weg geht der Held in Andrei Tarkowskis „Opfer“. Er verspricht Gott, sein Glück zu opfern, wenn er eine heraufziehende Katastrophe abwendet, von der niemand weiß, welche Ausmaße sie hat. Als am nächsten Morgen alles gut ist, löst er sein Versprechen selbst auf die Gefahr hin ein, dass die schrecklichen Vorzeichen nur ein Traum gewesen sind. Seltenheitswert hat hingegen, dass sich ein Regisseur selbst als (falscher) Prophet inszeniert. Jean-Luc Godard schickte einst eine Pariser Familie ins „Week-End“ und ließ den üblichen Urlaubsstau auf den Straßen apokalyptische Ausmaße annehmen. Sein Film schließt mit der Einblendung: „Ende der Geschichte, Ende des Kinos.“ Allerdings wusste Godard, dass seine Vorhersage wenig Aussicht auf Erfüllung hat. Im Kino ist das Ende immer nah, und die nächste Fortsetzung kommt bestimmt. Michael Kohler Hinweis Das Filmmuseum Düsseldorf zeigt aktuell eine Filmreihe zum Thema „Das Ende der Welt“ (bis zum 29.12). Im Kino „Black Box“ laufen „Melancholia“, „Wall·E – Der letzte räumt die Erde auf“, „The Day After Tomorrow“, „Dunkle Erleuchtung“, „Stalker“, „Kampf der Welten“, „Apocalypse Now Redux“, „Weekend“ und „2012“. Weitere Details und Termine im Internet.

www.duesseldorf.de/filmmuseum/blackbox

Auch im Horrorfilm „Constantine“ ist der christliche Schöpfergott eine ziemlich dubiose Figur. Er spielt mit dem Teufel um das menschliche Seelenheil und sorgt allenfalls dafür, dass eine prekäre Balance zwischen Gut und Böse erhalten bleibt. Engel und Dämonen gehen auf der Erde ein und aus und versuchen, die Menschen im Sinne ihrer jeweiligen Herren zu beeinflussen. Als sich die Höllenpforte zu öffnen beginnt, droht das Gleichgewicht zu kippen und sich die Erde in ein ewiges Inferno zu verwandeln. Auf einen göttlichen Eingriff wartet der Zuschauer vergeblich, stattdessen wird der übernatürlich begabte Held zum Zünglein an der Waage.

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„Der Nebel“ film-dienst 24/2012


zu geben und schnell abzubremsen, und er lernt, bei den bürokratischen Sozialbehörden sein Recht durchzusetzen. Cathal lernt vom weit älteren Fred Gründlichkeit, Ruhe und Gelassenheit. Über Cathal gewinnt Fred aber auch Mut, sich verstärkt der finnischen Musiklehrerin zu nähern. Aber die Freundschaft der so unterschiedlichen Männer droht immer wieder zu zerbrechen, denn Cathals Drogensucht ist stärker als alles andere, deformiert seinen Charakter. Fred lernt auch hier eine neue Welt kennen, die Brutalität der Geschäfte mit der Droge, die seine Existenz am Parkplatz bedroht.

DIE KRITIKEN SEHENSWERT Am Himmel ein Tag Der Aufsteiger Erich Mendelsohn – Visionen für die Ewigkeit Das Geheimnis von Kells (dvd) Die Hüter des Lichts Perret in Frankreich und Algerien Sagrada (kino schweiz) Tony 10 Transpapa

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Parked – Gestrandet

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rt der Handlung ist ein Parkplatz in einer wunderschönen Landschaft. Von hier aus sieht man direkt auf die weite Bucht der irischen See, auf die Felsküste und auf einen Leuchtturm. Auf dem Parkplatz stehen zwei Autos: ein neuer, fahrtüchtiger blauer Mittelklassewagen und ein gelbes Auto, schon sehr abgeschabt. Fred lebt in dem gepflegten blauen Auto. Er ist durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen, denn ohne festen Wohnsitz zählt er als Obdachloser, bekommt deswegen keine Sozialhilfe und kommt auch nicht auf die Liste der Sozialwohnungen. In seinem Fahrzeug am offenen Meer lebt er im wahren Wortsinn am Rand der Gesellschaft. Aber Fred bewahrt seine Würde. Er hält sein Auto sauber, pflegt seine Kleidung und gibt seinem Pfennigbaum jeden Morgen etwas Wasser. Seine Gegenwelt ist das Städtische Schwimmbad, ein Hort der Reinlichkeit, Gesundheit und sportlichen Aktivität. Fred hat wenig soziale Kontakte. Das ändert sich, als er eine verwitwete finnische Musiklehrerin kennen lernt, Jules. Beide sind sich auf Anhieb sympathisch, doch Fred wagt nicht, ihr seinen sozialen Status zu gestehen.

„Das Geheimnis von Kells“

DISKUSSIONSWERT 3/Tres Cold Blood – Kein Ausweg, keine Gnade Festung Jerusalem Parked – Gestrandet

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Verkörpert Jules die mögliche Rückkehr ins bürgerliche Leben, so endet Freds Einsamkeit auf der Straße, als der junge Junkie Cathal in das leer stehende gelbe Auto einzieht. Im Gegensatz zum stets korrekten Fred wirkt Cathal mit seinen schlechten Zähnen und seiner abgenutzten Kleidung, als sei er auf der Überholspur des Lebens kontinuierlich unter die Räder gekommen. Und doch freunden sich die beiden an, Fred lernt die „wilde Seite des Lebens“ kennen, etwa im Wald Gas

„Parked“ ist ein sensibel und ruhig erzählter Film über Armut, Sucht und Einsamkeit. Aber auch über die Beständigkeit und die Freude an kleinen Dingen im Alltag. Ganz besonders ist es ein Film über die Freundschaft zwischen von Grund auf verschiedenen Menschen. Regisseur Darragh Byrne erzählt in seinem Spielfilmdebüt anrührend, aber nie rührselig von den Verlierern der Gesellschaft, von Menschen, denen nur noch das Auto oder das Autowrack geblieben ist. Am Ende hinterlässt „Parked“ ein positives Gefühl, ohne dass er Zuflucht zum simplen Happy End nehmen muss. Wolfgang Hamdorf KINOSTART 29.11.2012 Parked – Gestrandet Parked Scope. Irland/Finnland 2011 Produktion Ripple World Pic./Helsinki Filmi Produzenten Dominic Wright, Jacqueline Kerrin, Aleksi Bardy Regie Darragh Byrne Buch Ciaran Creagh Kamera John Conroy Musik Niall Byrne Schnitt Guy Montgomery, Gareth Young Darsteller Colm Meaney (Fred Daly), Colin Morgan (Cathal O’Regan), Milka Ahlroth (Juliana), Stuart Graham (George O’Regan), Michael McElhatton (Frank), David Wilmot (Peter), Tatiana Ouliankina (Aerobic-Trainerin), Diarmuid Noyes (Cathals Bruder) Länge 94 Min. FSK ab 12; f Verleih Dualfilm

Ein obdachloser Mann lebt in seinem Auto auf einem Parkplatz und versucht, seiner sozialen Misere zum Trotz auf sich zu achten und seine Würde zu wahren. Während er seine Zuneigung zu einer verwitweten Musiklehrerin wegen seiner Armut verschweigt, befreundet er sich mit einem verwahrlosten Junkie – was beide Männer bereichert, wegen der Sucht des Jüngeren aber zur harten Probe für den Älteren wird. Ein feinfühliger Debütfilm über Menschen am Rand der Gesellschaft, der ohne Verkitschungen einen hoffnungsvollen Ton anschlägt. – Ab 14.


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Killing Them Softly

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illing Them Softly“ kommt etwa (zu) spät in den deutschen Kinos: Wie toll wäre es gewesen, im Kino zu sitzen und den Stimmen von Obama und McCain aus dem US-Wahlkampf 2008 zu lauschen, während Obama und Romney auf der Zielgeraden um den Einzug ins Weiße Haus 2012 ringen! Auch ohne ein solches originelles Feedback bleibt der dritte Spielfilm von Andrew Dominik ein vorzüglicher Genrefilm mit politischen Untertönen, der im expliziten Gegensatz zum gewählten Titel schmerzhaft intensiv das nur scheinbar coole TarantinoGrinsen über Gewaltdarstellung aus dem Kinosaal vertreibt. Zudem stellt der Film von der Eingangsszene an so einiges, was an USA-Bildern kursiert, polemisch vom Kopf auf die Füße. Zwei nicht besonders helle Kleinkriminelle haben die brillante Idee, ein altes, ungesühntes Verbrechen zu kopieren. Der, der es damals beging, prahlte später mit seiner Cleverness und kam tatsächlich ungeschoren davon. Bei der Wiederholung der Tat würde nun, so die Annahme des Trios, der Verdacht sogleich auf ihn fallen. Dieser Teil des Plans geht auch auf, aber die Kleinkriminellen sehen zu keiner Sekunde des Films so aus, als könnten sie am Ende triumphieren. Weil sie beim Überfall auf eine illegale Glücksspielrunde aber der Mafia in die Suppe gespuckt haben, wird der mit allen Wassern gewaschenen Profi Jackie Cogan mit den „Ermittlungen“ beauftragt. Brad Pitt spielt ihn den Profi als „Cool-Ikone“, und der Film schöpft nicht wenig Komik aus den Dialogen zwischen dem namenlosen Vermittler der Organisation und dem abgebrühten Ermittler. Cogan weiß, wie der Hase läuft: Es müssen unmissverständliche Zeichen gesetzt werden, damit „die Leute da draußen“ kapieren, dass die Welt nicht aus dem Ruder läuft. Kühl

und geschäftsmäßig folgt Cogan den uralten Regeln und reagiert ehrlich verstört auf die unprofessionelle Skrupelhaftigkeit der Organisation. Er weiß: Mit zu viel Bürokratie und Herumgeeiere geht das Land bald vor die Hunde. Cogan ist eben ein Mann mit Prinzipien: So tötet er gerne „softly“, aus der Distanz. Dass Menschen in Todesangst seltsame Dinge tun, vielleicht weinen, um Gnade flehen oder sich vor Angst in die Hosen machen, findet er ekelhaft und würdelos. Zu viel Gefühl. Weil einer der Männer, die jetzt getötet werden müssen, sein Gesicht kennt, lässt Cogan für viel Geld einen alten Kollegen aus New York einfliegen. Doch aus dem einst Zuverlässigen wurde ein Alkoholiker, der erbärmlich vor sich hin schwadroniert und selbst bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt. Also wird Cogan gegen seine Gewohnheiten Überstunden machen müssen. „America is not a country, it’s a business!“, sagt Jackie Cogan kurz vor Schluss, als er in einer Bar die Siegesrede von Barak Obama hört, der das gespaltene Land zu einer „Community“ formen will. Für solche Phrasen hat Cogan nur Hohn und Spott übrig. Er will das Geld, das ihm für die geleistete Arbeit zusteht, doch die Organisation will sein

Honorar im Nachhinein drücken. Es herrscht eben Rezession, da wird auch unter Gangstern um jeden Dollar gefeilscht; das hartnäckige Insistieren Cogans auf dem Gewicht geschlossener Verträge könnte sich als Spiel mit dem Feuer erweisen. Vielleicht hat ein konkurrierender Kollege schon ein günstiges Angebot unterbreitet. Auch hier findet der Film ein markantes Bild: In besseren Tagen flog der Hit-Man in der Business-Class, heutzutage muss Economy reichen. Alles dreht sich in diesem Film um Geld und um Geldgier: Es gibt keine Werte mehr, höchstens noch Regeln. Andrew Dominik, in Neuseeland geboren, in Australien aufgewachsen, entwirft die USA als komplett amoralischen Raum, indem die Exekutive keine Rolle mehr spielt. Dass derjenige, der hier Obamas Vision einer restituierten „Community“ verhöhnt, als einziger klarer Kopf mit klaren Prinzipien ein professioneller Killer ist, vermag ebenso zu verstören wie die Tatsache, dass Brad Pitt diese Rolle spielt. Die Enttäuschung über die erste Amtszeit Obamas scheint mit Händen greifbar. Ebenso unangenehm ist die eigentümliche Mischung aus lakonischen Dialogen und expliziter Gewaltdarstellung, deren Ästhetisierung beklommen ma-

chen kann. Der Film verdoppelt gerade nicht die Philosophie des Killers Cogan, sondern geht im Gegenteil nah ans Getötetwerden heran: Kugeln dringen in Extremzeitlupe in Körper ein, während im Hintergrund ein alter Jazz-Schlager der 1940er-Jahre läuft. Die Filmbilder, die in New Orleans entstanden, präsentieren dabei Nicht-Orte, die man eher in der Dritten Welt vermuten würde als in den USA. So watet man durch ein umfassendes, existenzialistisches Elend und ist froh, wenn Cogan seinen dreckigen Job endlich erledigt hat. „Killing Them Softly“ ist ein Genrefilm mit politischen Ambitionen, dessen radikale AmerikaKritik provoziert. Ulrich Kriest KINOSTART 29.11.2012 Killing Them Softly Killing Them Softly Scope. USA 2012 Produktion Plan B Ent./Annapurna Pic./Chockstone Pic./ Inferno Ent. Produzenten Brad Pitt, Dede Gardner, Anthony Katagas, Steve Schwartz, Paula Mae Schwartz, Matthew Budman, Will French, Stephen Roberts, Douglas Saylor jr., Roger Schwartz Regie Andrew Dominik Buch Andrew Dominik, nach dem Roman „Cogan's Trade“ von George V. Higgins Kamera Greig Fraser Schnitt Brian A. Kates Darsteller Brad Pitt (Jackie Cogan), Scoot McNairy (Frankie), Ben Mendelsohn (Russell), James Gandolfini (Mickey), Vincent Curatola (Johnny Amato), Richard Jenkins (Fahrer), Ray Liotta (Markie Trattman), Trevor Long (Steve Caprio), Max Casella (Barry Caprio), Sam Shepard (Dillon) Länge 97 Min. FSK ab 16; f Verleih Wild Bunch

Nachdem zwei Kleinkriminelle ein Wettbüro der Mafia ausgeraubt haben, wird ein Killer engagiert, der die Ordnung wiederherstellen soll. Der kühl kalkulierende Profi engagiert seinerseits aber einen Kollegen, weil er einen der Gauner kennt und emotionalen Verwicklungen aus dem Weg gehen will. Ein dialoglastiges, in den Mord-Szenen aber hyperbrutales Drama, das vordergründig wie eine Gangstergroteske die Sorgen und Nöte der Killer ausstellt, im Kern aber ein wirtschaftswie gesellschaftskritischer Gangsterfilm mit politischen Ambitionen ist, der das US-amerikanische System einer fundamentalen Kritik unterzieht. – Ab 16.


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