FILM-DIENST 25_2012

Page 1

www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 6. Dezember 2012 · 4,50 Euro · 25/2012

DAS FILM MAGAZIN

Große Erwartungen Alle Kinofilme vom 6.12. und 13.12. Alle Filme im Fernsehen

4 194963 604507

25

thema: Charles Dickens und das Kino Märchenfilme „Oscar“-Ausstellung Die Kunst des „Making of“


FILMDIENST 25/2012, S. 3, 28.11.2012, 15:34, DIEMER

ALLE NEUEN KINOFILME VOM 6.12. UND 13.12.2012 39 35 29 42 32 47 36 44 31 30 45 36 37 34 46 40 40 28 46 38 48 41 33 38 43

7 Psychos 18 comidas – 18 Mahlzeiten Anna Karenina Apparition – Dunkle Erscheinung Back in the Game Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht (Teil 2) Escuela Normal Fenster zum Jenseits (kino schweiz) Die Genialität des Augenblicks Große Erwartungen Happy People – Ein Jahr in der Taiga Jardin de Amapolas La suerte en tus manos Die Libelle und das Nashorn Lola gegen den Rest der Welt Moscova’s Code Temel Die Mühen der Ebene Müll im Garten Eden Ralph reicht’s Silent Hill: Revelation 3D Shut Up And Play The Hits Solang ich lebe – Jab Tak Hai Jaan Die Tochter meines besten Freundes Das Venedig Prinzip Where the Condors fly

Charles Dickens und das Kino 6

Unser gemeinsamer Freund Der Schriftsteller Charles Dickens und das Kino

8

Dickens: Hommage an ein visuelles Genie Von Felicitas Kleiner

10

Die vielen Gesichter des Ebenezer Scrooge Der Renner unter den Dickens-Stoffen: „Eine Weihnachtsgeschichte“ Von Jörg Gerle

14

16

15 18

11

Beile und Stricknadeln Wiedersehen mit „A Tale of two Cities“ (1935) Von Jens Hinrichsen

18 19

12

Schule des Sehens Die Charles-Dickens-Verfilmung von David Lean Von Michael Kohler 20

13

Sonderling, Don Quijote, Märtyrer Rehabilitierung einer umstrittenen Figur: Der Jude Fagin aus „Oliver Twist“ Von Thomas Koebner 22

24

26

INHALT 25/2012 4 27 28 44 48 42

dokumentarfilm Visionäre Das DOK Festival für Dokumentarund Animationsfilm in Leipzig Von Kay Hoffmann veranstaltung Der Mond ist jüdisch Festival des osteuropäischen Films in Cottbus Von Wolfgang Hamdorf Filmfest Oldenburg Von Michael Ranze Filmfestival Braunschweig Von Jens Hinrichsen „Viennale“ Von Michael Ranze 54. Nordische Filmtage Lübeck Von Rolf-Rüdiger Hamacher geschichte Wovon Dornröschen träumt Die opulenten Räume der DEFA-Märchenfilme Von Klaus-Dieter Felsmann aus hollywood Das Warner-Experiment Setzt Warner Bros. die Kontinuität des Studios aufs Spiel? Von Franz Everschor dvd Der Film zum Film Das Genre des „Making of“ und sein Meister, der Regisseur Laurent Bouzereau Von Jörg Gerle ausstellung Ritter mit Schwert Die Ausstellung „And the Oscar Goes to“ Von Josef Nagel magazin personen neu im kino kino schweiz neu auf dvd impressum

NEU AUF DVD 48 Alice im Wunderland 49 Roadcrew

Die Wortgeschöpfe eines Autors nehmen Kinogestalt an: Charles Dickens’ „Eine Weihnachtsgeschichte“, per Motion Capture verwandelt in „Disneys Eine Weihnachtsgeschichte“


Charles Dickens und das Kino

Hommage auf ein „visuelles Genie“

S

ie gehört zu Charles Dickens’ markantesten Kopfgeburten: die seltsame alte Miss Havisham aus seinem Roman „Große Erwartungen“ (1860/61). Bei der Schilderung der ersten Begegnung des Ich-Erzählers Pip lässt Dickens sie wie eine Vision vor den Augen des Lesers erstehen, schildert die Details ihrer Aufmachung, die der einer jungen Braut entspricht, und dann die vielfältigen Anzeichen des Verfalls, die zeigen, dass Miss Havisham ihr Kleid, ihren Brautkranz und ihren Schleier schon seit Jahrzehnten trägt: eine unheimliche Erscheinung, in der ihre Enttäuschung über einen Geliebten, der sie am Hochzeitstag sitzen ließ, mumifiziert ist. Wenn Helena Bonham-Carter in der Neuverfilmung des Romans durch Mike Newell (Kritik in dieser Ausgabe, S. 30) in diese Paraderolle schlüpft, muss sie sich nicht nur an der lebhaft beschriebenen Romanfigur messen lassen, sondern auch an den großen Aktricen, die Miss Havisham vor ihr gespielt haben. Etwa an Martita Hunt in David Leans stilbildender Verfilmung aus dem Jahr 1948, eine imposante vampirische Erscheinung; an Jean Simmons, mit verbittertem Zug um den Mund, in einer dreiteiligen US-Adaption von Kevin Connor (1989); an Anne Bancroft in Alfonso Cuaróns Interpretation von 1997, in der ihre Miss Robinson aus „The Graduate“ nachhallt, schließlich die tragisch-schöne Gillian Anderson in der BBC-Serien-Adaption von 2011. Dickens’ detailversessene Konzeption der Miss Havisham ist für diese Filme gleichermaßen Segen und Herausforderung: Die Fi-

8

film-dienst 25/2012

gur ist im Buch schon wie für die Leinwand gezeichnet, weil etwas Innerliches – ihr Schmerz und ihre Verbitterung – in ihrer Kleidung, ihrer Physis, in ihrem alten Anwesen sichtbare (und damit filmbare) Form angenommen haben. Gleichzeitig setzen Dickens’ genaue Vorgaben einen engen Gestaltungsrahmen für die Schauspielerinnen, was es zum Kunststück macht, dieser Figur gleichzeitig gerecht zu werden und sie interessant neu zu adaptieren. Was BonhamCarter dadurch gelingt, dass sie den Wahnsinn der Miss Havisham mit einem Anflug mädchenhafter Verletzlichkeit kreuzt.

DER KINOERZÄHLER Mike Newells „Große Erwartungen“ ist als Dickens-Verfilmung Teil von etwas, was man fast schon als eigenes Genre bezeichnen kann: Kaum ein Autor hat eine so nachhaltige Anziehungskraft aufs Medium Film ausgeübt wie der 1812 geborene Brite, der in den 1830er-Jahren zum Erfolgsautor und bis zu seinem Tod 1870 zur internationalen Institution avancierte. In der frühen Stummfilmzeit war es noch so, dass das junge Kino vom Glanz des Star-Autors Dickens profitierte, um mit dessen immens populären Stoffen das Publikum anzuziehen; doch schon in den 1920er-Jahren, als Frank Lloyds Adaption von „Oliver Twist“ in den USA startete, lässt es sich nicht mehr so genau sagen, wer mehr Anziehungskraft besaß: der literarische Titelheld oder sein Darsteller, der Kinderstar Jackie Coogan (aus Chaplins „The Kid“). Mittlerweile ist daraus längst eine

Porträt des Autors à la Muppets: Gonzo als Erzählerfigur Dickens in „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“

Symbiose geworden: Das Kino und das Fernsehen zehren weiter von Dickens’ unerschöpf lichem Erzählstoff und seiner Beliebtheit bei Lesern in aller Welt, tragen aber auch dazu bei, sein Werk einem Massenpublikum präsent zu halten. Die besondere Liebe des Kinos zu Dickens hat auch stilistische Gründe. Der Schriftsteller Stefan Zweig hat Dickens’ Schreibstil mit dem Auge einer Kamera verglichen: „(...) sein Blick übersah nichts, fasste wie ein guter Verschluss am fotografischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in einer Bewegung, einer Geste. Nichts entging ihm.“ Einen Text von Dickens zu lesen, ist tatsächlich reines Kopfkino. Aufblende – Schauplatz: London. „Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken (…). Hunde, unkenntlich vor Schmutz, Pferde, nicht viel besser dran, bis an die Scheuklappen mit Kot bespritzt. Fußgänger drängen sich, von der allgemeinen Seuche schlechter Laune angesteckt, mit Regenschirmen aneinander vorbei und glitschen an den Straßenecken aus.“ Diese Schilderung zu Beginn von Dickens’ „Bleak House“ (1852/53) ist kein statisches Stimmungsgemälde, sondern liest sich fast wie die Beschreibung einer Kamerafahrt und eines Wechsels von Einstellungsgrößen: Erst fängt das Kameraauge die düstere Skyline der Großstadt ein, um dann mit den Rußflocken in die Straße hinunter zu sinken, mitten hinein ins hektische Gedränge und ganz nah an die mürrischen Gesichter und die im

Eine Klassikeradaption, die mittlerweile selbst ein Klassiker ist: David Leans „Oliver Twist“ (siehe auch S. 12)


Matsch ausrutschenden Füße der Passanten heran. Schon sind wir mitten drin. Seit den Kindertagen des Kinos haben sich Filmemacher von solchen Beschreibungen fesseln lassen und sie für ihr Medium adaptiert. Dabei wirkt ein früher Stummfilm von 1901, der als Sensationsfund im Frühjahr 2012 vom British Film Institute vorgestellt wurde und als Adaption einer Episode aus Dickens’ „Bleak House“ gilt – es geht um den traurigen Tod eines kranken Straßenjungen –, mit seiner statischen Kameraeinstellung, vor der sich das Sterbedrama wie auf einer Theaterbühne abspielt, sogar wesentlich „unfilmischer“ als Dickens’ Prosa. Seit den Tagen dieser frühen Dickens-Adaption haben die Filmemacher allerdings jede Menge dazu gelernt. Auch von Dickens selbst: Der US-Filmpionier D.W. Griffith berief sich auf den Autor als Impulsgeber für seine Entwicklung des „cross cutting“, der so genannten Konvergenzmontage, in der zwei Handlungsstränge im Dienst der Spannungssteigerung ineinander verzahnt werden, bis sie sich am Ende wirkungsvoll kreuzen. Sergej M. Eisenstein („Panzerkreuzer Potemkin“) stellt in seinem Essay „Dickens, Griffith und wir“ die „Nahaufnahmen“ von Dickens’ Detailschilderungen und die „Montagetechnik“ seiner Texte, etwa „Oliver Twist“, als Inspiration für die Grammatik des Film dar.

FILMISCHE LESARTEN Filmemacher wie Mike Newell benutzen diese Grammatik, um ihre eigenen Lesarten von Dickens’ Werken auf die Leinwand zu brin-

gen. Deren Fülle an Figuren und Handlungsfäden machen es unabdingbar, bei der Adaption zu kürzen, Schwerpunkte zu setzen, Aspekte von Dickens’ erzählerischem Kosmos auszuwählen und andere zu verwerfen. Dickens ist ein Meister des rührenden Melodrams wie der beißenden Karikatur, er beherrscht harsche Sozialkritik und abenteuerliche Kolportage, glänzt durch genaueste Beobachtungen, aber auch durch die Beschreibung des Übersinnlichen, das etwa in Gestalt der Geister seines „Christmas Carol“ (1843) die Lebenden heimsucht. Welche Aspekte in den Vordergrund treten, spiegelt jeweils auch den Geschmack und Zeitgeist der Adaptionen. So war es in der Stummfilmzeit nicht zuletzt der rührende, melodramatische Dickens, den das Kino liebte; die Verfilmungen des Briten David Lean in der Nachkriegszeit spiegeln die Entbehrungen, vor allem aber auch den Optimismus dieser Aufbruchsphase (etwa, wenn Pip am Ende von „Eine geheimnisvolle Erbschaft“ demonstrativ die Vorhänge vom Fenster reißt, um frische Luft und neues Leben in das alte Anwesen zu lassen). Das Musical „Oliver!“ von Carol Reed (1968) durchweht das Flair des „Swinging London“ der 1960er-Jahre; Roman Polanski entdeckte im selben Stoff Parallelen zu seinen eigenen Kindheitserfahrungen im von den Nazis besetzten Polen („Oliver Twist“, 2005). Während sich die großen Serienverfilmungen der BBC ihre Meriten als meist sehr werkgetreue Adaptionen verdienen, die mit großer Ausstattungshingabe und fulminanten Beset-

zungslisten Dickens’ Erzählwelten heraufbeschwören (z.B. „Bleak House“, 2005), versuchen sich andere Filme an „Übersetzungen“ in neue Zusammenhänge, etwa João Botelhos „Harte Zeiten für unsere Zeiten“ (1988), der Dickens’ „Hard Times“ auf portugiesische Verhältnisse überträgt, Richard Donners „Die Geister, die ich rief…“ (1988), der aus dem geizigen Scrooge der Weihnachtsgeschichte einen selbstsüchtigen Yuppie der 1980er-Jahre macht, oder Alfonso Cuaróns „Große Erwartungen“ (1997), der den Stoff in die USA der Gegenwart verlegt und daraus eine Geschichte über die Spannung zwischen Realität, Kunst und Erinnerung spinnt. Die Vitalität von Dickens’ Figuren erweist sich dabei als ebenso unerschöpflich wie die Fantasie der Filmemacher, die sich immer wieder mit ihnen und ihren abenteuerlichen Schicksalsschlägen auseinander setzen, Dickens Mahnung zur sozialen Solidarität als genauso aktuell wie sein humorvoller Blick auf die Schrullen und Eigenheiten seiner Charaktere. Felicitas Kleiner

DickensVerfilmungen fürs Heimkino Charles Dickens Edition 5 DVDs „Nicholas Nickleby“, Großbritannien 1947. Regie: Alberto Cavalcanti. 104 Min. „Eine Weihnachtsgeschichte“, Großbritannien 1951. Regie: Brian Desmond Hurst. 74 Min. „Große Erwartungen“ (TV-Mehrteiler), Großbritannien 1989. Regie: Kevin Connor. 304 Min. Anbieter: StudioCanal

Oliver! Deluxe Edition Großbritannien 1968. Regie: Carol Reed. 140 Min. Anbieter: Sony

Große Erwartungen USA 1997. Regie: Alfonso Cuarón. 107 Min. Anbieter: Sony

Oliver Twist Großbritannien/Frankreich/Tschechien/Italien 2005. Regie: Roman Polanski. 125 Min. Anbieter: Universum

Charles Dickens' David Copperfield (New Edition) 2 DVDs Großbritannien/USA 1999. Regie: Simon Curtis. 181 Min. Anbieter: KSM

Regisseur Roman Polanski spiegelt in „Oliver Twist“ (2005) eigene Kindheitstraumata

film-dienst 25/2012

9


sich in den Dorfbach. Um den beißenden Gestank für die Anwohner erträglicher zu machen, verfallen die Betreiber der Anlage auf die glorreiche Idee, mit Parfum versetztes Wasser zu versprühen. Bisweilen erscheinen viele dieser dokumentarischen Bilder, als könnten sie angesichts der ihnen inhärenten Realsatire nur im Reich Absurdistan gedreht worden sein.

DIE KRITIKEN SEHENSWERT

41 421

Müll im Garten Eden

D

Anna Karenina Ralph reicht’s

29 46

DISKUSSIONSWERT Alice im Wunderland (dvd) Back in the Game Escuela normal Fenster zum Jenseits (kino schweiz) Große Erwartungen Happy People: Ein Jahr in der Taiga Jardin de Amapolas – Mohnblumenwiese Roadcrew (dvd) Shut Up And Play The Hits Das Venedig-Prinzip Where the Condors Fly

48 32 36 44 30 45 36 49 48 38 43

as Dorf Camburnu an der türkischen Schwarzmeerküste war ein idyllischer Flecken Erde. Bis die Regierung in Ankara 1995 beschloss, in den Hügeln oberhalb des Orts eine große Mülldeponie anzulegen, in der die Abfälle der nahen Großstadt Trabzon und der umliegenden Gemeinden entsorgt werden sollten. Zwar regte sich im Dorf frühzeitig Widerstand gegen das Projekt, doch die Anlage wurde unter Umgehung mehrerer Bau- und Umweltschutzbestimmungen dennoch gebaut. Seitdem dringen aus der Deponie ungehindert Giftstoffe ins Grundwasser. Außerdem stinkt es in Camburnu buchstäblich zum Himmel. Ein Öko-Skandal, von dem man kaum etwas mitbekommen hätte, wäre Fatih Akin auf der Suche nach seinen Wurzeln nicht auch in das Dorf gekommen, aus dem seine Vorfahren väterlicherseits stammen. Vor Ort erfuhr er von dem geplanten Großprojekt und entschloss sich, das Ganze von der Planungsphase bis zur Inbetriebnahme mit der Kamera zu begleiten. So entstand über fünf Jahre eine filmische Chronologie der Ereignisse. Man sieht zunächst zaghafte, dann zunehmend erstarkende Proteste der Dorfbewohner, einen Bürgermeister, der vergeblich auf Rechtsbrüche hinweist, und Arbeiter, die ein riesiges Loch ausheben, in dem der Müll verschwinden soll. Schon bevor der erste Mülllaster anrollt, weist die schlichte Plane, mit der die Grube zum Schutz des Erdreichs auskleidet wurde, erste Risse auf; schon nach den ersten Regengüssen – das Dorf liegt in einer der niederschlagsreichsten Regionen der Türkei – kollabiert die neu errichtete Kläranlage: Die Abwässer der Deponie ergießen

Bei aller erkennbaren Sympathie für die Nöte der Anwohner bleibt die Dokumentation über weite Strecken dennoch Stückwerk. Dass Akin, der ja nicht über die Jahre hinweg ständig vor Ort war, dem örtlichen Fotografen einen Crashkurs in Sachen Videokamera gab und viele Bilder des Films von dem Halb-Profi gedreht wurden, fällt dabei nicht sonderlich ins Gewicht; schwerer aber wiegt, dass dem Film jenseits der Chronologie jegliche Dramaturgie abgeht. Akin besucht zwar mal diesen, mal jenen Dorfbewohner in seinem Alltag, jedoch fehlen dem Film markante Protagonisten. Desgleichen erschöpfen sich die Versuche, ein Loblied auf die althergebrachte Traditionen anzustimmen, in (über-)langen Sequenzen von folkloristischen Darbietungen bei Volksfesten. Und welche Gifte da genau der Deponie entströmen, bleibt gänzlich ungeklärt. Auch wenn der Film offenkundig mit dem Herzblut der persönlichen Betroffenheit gedreht wurde, dürfte der Umstand, dass es „Müll im Garten Eden“ sogar aufs Festival nach Cannes schaffte, eher dem Ruf des renommierten Regisseurs denn dem Film selbst geschuldet gewesen sein. Reinhard Lüke KINOSTART 6.12.2012 Müll im Garten Eden Deutschland 2012 Produktion Produzenten Regie und Buch Kamera Musik Schnitt Länge FSK Verleih

corazón international/NDR/Dorje Film Fatih Akin, Klaus Maeck, Alberto Fanni, Flaminio Zadra, Paolo Colombo Fatih Akin Bünyamin Seyrekbasan, Hervé Dieu Alexander Hacke Andrew Bird 97 Min. o.A.; f Pandora

Im türkischen Dorf Camburnu an der Schwarzmeerküste wurde 1995 gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung eine Müllkippe gebaut, die seither die Gegend vergiftet. Die von Sympathie für die Anwohner getragene Dokumentation von Fatih Akin rollt die Historie des Umweltskandals auf, was wie eine Realsatire aus Absurdistan wirkt. Gedreht mit dem Herzblut der persönlichen Betroffenheit, krankt der Film unübersehbar daran, dass er dramaturgisch weitgehend Stückwerk bleibt. – Ab 12.


KINOSTART 6.12.2012 Anna Karenina Anna Karenina Großbritannien 2012 Produktion Working Title Films Produzenten Tim Bevan, Eric Fellner, Paul Webster Regie Joe Wright Buch Tom Stoppard, nach dem Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi Kamera Seamus McGarvey Musik Dario Marianelli Schnitt Melanie Ann Oliver Darsteller Keira Knightley (Anna Karenina), Jude Law (Karenin), Aaron Taylor-Johnson (Wronskij), Kelly MacDonald (Dolly), Matthew MacFadyen (Oblonskij), Domhnall Gleeson (Levin), Ruth Wilson (Prinzessin Betsy), Alicia Vikander (Kitty), Olivia Williams (Gräfin Wronskij), Emily Watson (Gräfin Lydia), Susanne Lothar, Bill Skarsgård Länge 130 Min. FSK ab 12; f Verleih Universal

41 422

Anna Karenina

W

elch ein Einstieg, mit dem man in diese Verfilmung des Romanklassikers gezogen wird: Ein TheaterVorhang öffnet sich, und man befindet sich mitten in einer Inszenierung, die sich in Plansequenzen traumartig von den Brettern der Bühne hinter die Kulissen, dann in den Oberhimmel mit seinen Seilkonstruktionen und wieder zurück in den Besucherraum schwingt. Türen werden geöffnet, neue Räume betreten, und plötzlich steht man mit den Figuren in der Natur oder zwischen völlig anderen Gemäuern. Die Naturgesetze haben Regisseur Joe Wright und Theater-Drehbuchautor Tom Stoppard mit diesem magischen Erzähl-Rhythmus ähnlich außer Kraft gesetzt wie Raúl Ruiz in seiner Proust-Verfilmung „Die wiedergefundene Zeit“ (fd 34 680) – ein hintergründiges Gesellschaftsporträt zeichnen beide Filme. Die Vertreter der feinen Gesellschaft verharren im Stillstand, während die Hauptfiguren wie im Traum durch sie hindurchtanzen oder wie im Albtraum kurz vor dem mentalen Absturz durch sie hindurchstolpern. Es ist eine experimentelle, aufregende Annäherung an Tolstois Roman, die neben der packenden Gefühlsachterbahn um Annas außereheliche Leidenschaft ganz eigene Assoziationen zu wecken

vermag. Dabei entfernt sich der Film immer schneller und immer weiter von seinen artifiziellen Vorgaben, um eine ganz eigene Kraft zu entwickeln. Musical-artig synchronisierte „Stempel-Einlagen“ als Bürokratie-Persiflage oder die Verwandlung einer winterlichen Zugfahrt der Mutter zum Miniatur-Zug des spielenden Sohns weichen wunderschönen Aufnahmen russischer Weizenfelder, die in ihrer Weite und sphärischen Sonnen-Ausleuchtung an Bilder US-amerikanischer Western erinnern. Das ist das Setting, in dem sich die voneinander getrennten Schicksale der Ehebrecherin Anna Karenina und des sensiblen, nach Liebe hungernden Großgrundbesitzers Levin abspielen. Virtuos wird man zum Theaterbesucher und somit zum Teil der russischen Adelsgesellschaft des späten 19. Jahrhunderts gemacht: Hier wird demonstriert, dass man im Leben nicht nur die ganze Zeit schauspielert, sondern selbst immer Beteiligter, Meinungsbilder und Voyeur der Ereignisse um einen herum ist. So oft wird Anna, die untreue Ehefrau des steifen, aber geduldigen Regierungsbeamten Alexej Karenin, mit schockierten, verachtungsvollen Blicken der Frauen abgestraft, dass man automatisch zum moralisch urteilenden Subjekt herangezogen wird. Leo Tolstois erster Satz über die glücklichen Familien, die sich alle gleichen, und die unglücklichen, die jede auf ihre eigene

Weise unglücklich sind, hängt über dem Film wie die Kulissen im „Theaterhimmel“. Treffend beschreibt dieser Satz die gesamte Tragik des Schicksals seiner weiblichen Hauptfigur, deren Unglück wiederum dem ihrer literarischen Leidensgenossinnen gleicht. „Effi Briest“, „Madame Bovary“ und Anna Karenina aus St. Petersburg – sie alle begehen einen Fehler: Sie verlieben sich. Jung verheiratet, brechen sie mit ihren Affären aus einem unsichtbaren Korsett aus, das ihnen die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts angelegt hat. Kleine Flirts und heimliche Affären sind geduldet; eine Scheidung jedoch, ein tatsächlicher Ausbruch aus dem Status quo, das bestrafen die Mitglieder der Standesgesellschaft, die sich selbst ihrem Schicksal der Vernunftehe unterwerfen müssen, mit Schande, dem drohenden Verlust der Kinder als Druckmittel und letztlich dem gesellschaftlichen Fall der Ehebrecherinnen. Die Männer hingegen, die den Frauen den Weg aus der ehelichen Tristesse zu weisen scheinen, sind selbst entweder zu unstet bezüglich ihrer Gefühle oder zu sehr im eigenen Korsett gefangen, um Befreier zu sein. Fantastisch agiert die unheilsame Menage à trois aus Jungschauspieler Aaron Taylor-Johnson, Jude Law als fast kahler, gehörnter Ehemann und Keira Knightley, die Wright erneut so schön und leidend ins Bild setzt wie in ihren früheren gemeinsamen Filmen „Stolz und Vorurteil“ (fd 37 279) und „Ab-

Verfilmung des Romanklassikers von Tolstoi um eine Ehefrau aus der feinen russischen Gesellschaft, die Ehebruch begeht und sich von ihrem Mann trennt, deren leidenschaftliche Liebe aber an der gesellschaftlichen Ächtung scheitert. Die Handlung wird teilweise in einen künstlichen (Theater-)Raum verlegt, der die verhängnisvolle Dynamik des gesellschaftlichen Beobachtens und Beobachtetwerdens suggestiv zum Ausdruck bringt. Bildgewaltig inszeniert und bravourös gespielt, gelingt eine fesselnd neue Lesart des Romans. – Sehenswert ab 14. bitte“ (fd 38 431). Law beweist Mut in dieser gegen den Strich besetzten Rolle als gealterter und duldsamer „Gutmensch“ Karenin, kannte man ihn doch sonst eher in der Rolle des unwiderstehlichen Verführers. Diese Verfilmung von „Anna Karenina“ erzählt nicht nur an der Vorlage entlang vom Schicksal einer Frau (Anna) auf dem gesellschaftlichen Abstiegskurs und von einem Mann (Levin), der den Sinn des Lebens finden wird und seine große Liebe behalten darf. Nein, diese Adaption ist selbst ein eigenständiges Kunstwerk, das trotz seiner mutig modernen, mit klassischen Elementen angereicherten Inszenierung Tolstois Werk gerecht wird. Es ist eine wahre Meisterleistung, wie hier ein Medium die Kraft eines anderen aufnimmt und dessen alte Geschichte in zeitlos großartige Bilderreigen übersetzt. Diese greifen tief und lassen mitleiden – ganz egal, wie oft man die Geschichte von Anna Karenina bereits rezipiert hat. Kathrin Häger film-dienst 25/2012

29


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.