FILM-DIENST 26_2012

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www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 20. Dezember 2012 · 4,50 Euro · 26/2012

Alle Kinofilme vom 20.12. und 27.12. Alle Filme im Fernsehen KINO! Ein Jahresrückblick / Interview: Benh Zeitlin / Porträt: Ellen Burstyn / Aus Hollywood: Filme über Osama bin Laden

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DAS FILM MAGAZIN


ALLE NEUEN KINOFILME VOM 20.12. UND 27.12.2012 44 38 32 33 35 36 46 27 34 36 40 29 31 30 39 42 42 43 38 45 28 41 37

Die Abenteuer des Huck Finn Alexandre Ajas Maniac Beasts of the Southern Wild Breathing Earth – Susumu Shingus Traum Cäsar muss sterben Dag Dead Fucking Last (kino schweiz) Du hast es versprochen End of Watch Evim Sensin – Du bist mein Zuhause Der Hobbit: Eine unerwartete Reise Jesus liebt mich Die Köchin und der Präsident Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger Ludwig II Pitch Perfect Red Dawn Sagrada – das Wunder der Schöpfung Sammys Abenteuer 2 Searching for Sugar Man Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld Die Vampirschwestern Weil ich schöner bin

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kino KINO! Eine Passage durchs Filmjahr 2012 Von Josef Lederle Farbe fürs Kino! Von Jörg Gerle Lob der Zeitdiagnose: „Die Vermissten“ Von Alexandra Wach Faszinierend Unausstehlich: „Young Adult“ Von Michael Kohler Die Scherben eines Mythos: „Skyfall“ Von Stefan Volk Enttarnte Funktionäre: „Barbara“ Von Jens Hinrichsen Ein Abgrund: „We Need to Talk About Kevin“ Von Kathrin Häger „I don’t know what it is, but I wanna try it“: Essen mit den „Avengers“ Von Felicitas Kleiner Love is no peace, love is a battlefield: Ein Film von Miike Takashi Von Rüdiger Suchsland Ein seekranker Tiger: „Life of Pi“ Von Michael Ranze It’s hard to explain: Der Soundtrack zu „Drive“ Von Ulrich Kriest Schlaf schön! Limousinen in „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ Von Esther Buss veranstaltungen Die europäische (Film-)Seele Der Europäische Filmpreis 2012 Von Margret Köhler Filmfestival Thessaloniki Von Marianthi Milona Festival der Filmhochschulen Von Margret Köhler

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veranstaltungen „Du bist jetzt Pop“ Die 46. Hofer Filmtage Von Ulrich Kriest Die Leichtfüßigen und die Mutigen Das Cinefest Hamburg Von Andrea Dittgen Die 36. Duisburger Filmwoche Von Fritz Wolf Filmfestival Mannheim Heidelberg Von Hans Messias aus hollywood Im Schatten der Wahl Zwei Filme in den Mahlsteinen der Politik Von Franz Everschor literatur Licht/Schatten Buch & Ausstellung zu Filmstills aus der Zeit der Weimarer Republik Von Horst Peter Koll interview Am Lagerfeuer Benh Zeitlin & „Beasts of the Southern Wild“ Von Margret Köhler porträt Madame Bovary in West Texas Die Schauspielerin Ellen Burstyn Von Michael Hanisch magazin personen neu im kino impressum kino schweiz neu auf dvd literatur

NEU AUF DVD 47 Das höhere Prinzip 48 Die Sonne, die uns täuscht

INHALT 26/2012

Am Ende eines wilden Kinojahres: „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“


INTERVIEW

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enh Zeitlin erzählt in seinem Regiedebüt „Beasts of the Southern Wild“ (Kritik in dieser Ausgabe) in hypnotischen Bildern von einer dem Untergang geweihten Welt, indem er beim Trip durch den Süden Louisianas ökologische Katastrophen und fantasievolle Fabelwelt verbindet. Nach dem Großen Preis der Jury in Sundance erhielt der Film beim Festival in Cannes 2012 die „Caméra d’Or“. Trotz dieser Auszeichnungen reizt Hollywood den überzeugten „Indie“ aber überhaupt nicht.

Am Lagerfeuer

Weil der Film authentisch sein sollte, haben wir auch die zu langen Dialoge gekürzt. Waren Sie sich bewusst, dass Sie mit der experimentellen narrativen und visuellen Struktur ein ziemliches Risiko eingehen?

Zeitlin: Ich habe gebibbert und gehofft, dass das Publikum mit auf diese Reise geht. Die positiven Reaktionen in Sundance und Cannes beweisen, dass ich einen Nerv getroffen habe. Inwieweit war Louisiana ein Inspiration für Sie?

Wie sollen wir Ihren Film charakterisieren: als Märchen, Traum oder Fabel?

Benh Zeitlin: Ich würde den Begriff „Volksmärchen“ zur Abgrenzung gegenüber den Märchen mit der guten Fee vorschlagen. Die Geschichte handelt von Desastern und von der Überlebenskraft des Menschen, eine Legende, wie man sie gerne am Lagerfeuer erzählt. Die Hauptfigur Hushpuppy, ein Mädchen, das durchs Leben stapft und sich nicht unterkriegen lässt, hat noch nie vor der Kamera gestanden.

Zeitlin: Wir haben uns ungefähr 4.000 Mädchen angeschaut; als Quvenzhané Wallis in den Raum kam, gab es keinen Zweifel mehr. Sie sprühte nur so vor Energie und Emotion. Vielleicht war es der verrückteste Einfall, mit einer Sechsjährigen zu arbeiten, aber sie hat mich und den Film gerettet. Am Set spielte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, die schwierigsten Szenen und holte uns oft auf den Boden zurück, sagte ganz direkt: Blödsinn, so spricht kein Kind. Brav haben wir dann die Sätze umformuliert. Ein Regiedebüt ohne professionelle Schauspieler, ein ungewöhnliches Thema und ein Drehort, der hauptsächlich aus Wasser besteht: Ergreift da nicht jeder potenzielle Geldgeber die Flucht?

Zeitlin: Court 13, eine unabhängige „filmmaking army“ aus New Orleans, die auch schon meine Kurzfilme produziert hat, war mit im Boot, und dann stieß glücklicherweise eine gemeinnützige Produktionsfirma und Stiftung ohne große Erfahrung in Produktion und Finanzierung langer Spielfilme dazu. Wir teilten die gleiche Vision, hatten die gleiche künstlerische Ambition. Jeden Wahnsinn unterstützten sie, ohne ans Box Office zu denken. Einfach toll. Die meisten „Schauspieler“ spielen sich selbst; ich war derjenige, der nach ihren Erfahrungen fragte und einen langen Lernprozess durchmachte. Haben Sie viel improvisiert?

Zeitlin: Bei den Proben haben wir viel improvisiert und das Drehbuch ziemlich verändert.

BENH ZEITLIN ÜBER „BEASTS OF THE SOUTHERN WILD“

Zeitlin: Als ich vor sechs Jahren für meinen Kurzfilm „Glory at Sea“ in Louisiana war, habe ich mich in diese wilde Gegend und die Menschen verliebt. Ich kehrte in meine New Yorker Schuhschachtel zurück und habe meine Sachen gepackt. Mein Film ist so etwas wie ein Liebeslied für Louisiana. Die Bewohner sind mutig und stolz, sie verlassen ihre Heimat nicht. Manchmal glaube ich, sie leben in einer anderen Wirklichkeit. Da spüre ich eine Freiheit wie sonst nirgends in den USA. Die Kultur setzt sich aus dem Kreolischen, dem frankophonen Cajun und dem Brasilianischen zusammen, dazu kommt noch der Einfluss von New Orleans. So eine Koexistenz ist selten. In den 1960er-Jahren gab es noch Hunderte französisch sprechender Familien, die autonom existierten. Doch die Entdeckung des Öls bedeutete dann das Ende. Die Leute wurden verjagt, nur wenige blieben. Eine ganze Kultur wurde vernichtet. Welchen Einfluss hatte die BP-Ölkatastrophe auf Ihre Arbeit?

Zeitlin: Am ersten Drehtag explodierte die Deepwater Horizon Plattform von BP, und wir benötigten eine Erlaubnis für die gesperrte Zone. Hautnah haben wir erlebt, wie sich das Öl ausbreitete und das ökologische System zerstörte – eine weitere Bestätigung für die Realisierung dieses Films. Nicht nur auf der Leinwand verschwindet eine Welt, sondern auch in Wirklichkeit. Politiker spucken große Töne, doch alles geht weiter wie zuvor. Das ist das Schlimme. Wo sehen Sie Ihre Zukunft? Ein erfolgreicher Independent wird schnell von Hollywood vereinnahmt.

Zeitlin: Da sehe ich mich wirklich nicht. „Spider-Man“ & Co. sind nicht mein Ding. Ich tue alles, um den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und würde auch für weniger Geld ein Herzensprojekt durchziehen. Der Erfolg hat unsere Arbeitsbedingungen natürlich verbessert. Hungers sterben werden wir sicherlich nicht. Ich arbeite an meinem nächsten Drehbuch; die Adaption eines fremden Skripts lockt mich überhaupt nicht. Das Gespräch führte Margret Köhler. film-dienst 26/2012

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PORTRÄT

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ls Autorenkino war New Hollywood, jene belebend neue „Welle“ im traditionellen Hollywood-Kino der späten 1960er- sowie der 1970er-Jahre, vor allem ein Kino der Regisseure. An Produzenten denkt man dabei weniger, auch nicht an Schauspieler, und wenn, dann primär an männliche Akteure wie Robert De Niro, Jack Nicholson, Harvey Keitel, Gene Hackman, Al Pacino, Jeff Bridges oder Dustin Hoffman. Bei den Frauen fallen einem vielleicht Karen Black und Goldie Hawn ein, Jodie Foster, Susan Sarandon und Jane Fonda gehören ins Umfeld; doch eine prägte das Bild von New Hollywood: Ellen Burstyn. In jener Zeit ging sie bereits auf die 40 zu. Anderthalb Jahrzehnte lang hatte sie auf der Bühne und im Fernsehen Erfahrungen gesammelt, die sie ab 1971 in New Hollywood anwenden konnte. In diversen Fernsehserien hatte sie als junge Frau ohne sonderliches Profil mitgespielt, und dabei nicht selten lediglich als „Augenweide“ fungiert. In der Jackie-Gleason-Show war sie das Glee Girl, eine Art Ulknudel vom Dienst. Nur einmal interessierte sich damals das Kino für sie, doch ihre Rolle in Vincente Minnellis Komödie „Goodbye, Charlie“ (1964) unterschied sich kaum von der Fernseh-Durchschnittsware. Minnelli übersah ihr Potenzial, das 1971 und 1973/74 dann die jungen Regisseure Peter Bogdanovich, William Friedkin und Martin Scorsese nutzten. Bogdanovich besetzte Ellen Burstyn in „Die letzte Vorstellung“ als Mutter, die die ersten misslichen Liebeserfahrungen ihrer Tochter (Cybill Shepherd) miterlebt und sich an ihre eigenen Erlebnisse im kleinen Nest Anarene erinnert. Eine Kleinstadtidylle, eine wehmütige Erinnerung – wobei der im Flachmann stets präsente Bourbon das Seine tat: Madame Bovary in West Texas. Noch zwei weitere Male spielte Ellen Burstyn in dieser für sie so fruchtbaren Epoche Mütter. Diese Mütterbilder entsprachen allerdings so gar nicht dem Muster des konventionellen US-Kinos. Es waren keine „Muttertiere“, die sich mit Kraft und Leidenschaft für ihre Kinder einsetzen, auch keine allein erziehenden Heldinnen; diese Frauen hatten vielmehr vollauf mit sich selbst zu tun. Selbst die Mutter in William Friedkins „Exorzist“ ist mehr oder weniger hilflos, als der Satan ihre Tochter zu beherrschen beginnt. Sie, die Schauspielerin, die sich nur der Arbeit wegen in Georgetown, an der Ostküste, wie im Exil aufhält, sehnt sich nach der Heimat, dem Westen, wo ihr die Dämonen offenbar weniger zu schaffen machen. Scorseses „Alice lebt hier nicht mehr“ ist bis heute ihr bedeutendster Film. Dies war ihr Projekt, ihre Idee, mit der sie zu Francis Ford Coppola ging, der sie auf Scorsese auf-

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Burstyns bedeutendster Film: Plakatmotiv zu „Alice lebt hier nicht mehr“

Madame Bovary in West Texas DIE SCHAUSPIELERIN ELLEN BURSTYN


PORTRÄT merksam machte. Sie war an der Entwicklung des Drehbuchs beteiligt und sollte ursprünglich sogar als Regisseurin fungieren. Später beschrieb sie, wie es zur ersten, von Warner Bros. arrangierten Begegnung mit Scorsese kam: „Die Tür ging auf, und ein junger, kleiner, nervöser Typ stürzt herein. Ich sagte ihm, wie sehr mir ‚Mean Streets‘ gefallen habe. Aber bei meinem neuen Projekt, sagte ich, geht es nicht um einen jungen Gangster, sondern um Alice, eine Frau. Der Film solle ganz aus der Perspektive dieser Frau erzählt werden. Ich sagte, ich wüsste einfach nicht, ob er, Scorsese, etwas von Frauen versteht. Der Kleine schweigt. Ich denke: Mein Gott, er ist schüchtern, aber du darfst es nicht sein. Ich sage: Verstehen Sie etwas von Frauen, Mr. Scorsese? Und der Kleine piepst: ‚Nein, aber ich würde es gerne lernen. Na, hier habe ich es mit einem klugen Burschen zu tun, dachte ich.“ Martin Scorsese galt bis dahin als ein Regisseur harter, statischer Männerfilme, die in Großstädten, zumeist in New York spielten. „Alice lebt hier nicht mehr“ war das genaue Gegenteil: ein Frauenfilm, ein Road Movie über eine Mutter, die mit ihrem Sohn auf einer Reise von New Mexico über Phoenix und Tucson ins kalifornische Monterey will. Ob sie je dort ankommen, lässt der Film offen. Auf jeden Fall findet die Frau auf der Reise zu sich selbst: weg aus einer trostlosen Ehe, hin zu einer möglichen Karriere als Sängerin. Eine Emanzipationsgeschichte. Ellen Burstyn spielt erneut eine Mutter, die eine eher bizarre Bindung zu ihrem Sohn pflegt und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Mit „Alice lebt hier nicht mehr“ erlebte Ellen Burstyn erstmals in ihrer Laufbahn, wozu Kino in der Lage war – in dieser Intensität hat sie es wohl kein zweites Mal erfahren. Ihre Leistung wurde mit einem „Oscar“ belohnt.

Zuvor war sie für „Die letzte Vorstellung“ und „Der Exorzist“ nominiert. Eine Filmschönheit im herkömmlichen Sinne war die 43-Jährige nicht. „Sie ist eine sperrige, spröde Frau: Sie wirkt stets ein wenig ungelenk und unelegant“, schrieb Daniela Sannwald. Es ist erstaunlich, aber auch bezeichnend, wie es für Burstyn nach ihren Erfolgen weiter ging – zunächst nämlich gar nicht. Stellte sie an künftige Projekte zu hohe Anforderungen? Sie war offenbar nicht bereit, allzu viele Kompromisse einzugehen. „Alice lebt hier nicht mehr“ kam im Januar 1975 in die Kinos; doch Ellen Burstyn blieb für längere Zeit im US-Kino und -Fernsehen unsichtbar: Sie ging zum Broadway, feierte Triumphe in Bernard Slades Beziehungskomödie „Same Time, Next Year“ und ging nach Europa. Alain Resnais besetzte sie in seinem artifiziellen Vexierspiel „Providence“; der Schauspielerin Delphine Seyrig gab sie in deren Dokumentation „Sei schön und halt den Mund“ Auskünfte über das Bild der Frau in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Sie wusste, worüber sie sprach.

„Lessons in Becoming Myself“ Nach vier Jahren Abwesenheit kehrte sie 1978 mit „Nächstes Jahr, selbe Zeit“ zurück, Robert Mulligans Verfilmung des Stücks, mit dem sie auf der Bühne erfolgreich war. Eine weitere „Oscar“-Nominierung war Anerkennung ihrer Arbeit. Anfang der 1980er-Jahre begann für sie der aufregende „Alltag“ einer viel beschäftigten Schauspielerin. Es fehlte nicht an Angeboten, nicht an Erfolgen und Anerkennung. Doch trotz vieler Preise zählte sie nicht zur ersten Reihe der US-Darstellerinnen. Inzwischen war sie Anfang 50 und erhielt in erster Linie weiterhin Mutterrollen. An eine Karriere, wie sie etwa Meryl Streep oder Kathy Bates erlebten, war in ihrem Fall nicht zu denken. Wohl auch deshalb erwei-

terte sie ihren Aktionsradius: Von 1982 bis 1988 und noch einmal von 2000 und 2006 übernahm sie (mit Al Pacino) die künstlerische Leitung des New Yorker Actor’s Studio, wo sie einst studiert und später auch Regie geführt hatte. Zwischen 1982 und 1985 fungierte sie auch als Präsidentin der Schauspielergewerkschaft Actor’s Equity Association. Im Kino beeindruckte sie 1980 als Wunderheilerin in Daniel Petries Drama „Der starke Wille“, im Fernsehen als eine des Mordes angeklagte Schuldirektorin in George Schaefers Justizdrama „Der Jean-Harris-Prozess“ (1981). Fünf Jahre später bekam sie eine eigene Show, in der sie 13 Folgen lang ihr Talent als Komödiantin zeigen konnte. Noch einmal war sie 2000 bis 2001 in der Familienserie „That’s Life“ als gestresste Mutter zu sehen. Begeistert äußerte sie sich über ihre Zusammenarbeit mit dem jungen Regisseur Darren Aronofsky bei „Requiem for a Dream“. Auch hier geht es um eine Mutter-SohnBeziehung, die durch exzessiven Drogenkonsum zerstört wird. Daneben stand sie immer mal wieder auf der Bühne, nicht nur am Broadway, wo sie 1982/83 der umjubelte Star in einer Inszenierung von „84 Charing Cross Road“ war, sondern auch in anderen Städten. Ihre Memoiren erschienen 2006: „Lessons in Becoming Myself“. Am 7. Dezember feierte Ellen Burstyn ihren 80. Geburtstag. Ihre noch längst nicht abgeschlossene Filmografie umfasst mehr als 130 Titel – zuletzt konnte man sie in „W“, Oliver Stones Abrechnung mit George Bush, als First Lady Barbara Bush sehen. Längst hat sie ihr Repertoire um Großmütterrollen erweitert, etwa in Nancy Bardavils Teenagerdrama „Greta“ (2009). Einige interessante Filme wie John Doyles Drama „Main Street“ oder die Mini-Serie „Political Animals“ (in der sie die Mutter von Sigourney Weaver spielt), warten noch auf ihre deutsche Premiere. Michael Hanisch

Ein Alterswerk: „Immer noch Liebe“ USA 2008. Regie: Nicholas Fackler. Mit Ellen Burstyn, Martin Landau, Elizabeth Banks, Adam Scott. Laufzeit: 89 Min. Anbieter (DVD/Blu-Ray): Atlas Film.

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ie ist eine Irritation für den alten Mann (Martin Landau), aber auch der Fixstern, um den sich bald sein Leben dreht: Mary, die von Ellen Burstyn gespielte Dame, die zur Weihnachtszeit in Roberts einsames Leben förmlich hineinschneit, als sie mit ihrer Tochter im Haus gegenüber einzieht. Der Auftakt für eine Romanze, die die beiden Senioren glücklich,

aber auch unsicher wie verliebte Teenager macht. Das Ganze könnte eine zuckersüße RomCom zum Weihnachtsfest sein, wären da nicht die leisen Irritationsmomente, die Regisseur Nicholas Fackler in seine Inszenierung und die beiden Hauptdarsteller in ihrem Spiel von Anfang an in die Erzählung einstreuen und die darauf hindeuten, dass sich hinter Marys und Roberts

Liebesgeschichte mehr verbirgt als nur eine ins Alter verlegte „Boy meets Girl“-Geschichte: Ins Glück des Sich-Findens schleicht sich wie durch die Hintertür die Angst des Verlierens. Es ist vor allem der sensible, nuancenreiche darstellerische Pas de deux von Ellen Burstyn und Martin Landau, der diese kleine Produktion zu einem Erlebnis macht. fd

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DIE KRITIKEN 41 448

SEHENSWERT

Du hast es versprochen

„Beasts of the Southern Wild“

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as Unbehagen nistet sich schon in den ersten Bildern ein, mit denen der zwischen Horror und Thriller angesiedelten Film beginnt: So harmlos das Sujet der beiden in einem winterlichen Wald spielenden, ganz in weiß gekleideten Mädchen auch ist, haftet ihm doch etwas Geisterhaftes an. Als sich die Mädchen wieder auf den Weg nach Hause machen, sind Blutflecken auf ihren Kleidern. Was ist geschehen? Und was hat das mit der Gruselgeschichte zu tun, die eines der Mädchen der Freundin im Keller eines verfallenen Häuschens erzählt, auf das die Kinder im Wald stoßen?

Beasts of the Southern Wild Breathing Earth Caesar muss sterben Der Hobbit: Eine unerwartete Reise Das höhere Prinzip (dvd) Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger Sagrada Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld Weil ich schöner bin

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DISKUSSIONSWERT Du hast es versprochen

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Es ist bravourös, wie souverän die Regisseurin Alex Schmidt auf der Klaviatur gediegenen Schreckens spielt. Von der Unheil verheißenden Musik, die sie wohl dosiert einzusetzen versteht, über die hintersinnige Bildsprache, die mit vielsagend eingesetzten Farben und atmosphärischen Räumen arbeitet, bis zur Schauspielführung orchestriert sie ein deutsches Schauermärchen, dessen Spannung man sich nicht entziehen kann. Dabei bleibt die Geschichte im Rahmen der Genre-Konventionen: Es geht um eine junge Frau, die nach einer vorläufigen Trennung von ihrem untreuen Ehemann unerwartet einer Freundin aus Kindheitstagen begegnet (auf die offensichtlich die Exposition verweist) und spontan beschließt, mit ihr und ihrer eigenen kleinen Tochter einige Ferientage auf jener Nordseeinsel zu verbringen, auf der sie auch schon als Kinder Urlaub machten. Doch die Idylle in dem etwas abseits des nächsten Orts gelegenen Haus wird bald gestört: Dorfbewohner, vor allem eine alte Fischhändlerin (wunderbar hexenhaft: Katharina Thalbach), verhalten sich seltsam, und im und um das Haus scheinen Schatten der Vergangenheit zu lauern. Eine verdrängte Schuld schiebt sich machtvoll in die Gegenwart und wird zur tödlichen Bedrohung. So wenig originell die Story ist: Buch und Regie verstehen es, sie geschickt dramaturgisch aufzubereiten. Ob hinter dem Grauen, das sich in dem Ferienhaus breit macht, nur schlechtes Gewissen,

handfeste menschliche Bosheit oder gar etwas Übersinnliches steckt, wird in der Schwebe gehalten; wenn man nach der ersten Hälfte zu wissen meint, wie der Hase läuft, schlägt der Plot überraschende Haken. Der Film, der Gewaltspitzen sehr dosiert einsetzt, verlässt sich vor allem auf die Spannung, die durch das Mitgefühl des Zuschauers mit den Figuren entsteht. Dass das so gut funktioniert, ist auch den Hauptdarstellerinnen zu verdanken, die die wachsende Angst und das zunehmend komplexere Verhältnis der Frauen zueinander bravourös vermitteln und, flankiert von vortrefflichen Nebendarstellern, den Figuren Herzblut und Lebendigkeit verleihen. Felicitas Kleiner KINOSTART 20.12.2012 Du hast es versprochen Deutschland 2011 Produktion Produzenten Regie Buch Kamera Musik Schnitt Darsteller

Länge Verleih

Wüste Film Ost/Wüste Film/Magnolia Filmprod./ZDF (Das kleine Fernsehspiel) Yildiz Özcan, Stefan Schubert, Ralph Schwingel, Babette Schröder, Nina Bohlmann Alex Schmidt Alex Schmidt, Valentin Mereutza Wedigo von Schultzendorff Marian Lux Andreas Radtke Mina Tander (Hanna Merten), Laura de Boer (Clarissa von Griebnitz), Lina Köhlert (Lea Merten), Mia Kasalo (Maria), Katharina Thalbach (Gabriela), Max Riemelt (Marcus), Clemens Schick (Johannes Merten), Thomas Sarbacher (Tim), Greta Oceana Dethlefs (Hanna mit 9), Alina Sophie Antoniadis (Clariss mit 9), Anna Thalbach (Gabriela in Flashbacks) 102 Min. Falcom Media

Eine junge Frau gönnt sich nach der vorläufigen Trennung von ihrem Mann zusammen mit ihrer kleinen Tochter und einer Freundin aus Kindertagen einen Urlaub auf jener Insel, auf der die Frauen auch schon als kleine Mädchen die Ferien verbrachten. Doch Schatten einer alten Schuld schieben sich unheilvoll in die Gegenwart und werden zur tödlichen Bedrohung. Die an sich simple Genre-Geschichte zwischen Mystery-Thriller und Horror wird durch eine in jeder Hinsicht sorgfältige und stimmungsvolle Inszenierung sowie geschickte dramaturgische Wendungen bis zur letzten Minute spannend umgesetzt. – Ab 16.

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KINOSTART 20.12.2012

KINO

Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

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Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

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er Prolog ist ein „Film im Film“, zusammengesetzt aus Fragmenten des Vergangenen – aus Mythen, magischen Erzählungen und Anspielungen auf Joseph Conrad wie auch auf das Abenteuerfilmgenre des klassischen Hollywood-Kinos. Ein durch das „Herz des dunklen Kontinents“ streifender Entdecker wird darin von einem Krokodil aufgefressen, wobei seine Traurigkeit und Melancholie in das Tier wandern. Das Krokodil taucht im Lauf des Films immer wieder auf: in Gestalt eines Fahrsimulators für Kleinkinder in einem Einkaufszentrum in Lissabon, als Wolkenbild und als süßes Babykrokodil namens Dandy, Mitauslöser eines leidenschaftlichen Liebesdramas. „Tabu“ ist bevölkert von Widergängern, von Objekten und Motiven, die sich in modifizierter Form wiederholen oder in reinkarnierter Form wieder auftauchen – nicht als originäre Präsenz, sondern als Abbild von etwas längst Verlorenem, als Phantom. „Aurora hatte eine Farm in Afrika, am Fuße des Monte Tabu“, heißt es etwa in der Mitte des Films, ein Widergängermotiv aus der Geschichte des westlichen Kinos und seiner Afrika-Bilder (etwa „Jenseits von Afrika“, fd 25 508) wie auch aus der portugiesischen Kolonialvergangenheit. Geschichte und Erinnerung sind in „Tabu“ mit den Bildern des Kinos aufs Engste verwoben. Den berückend schönen schwarz-weißen Film über den Entdecker und das Krokodil sieht eine Frau im Kino: Sie heißt Pilar, ist Rentnerin und eine der drei schrulligen Frauenfiguren, von denen der erste Teil des Films handelt. Pilar ist streng katholisch und außerdem sozial engagiert; aufopfernd kümmert sie sich um ihre Nachbarin Aurora, eine einsame und überkandidelte alte Dame, die ihr letztes Geld im Spielcasino verpulvert. In den letzten Tagen des Jahres drängen sich Reste von Auroras Vergangenheit – und Reste der alten ko-

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lonialen Ordnung – immer hartnäckiger in die (postkoloniale) Gegenwart; die ehemalige Siedlerin fantasiert von einem Krokodil und verdächtigt ihre kapverdische Haushälterin Santa der Hexerei. „Das verlorene Paradies“, hat der portugiesische Regisseur Miguel Gomes diesen ersten Teil seines klug-verspielten Films betitelt – eine ironische Anspielung auf das verlorene Kolonialreich, das erst mit der Nelkenrevolution Mitte der 1970erJahre sein Ende fand. Der Untertitel ist zudem die Umkehrung einer filmhistorischen Vorlage: „Tabu“ heißt auch der letzte Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1931, ebenso zwei geteilt wie sein Nachfolger, nur geht hier das „Paradies“ dem „verlorenen Paradies“ voraus. Die umgekehrte zeitliche Ordnung ist bei Gomes jedoch nur der vordergründige Witz: Tatsächlich verhalten sich die beiden Segmente weniger linear zueinander als dass sie sich gegenseitig reflektieren. Auch wenn der erste Teil scheinbar realitätsnäher verfasst ist, mutet seine

Stimmung weitaus entrückter an. Das Schwarz-Weiß des Anfangs wird fortgesetzt, nur sind die Bilder jetzt glatt, flach und ohne jede Haptik. Eine leichte Hangover-Stimmung liegt über allem; die Figuren wirken starr, ihre verstockten Dialoge verheddern sich mehrfach in rätselhaften Wiederholungsschleifen. Der Übergang zum „Paradies“ vollzieht sich schließlich in einer Shopping Mall mit künstlich angelegtem Dschungel; mit einem langsamen Kameraschwenk öffnet sich der Blick auf ein Dickicht aus Palmen und anderen exotischen Gewächsen – eine Sequenz, die sich wie ein Gewinde in den zweiten Teil des Films schraubt. Venura, einst Auroras feuriger Liebhaber, inzwischen Bewohner eines Altersheims, ist der Erzähler dieses nun folgenden Films, der die Vergangenheit Auroras in einer fiktiven ehemaligen Kolonie Portugals rekapituliert. Gomes inszeniert ihn nicht als klassische Rückblende, sondern als eine Art filmische Erinnerung – es könnten Pilars innere Bilder sein, die

Tabu Schwarz-weiß. Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich 2012 Produktion O Som e a Fúria/Komplizen Film/Gullane Entretenimento/Shellac Sud Produzenten Luís Urbano, Sandro Aguilar, Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade, Fabiano Gullane, Caio Gullane, Thomas Ordonneau Regie Miguel Gomes Buch Miguel Gomes,Mariana Ricardo Kamera Rui Poças Schnitt Telmo Churro, Miguel Gomes Darsteller Teresa Madruga (Pilar), Laura Soveral (alte Aurora), Ana Moreira (junge Aurora), Henrique Espirito Santo (alter Ventura), Carloto Cotta (junger Ventura), Isabel Cardoso (Santa), Ivo Müller (Auroras Mann), Manuel Mesquita (Mário) Länge 118 Min. FSK o.A.; f Verleih Real Fiction

Eine reizvoll vertrackte Revision von Film- und portugiesischer Kolonialgeschichte: Nach einer Einleitung in zwei Kapitel unterteilt, erzählt der Film zunächst eine im gegenwärtigen Portugal angesiedelte Geschichte um eine gläubige Seniorin, die sich um ihre exzentrische Nachbarin kümmert, bevor er im zweiten Teil in die Vergangenheit dieser Nachbarin (oder die Imagination davon) eintaucht, die in jungen Jahren eine melodramatische Liebesgeschichte in einer imaginären afrikanischen Kolonie erlebt. Die beiden sich spiegelnden Teile kreisen spielerisch-melancholisch um die Vergegenwärtigung von Verlorenem, um unerfüllte Glückssehnsüchte und kolonialistische Projektionen, wobei geschickt mit wiederkehrenden Bildmotiven sowie Anleihen bei der Filmgeschichte gearbeitet wird. Ein fesselnder Film an der Grenze von klassischer Narration und Experimentalfilm. – Sehenswert ab 16.


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