FILM-DIENST 3_2013

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www.film-dienst.de · 66. Jahrgang · 31. Januar 2013 · 4,50 Euro · 3/2013

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magazin kino Ohne Netz Arbeitsweisen eines „anstößigen“ Künstlers: Ulrich Seidls „Paradies“Trilogie Von Stefan Grissemann ausland Alles andere als eine Marginalie Ein „Berlinale“-Höhepunkt: Die Reihe „NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema“ Von Ulrike Mattern geschichte Filmhistorie – Zeitgeschichte 50 Jahre Deutsche Kinemathek Berlin: Sammlungen, Bücher, Ausstellungen Von Volker Baer porträt Eine Naturgewalt Zum 100. Geburtstag von Gert Fröbe Von Rainer Heinz geschichte Geordnetes Chaos Ein Meister der Komödie: Der Regisseur Frank Tashlin Von Roland Mörchen aus hollywood Das Dilemma mit den „Oscars“ Wer steckt hinter der anonymen Filmakademie? Von Franz Everschor Musik „Nach dem happy end, da muss man geh'n...“ Musik liegt in der Luft (II): Die Weimarer Zeit im Spiegel der Tonfilmoperette Von Judith Prokasky personen neu im kino kino schweiz neu auf dvd impressum literatur

NEU AUF DVD 46 Küss mich – Kyss Mig 45 Lawless 46 Der Übergang – Rites of Passage 47 48

Der lange Weg nach Cardiff Zwei Filme von Dominik Graf und Michael Althen: „Das Wispern im Berg der Dinge“ & „München – Geheimnisse einer Stadt“


SEHENSWERT Die Besucher Vergiss mein nicht Zero Dark Thirty

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Karaoglan

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chte Helden sind aus Papier: 1962 begann der türkische Comic-Zeichner Suat Yalaz in der Tageszeitung „Aslam“, seinen Karaoglan durch das mittelalterliche Eurasien zu schicken, um die Zivilisation diesseits des Altai-Gebirges vor den einfallenden Mongolen zu retten. Seitdem machte die Comic-Figur in sieben Spielfilmen und einer Fernsehserie Karriere; 2006 widmete die türkische Post der Robin Hood ähnlichen Abenteuergestalt sogar eine Briefmarke. Der erfahrene Fernsehregisseur Kudret Sabanci verlegte den Beginn der Geschichte ins ostanatolische Malatya, von wo aus sich Karaoglan und seine Getreuen bis ins heute zu Georgien gehörende Gori durchkämpfen.

DIE KRITIKEN

Sabanci kündigte seine filmische Neuauflage des Stoffs als „Reboot“ an, womit er Vergleichen mit den zwischen 1965 und 1972 entstandenen Kultfilmen vorbaute, mit denen der Schauspieler Kartal Tibet zu einem der ersten modernen Popstars des türkischen Kinos wurde. Er übernimmt die für den Erwachsenen-Comic typische Mischung aus Action, historischen Motiven und Erotik. Sein Karaoglan – blaue Augen, wallendes schwarzes Haar – findet sich gleich zu Beginn des Films zwischen zwei Frauen wieder, die ihn gleichermaßen begehren: die zurückhaltende Prinzessin Cise und die selbstbewusste Taschendiebin Bayirgülü. Dabei gerät er stellenweise in einen Zickenkrieg, der ihn nicht davon abhält, seinem Erzfeind Camuka nachzustellen, einem Banditenkönig, der mit abgeschmackten Intrigen nach der Macht greift.

„Zero Dark Thirty“

DISKUSSIONSWERT Balkan Melodie Inuk Lawless (neu auf dvd)

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Es ist kaum möglich, diesen Machtspielen aus Treue, Lüge und Verrat zu folgen. Aber darum geht es wohl auch nicht. Denn was sich da inmitten der faszinierenden, wenn auch teilanimierten, vorderasiatischen Bergwelt zwischen Selcuken, Uiguren und Mongolen abspielt, ist letztlich nur Kulisse eines Groschenheft-Plots – freilich mit Stil. Sabanci setzt den Trivialcharakter des Comic-Vorbilds

zwischen B-Movie, Pferdeoper und monumental angelegten Schlachtenszenen um, choreografiert seine zwischen Tracht (die Guten) und Gothic Punk (die Bösen) kostümierten Reiterscharen geschickt in Western-ähnlicher Landschaft. Dabei vergisst er nicht, seinem Helden mit der grazilen Prinzessin Cise und der verführerischen Bayirgülü, die den Sex Appeal einer Lara Croft mit anatolischer Folklore verbinden soll, zwei zwar eifersüchtige, aber ungemein selbstbewusste und kampfbewehrte moderne Frauenfiguren zur Seite zu stellen. So wird Karaoglan, ganz männlich, zum zwischen Eros und hehrer Aufgabe hin- und hergerissenen Helden, der seine Mission freilich mit Bravour meistert. Am Ende liegt Camuka, Fiesling mit Irokesenschnitt und Darth-Vader-Stimme, am Boden, schlägt aber seine Augen in der letzten Szene wieder auf – das Böse stirbt nicht. Ein visuell beeindruckendes Mittelalter-FantasySpektakel, das den Trivialcharakter der gedruckten Vorlage unterhaltsam umsetzt, seinen Humor dabei mitunter aus den Untiefen herrenwitziger Schenkelklopfer fischt, in Kostümdesign, Massenszenen und Filmtierschule aber in der oberen Liga mitspielt – solide Unterhaltung im Eastern-Format. Aber eben auch nicht viel mehr. Bernd Buder KINOSTART 10.1.2013 Karaoglan Karaoglan Türkei 2012 Produktion Produzenten Regie Buch Kamera Musik Schnitt Darsteller

Länge FSK Verleih

TMC Film Erol Avci Kudret Sabanci Kudret Sabanci, Melek Öztürk, Rana Mamatlioglu Gökhan Atilmis, Türksoy Gölebeyi Tamer Çiray Oguz Çelik, Serhat Solmaz Volkan Keskin (Karaoglan), Müge Boz (Bayirgülü), Hasan Yalnizoglu (Camoka), Özlem Yilmaz (Prinzessin Çise), Hakan Karahan (Baybora), Gaffur Uzuner (Çalik), Tuncay Gençkalan (Balaban), Macit Sonkan (Berkehan), Suavi Eren (Koca Uruz) 121 Min. ab 12; f Pera-Film

Ein als „Reboot“ bezeichneter Abenteuerfilm um einen Robin Hood ähnlichen türkischen Helden, der bereits 1962 als Comic-Held erschaffen wurde und seitdem auch als Filmund Serien-Star reüssierte. Nun steht der tapfere Titelheld nicht nur zwischen zwei schönen und selbstbewussten Frauen, sondern muss auch einen fiesen Banditenanführer daran hindern, die Macht an sich zu reißen. Durchaus mit Stil und soliden Schauwerten inszeniert, entwickelt der Film die schlicht-triviale Handlung als anspruchslos unterhaltendes Mittelalter-Fantasy-Spektakel. – Ab 14.

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Movie 43

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as Filmplakat gibt ganz schön an: „The biggest cast ever assembled for the most outrageous comedy ever made.“ Damit ist auch das Anliegen des Films überschrieben. Die zahlreichen Regisseure des Episodenfilms, zu denen auch Peter Farrelly und Brett Ratner zählen, überschreiten ganz bewusst die Grenzen des guten Geschmacks, in einigen Fällen sogar des sittlichen Empfindens. Dabei schockieren die Macher mit vulgärer Sprache und abstoßenden Bildern, in einem Fall sogar mit den praktischen Folgen einer sexuellen Aberration, über die nicht einmal das Privatfernsehen sich zu berichten trauen würde, und weil so viele bekannte Stars von Kate Winslet über Hugh Jackman und Halle Berry bis Richard Gere mitspielen, glauben sie, damit durchzukommen. Eine Fehlkalkulation, denn ein Großteil des Witzes entsteht dadurch, Privates öffentlich zu machen und auf diese Weise der Scham ihre Bedeutung zu nehmen. Dies wird besonders in der Szene deutlich, in der Emma Stone und Kieran Kulkin ihren „Dirty Talk“ versehentlich über die Lautsprecher eines Supermarkts austragen. Doch über Sex zu sprechen und die damit verbundenen Körperteile fantasievoll zu benennen, zeugt nur von der Verklemmtheit des Konzepts. Das Brechen von Bildtabus ist per se noch nicht komisch. „Movie 43“ besteht, durch eine zu vernachlässigende Rahmenhandlung lose verbunden, aus elf Episoden und einigen nachgestellten Werbe-Clips. Auffällig: Drei der Episoden beschäftigen sich mit Blind Dates, eigentlich eine moderne und inzwischen selbstverständliche Art des Kennenlernens, die für die Autoren aber besonders komisches Konfliktpotenztial zu bergen scheint. So treffen sich in der ersten Episode Kate Winslet und Hugh Jackman als begehrter Junggeselle. „Warum ist er noch immer Single?“, fragte kurz zuvor die

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Schlagzeile eines „People“-Magazins. Die Antwort baumelt fortan an Jackmans Kehlkopf, und die Selbstverständlichkeit, mit der die Umgebung diese körperliche Anomalie ignoriert, ist auch schon der ganze Witz. Doch Vorsicht: Dieses Bild ist von einer Aggressivität, die als Eignungstest für den ganzen Film gelten kann: Wer die erste Episode überstanden hat, lässt sich fortan nicht mehr so leicht schockieren. Etwas leichter, aber auch pubertärer ist das Speed Dating der Superhelden, in dem Robin bei seinen Gesprächen mit Supergirl oder Lois Lane, dem Schwarm von Superman, immer wieder durch Batman gestört wird. Mut zur Hässlichkeit beweist Halle Berry, die ihr Blind Date statt eines normalen Gesprächs zum Spiel „Wahrheit oder Pflicht“ verführt und dabei die Pflicht besonders ernst nimmt – bis hin zur Brustvergrößerung. Manchmal entsteht der beabsichtigte Witz nur dadurch, dass eine an sich normale Gegebenheit ins Unermessliche aufgebauscht oder in ihr Gegenteil verkehrt wird. So will ein 13-Jähriger den Krankenwagen rufen, weil seine Freundin ihre erste Regel bekommt und das Wohnzimmer mit Blut verschmiert. Erst in den letzten beiden Episoden gewinnt „Movie 43“ so etwas wie surreal-absurde Qualität,

über die man ohne Reue lachen kann. Im Jahr 1959 verliert eine eigentlich überlegene, schwarze Basketball-Mannschaft jegliches Selbstvertrauen, weil sie gegen Weiße spielen muss. Ein Hauch von Chuck Jones und Tex Avery weht über dem Zeichentrickkater, der auf Elizabeth Banks eifersüchtig ist und ihr in „Tom und Jerry“-Manier zusetzt. Doch da ist es schon längst zu spät: So viel derber Humor geht auf keine Kuhhaut. Michael Ranze KINOSTART 24.1.2013 Movie 43 Movie 43 USA 2012 Produktion Produzenten

Regie

Buch

Kamera Musik Schnitt

Darsteller

Länge FSK Verleih

Relativity Media/Virgin/GreeneStreet Films/ Wessler Ent./Witness Protection Films Peter Farrelly, Ryan Kavanaugh, John Penotti, Charles B. Wessler, Marc Ambrose, Tom Gormican, Ken Halsband, John Brooks Klingenbeck Elizabeth Banks, Steven Brill, Steve Carr, Rusty Cundieff, James Duffy, Griffin Dunne, Peter Farrelly, James Gunn, Bob Odenkirk, Brett Ratner, Jonathan van Tulleken Steve Baker, Will Carlough, Patrick Forsberg, Matthew Alec Portenoy, Greg Pritikin, Rocky Russo, Jeremy Sosenko, Elizabeth Wright Shapiro Frank G. DeMarco, Steve Gainer, William Rexer, Tim Suhrstedt Billy Goodrum Debra Chiate, Jon Corn, Patrick J. Don Vito, James Duffy, Craig Herring, Jason Macdonald, Sam Seig, Cara Silverman, Sandy S. Solowitz, Håkan Wärn, Paul Zucker Hugh Jackman, Emma Stone, Elizabeth Banks, Chloë Grace Moretz, Gerald Butler, Kate Winslet, Kristen Bell, Naomi Watts, Anna Faris, Richard Gere, Christopher MintzPlasse, Halle Berry, Josh Duhamel, Chris Pratt, Uma Thurman, Justin Long, Patrick Warburton, Kieran Culkin, Liev Schreiber, Seann William Scott, Jason Sudeikis, Leslie Bibb, Kate Bosworth 94 Min. ab 16; f Constantin

Drei Schüler begeben sich im Internet auf die Suche nach dem abschreckendsten Film. Daraus entwickelt sich eine vulgäre, mitunter abstoßende Komödie aus elf durch die Rahmenhandlung lose verknüpften Episoden, in denen es vor allem darum geht, die Grenzen des guten Geschmacks auszuloten. Der Witz soll daraus entstehen, dass Privates öffentlich und auf diese Weise Scham lächerlich gemacht wird. Doch der gezielte Bruch von Bildertabus allein ist noch nicht komisch und zeugt nur von der Verklemmtheit des Konzepts. Auch die bemerkenswerte Anzahl namhafter Hollywood-Stars macht den derben Humor nicht goutierbarer. – Ab 16.

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Zero Dark Thirty

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m Anfang steht das Menetekel von „9/11“, mit dem Kathryn Bigelow ihren Film „Zero Dark Thirty“ eröffnet. Die Leinwand bleibt schwarz, aber man hört die Stimmen der Opfer des Terroranschlags aus der Luft. Stimmen voller Angst und Verzweiflung, Menschen, wissend, dass sie diesen Morgen nicht überleben werden. Als Präsident Bush damals unmittelbar nach den Anschlägen vor die Fernsehkameras trat, versprach er der traumatisierten Nation: „We’ll hunt them down!“ So, als sei das Ganze ein alter Indianerfilm, ein böser Traum. Aber nichts anderes als die geduldige, durch Rückschläge nicht zu erschütternde Einlösung dieses Versprechens, die Jagd auf Osama Bin Laden bis hin zur Nacht seiner Exekution durch eine Spezialeinheit in Pakistan, zeigt Bigelows Film – und ist doch zugleich das verstörende Psychogramm einer jungen CIA-Agentin, die von dieser Jagd geradezu besessen scheint. Die Energie, die vom traumatischen Vorstellungskomplex „9/11“ ausgeht, reicht für eine lange, mühsame, aber ausdauernde Jagd, die gleichwohl gegen die wechselnden Moden


KINO KINOSTART 31.1.2013 Zero Dark Thirty Zero Dark Thirty USA 2012 Produktion Produzenten Regie Buch Kamera Musik Schnitt Darsteller

Länge Verleih

und Opportunismen der Politik behauptet werden muss. Und gegen die kontrapunktisch eingesetzten Terroranschläge von AlQaida, die die Ermittlungsarbeiten strukturieren und vor allem eine ständige, nie nachlassende Gefahr beschwören, die von diesem Terrornetzwerk ausgeht: Madrid, London, Bali, Islamabad. Nachdem einige Freunde und Mitarbeiter Mayas bei einem aberwitzig in Szene gesetzten und ebenso aberwitzig naiv geplanten Kontakt mit einem Informanten Opfer eines Selbstmordanschlags wurden, wird die ganze Angelegenheit fast schon zu einem persönlichen Feldzug, wenn Maya äußert, es sei vielleicht Schicksal, dass sie dem Anschlag entging, weil sie „die Sache“ zu Ende bringen solle. Doch solch sentimentale Momente gönnt sich der Film nur selten. Zumeist zeigt Kathryn Bigelow die Arbeit der Geheimdienste unterkühlt als hoch professionell: Man überwacht, sammelt Daten und Informationen, wertet aus, stellt Zusammenhänge her, geht Spuren nach, bringt Ordnung in ein Chaos von Fakten. Und sie zeigt auch: Die CIA fol-

tert, um an Informationen zu gelangen, und tötet als Konsequenz dieser Informationen; in verschiedenen Ländern unterhält man Geheimgefängnisse, in denen man Menschen verschwinden lassen kann. Vieles, was in den Jahren des „War against Terror“ zum Skandal wurde und vielleicht noch werden wird, wenn es denn überhaupt an die Öffentlichkeit kam oder kommt, wird von Kathryn Bigelow nüchtern registriert. Menschenrechte sind in Kriegszeiten etwas Relatives und Verhandelbares. Man kann diese Nüchternheit des Films als Indifferenz kritisieren. Die Filmemacherin sagt von sich, sie habe keine Agenda, nur ihre Recherche. Tritt der Film deshalb mit journalistischem Anspruch auf? In den USA wird „Zero Dark Thirty“ heftig kritisiert (vgl. S. 3); man wirft dem Film vor, er legitimiere Folter, weil die Informationen, die durch Folter geschöpft worden seien, letztlich zur Liquidation Bin Ladens geführt hätten. Tatsächlich führten Informationen, die im Chaos der ersten Tage nach „9/11“ untergingen, zum Versteck von Bin Laden. Also: Warum wird in „Zero Dark Thirty“ so ausgiebig

gefoltert? Weil in der Realität ausgiebig gefoltert wurde? Noch interessanter als die Beantwortung dieser Frage ist die Figur der manischen Jägerin Maya, gespielt von Jessica Chastain, die in ihrem Habitus fast an eine mythische Westernfigur erinnert (oder an Kapitän Ahab!) und die, als die Jagd beendet ist, fassungslos ins Leere blickt. Man kann diese Schlusspointe individualpsychologisch interpretieren – oder politisch. Ersteres scheint ein wenig vermessen bei einer Figur, die keine Geschichte (und eigentlich auch keine Gegenwart) hat; letzteres scheint eine interessante Gewichtung: Denn die Fixierung auf einen allmächtigen Bösewicht, der als Gegenüber fungiert, entspricht längst nicht mehr der nicht-hierarchischen, rhizomartigen Vernetzung des globalen Terrors. In diesem Sinne wäre der groß angelegte Showdown von Abbottabad im Mai 2011 im dritten Abschnitt des Films eine verquere militaristische Farce, in der ein Spezialkommando mit großer Professionalität eine heikle Mission erfolgreich durchführt – und letztlich doch an der Struktur des in-

Annapurna Pic./Columbia Pic./First Light Mark Boal, Kathryn Bigelow, Megan Ellison, Matthew Budman, Jonathan Leven Kathryn Bigelow Mark Boal Greig Fraser Alexandre Desplat William Goldenberg Dylan Tichenor Jason Clarke (Dan), Reda Kateb (Ammar), Jessica Chastain (Maya), Kyle Chandler (Joseph Bradley), Jennifer Ehle (Jessica), Harold Perrineau (Jack), Jeremy Strong (Thomas) 157 Min. Universal

Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 sucht die CIA fieberhaft nach Osama Bin Laden, dem Wortführer der islamistischen Terrorgruppe Al Qaida. Unter den Ermittlern ist eine junge CIA-Agentin, für die die Jagd nach Bin Laden zur persönlichen Mission wird. Der Film schildert kühl die akribische Arbeit des Geheimdienstes und lässt dabei auch den Einsatz von Folter als Mittel der Informationsbeschaffung nicht aus. So nüchtern-objektiv die Erzählhaltung dabei auch ist, ergibt sich doch mehr als eine schlichte Chronologie einer Jagd: ein beklemmendes Psychogramm der Hauptfigur, für die die Suche nach Bin Laden zur Besessenheit wird, während ihr politischer Sinn äußerst dubios erscheint, sowie ein Psychogramm der US-Gesellschaft im „Krieg gegen den Terror“, in dem ethische Prinzipien obsolet werden. – Sehenswert ab 16. ternationalen Terrors nichts ändert. „Zero Dark Thirty“ zeigt auch diesen ernüchternden Befund, der keinerlei Pathos oder Genugtuung zulässt, sondern eigentlich ein Scheitern aus politischer Kurzsichtigkeit konstatiert. So ist der Film ist ein temporeicher, hoch spannender, fast dokumentarischer, aber vor allem höchst unbequemer Polit-Thriller voller unangenehmer Wahrheiten und politischer Ambivalenzen, dessen Einschätzung und Gewichtung letztlich dem einzelnen Zuschauer und seiner politischen Haltung überlassen bleibt. Diese fehlende Eindeutigkeit mag man bedauern, aber zugleich ist diese Offenheit ein Indiz dafür, dass die Regisseurin zumindest in einem Punkt irrt, nämlich wenn sie behauptet, ihr Film sei unpolitisch. Das Gegenteil ist der Fall. Ulrich Kriest film-dienst 3/2013

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KINO

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Ohne Netz ARBEITSWEISEN EINES „ANSTÖSSIGEN“ KÜNSTLERS: ULRICH SEIDLS „PARADIES“-TRILOGIE

npassungsfähigkeit gehört nicht zu Ulrich Seidls augenfälligen Stärken. Von billigem Konsens hält er nichts. Für seine Inszenierungen will er nicht geliebt werden, und die Geschichten, die er erzählt, wirken bisweilen derart deprimierend, dass man (schon aus Selbstschutz) erstens ihre Wirklichkeitsnähe und zweitens den untergründigen Witz aus den Augen verlieren könnte, der seine Filme prägt. Seidls Forschungsarbeiten dringen in die Randzonen des Sozialen vor, setzen sich wie besessen mit den Verdrängten und Verachteten auseinander und mit gerade jenen Alltagsdingen, deren Existenz man zwar ahnt, deren Einzelheiten man aber lieber so genau nicht kennen will. So legt Seidl in seinen Produktionen unablässig den Finger in die Wunde, berichtet ungerührt von sexueller Ausnutzung, religiösem Wahn und den verzweifelten Manövern von Menschen im Zustand des Verlusts der letzten Hoffnung. Es versteht sich von selbst, dass ihm diese Neigung zur Grenzübertretung nicht nur Freunde beschert hat. Der Vorwurf, er ar-

„Seidls Filme sind problematisch; das ist ihre Qualität.“

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Symmetrische Tableaus als „Andachtsbilder“, die zur eigenen Interpretation herausfordern: „Paradies: Glaube“

Lachhaften sucht und das Groteske im Tragischen. Vielleicht ist er am besten als eine Art amoralischer Gesellschaftskritiker zu verstehen: als einer, der in einer einzigen Einstellung ganze Sozialgewaltsysteme (Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, autoritäre Erziehung) zu registrieren und kurz zu fassen weiß, ohne dabei selbst Wertungen vorzunehmen. Die attestierte Kälte vieler seiner Inszenierungen ergibt sich aus Seidls Weigerung, die eigene moralische Position ins Spiel zu bringen, dem Betrachter die Interpretationsarbeit zu ersparen. Man kann das Zynismus nennen – oder aber: Dialektik. Die Menschen sind in Seidls Filmen oft wie versteinert, sie verharren in Schockstarre oder Teilnahmslosigkeit vor der Autorität, der Aufzeichnungsgewalt des Kinos. Seidls präzise visuelle Ordnungen, in denen auch Individuen zu Kompositionselementen im Raum vor der Kamera werden können, stellen „die Wirklichkeit“ in Frage: Das Dokumentarische verliert mit Seidls präpariertem Kino eine Unschuld, die, kühl betrachtet, immer schon Konstruktion und Illusion war. In den streng symmetrischen Tableaus, die der Regisseur arrangiert, gefriert die Welt, weicht das Leben kurzfristig aus Körpern und Erzählungen: im Rigor mortis des Bewegungsbildes. „Es ist wie ein Foto und doch kein Foto“, sagt Seidl: „Denn die Menschen atmen darin. Für mich ist dies ein magischer Moment.“ Er wolle „Melodien schaffen mit Bildern ähnlichen Inhalts“, sagt er noch, aber er verschweigt, dass diese Melodien längst zur Totenmesse angewachsen sind: zum Requiem für eine untergehende Welt. Mit den Stoffen, die er aufgreift, fordert Seidl heraus: sich selbst so sehr wie sein Publikum. Darstellungs- und Geschmacksnormen lässt Ulrich Seidl nicht gelten. Ver-

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letzende Bilder interessieren ihn – schon weil die Wunden, die sie schlagen, auf die sozialen und ästhetischen Verdrängungen, auf die Tabus schließen lassen, die es in der Kunst zu bearbeiten gilt. Seidls kreatives Zentrum ist die Erfahrung der Isolation, seine Aufmerksamkeit gilt dem Marginalisierten, dem Abweichenden und Irregulären. In der „Paradies“-Trilogie fasst er seine Obsessionen noch einmal episch und aus weiblicher Perspektive neu: Es geht um Kulturkollisionen, um Liebessuche und religiösen Kleinkrieg. Seine Filme nimmt Seidl persönlich, versteht sich ausdrücklich als Teil der von ihm heraufbeschworenen Bildwelten. Von den Abgründen, die er beschreibt, distanziert er sich nicht. Man kann mit Ulrich Seidl nicht anders arbeiten als unter verschärften Bedingungen: Er häuft, notorisch unzufrieden mit den Ergebnissen, während monatelanger Drehphasen Filmmaterial an, übt Druck aus, bezweifelt seine eigene Arbeit ebenso wie die seiner Mitarbeiter. Sich als Cutter auf einen SeidlFilm einzulassen, sagt Christof Schertenleib, der an der Montage aller bisherigen Kinoproduktionen Seidls seit 1990 maßgeblich beteiligt war, sei „von den Dreharbeiten bis zum Schnitt ziemlich einzigartig. Wenn ich mich auf ein Seidl-Projekt einlasse, weiß ich mittlerweile, dass die Arbeit zu mindestens zehn Prozent, schlimmstenfalls zu 30 Prozent aus Leiden und Durststrecken bestehen wird. Bestimmte Dinge lassen sich für Ulrich anders nicht lösen als durch scheinbare Leerläufe und das Warten auf den ,richtigen Zeitpunkt’, bis zu einer manchmal schmerzhaften Verdichtung, die zu dem von ihm gewünschten Resultat führt.“ Seidl brauche „die Sicherheit, dass das Material wirklich bis auf den letzten Zentimeter untersucht worden ist“.

Paradies: Touristische wie auch religiöse Bedeutung „Paradies“ ist als österreichisch-deutsch-französische Kooperation entstanden, als Seidls erste echte europäische Co-Produktion – mit einem Gesamtbudget von 4,6 Mio. Euro. Nach Ende der Dreharbeiten kam es zu Komplikationen, die Filmemacher ebenso wie Fördergeber und Produktionspartner vor ein schwerwiegendes Problem stellen. Was ursprünglich als ein Film geplant war, in dem alle drei Geschichten in klassischer SeidlManier parallel geführt werden sollten, weitete sich zur Trilogie aus. „Nach ewig langen Schnittversuchen hat sich herausgestellt, dass die vernetzte Fassung gute fünfeinhalb Stunden in Anspruch nahm“, erklärt Seidl. „Hätten wir uns auch in diesem Fall auf verträglichere zweieinhalb Stunden Laufzeit heruntergearbeitet, dann hätten alle Geschichten an Substanz und Inhalt verloren. Wir haben noch probiert, eine der drei Storys zu streichen und nur zwei Erzählungen parallel zu führen, aber auch diese Version blieb enttäuschend. Letztlich entschied ich mich dafür, die drei Geschichten einzeln zu erzählen, da die Vernetzung die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu sehr belastet hätte.“ Die 320 Minuten, die alle drei Teile von „Paradies“ in Anspruch nehmen, stellen Seidl vor ein massives Verwertungsproblem: Er sieht sich gezwungen, die Filme einzeln zu verkaufen und zu veröffentlichen, obwohl er die Betrachtung aller drei Teile unmittelbar hintereinander als ideale Form der Rezeption sieht. Aber er akzeptiert, dass drei Filme mit üblicher Laufzeit international lukrativer sein werden als ein überlanger; er gibt sich mit dem Kompromiss zufrieden, die Trilogie schrittweise, im Abstand von einigen Monaten an den Start zu bringen.


Ist Seidl ein „Frauenfilmer“? Auch „Paradies: Hoffnung“ erzählt von weiblichen Sehnsüchten

Der Titel der Trilogie ist gut gewählt: Der Begriff „Paradies“ hat sowohl touristische als auch religiöse, sogar christliche und muslimische Bedeutungen. Die Untertitel beziehen sich auf „Glaube Liebe Hoffnung“, ein 1932 erschienenes Theaterstück des österreichischungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth, das dieser „einen kleinen Totentanz“ nannte und in den drei titelgebenden Begriffen die alten christlichen Tugenden zitierte. Für Ulrich Seidls Verhältnisse ist Teil eins, „Paradies: Liebe“, erstaunlich locker angelegt. Man mag an dem Film so etwas wie eine Milderung jenes filmischen Extremismus wahrnehmen, der den Regisseur so lange definiert hat: Im direkten Vergleich mit „Import Export“ erscheint „Paradies: Liebe“ zärtlicher, sanfter, weniger heftig. Überraschend unangestrengt zeichnet der Regisseur hier die wechselnden Stimmungen nach, die sich unter österreichischen Sextouristinnen in einem Luxus-Resort in Mombasa abzeichnen: die Hysterie in einer von Hotelanimateuren, Urlaubsfreiheit und vulgären Fantasien befeuerten Frauengruppe im Hotel; die Frivolität im Umgang mit den ebenso geschäftstüchtigen wie charmanten Beachboys, aber auch die Ungeschicktheit der ersten erotischen Kontakte in den billigen Motels abseits der Touristenzonen – und das unauslöschliche Gefühl der Einsamkeit, das mit der Erkenntnis der ökonomischen Realität hinter der fingierten Gefühlsduselei korrespondiert. Die nonchalante Form entspricht der Anlage des Films perfekt: Der Ernst der Lage – die Armut der Afrikaner, das Überlegenheitsgefühl der Europäer, das System gedankenloser gegenseitiger Nutzbarmachung – wird hier in eine Inszenierung verpackt, in der das amüsante Blendwerk trotz allem zu seinem Recht kommt, in der sich all die Lügen und Selbst-

betrugsroutinen finden, die sexuell motivierte Pauschaltraumreisen dieser Art ausmachen. „Paradies: Liebe“ zeigt aber auch, wie anpassungsfähig Seidl inzwischen tatsächlich ist, wie sehr er nicht nur in der Lage, sondern auch willens ist, die Tonfälle seiner Inszenierungen jenen Wirklichkeiten anzunähern, die er an den Drehorten findet. „Paradies: Liebe“ ist schnell, tragikomisch, extrovertiert – eben Ulrich Seidls kenianischer Film. Stereotypen in der Darstellung seiner afrikanischen Figuren verweigert Seidl: Er zeichnet die Männer um seine Hauptfigur Teresa, obwohl alle drei denselben GeldbeschaffungsRoutinen nachgehen, sehr verschieden. In Seidls Film gibt es weder Täter noch Opfer, keine Selbstlosigkeit und keine reine Gemeinheit. Die Ausbeutung, von der erzählt wird, ist gegenseitig; man bleibt einander nichts schuldig. Die Touristinnen bezahlen für das dringend benötigte Gefühl, wieder begehrt zu werden, während die kenianischen Hustler sich schlicht als Angebot zur Nachfrage verstehen und darauf drängen, dass im Gegenzug für ihre Zuwendungen die existenzielle Not, in der sie leben, gelindert werde. Das „Paradies“-Projekt scheint sich, obwohl Ende 2012 erst zwei von drei Teilen veröffentlicht sind, zum internationalen Erfolg zu entwickeln. Im September 2012 wurde Seidl beim Filmfestival in Venedig der Spezialpreis der Jury für „Paradies: Glaube“ zugesprochen. Der Film kreist um eine von Maria Hofstätter furios gespielte Frau, die Marienstatuen von Tür zu Tür trägt und an der Schlechtigkeit der Welt ebenso wie an ihrer Kommunikation mit Gott verzweifelt. Von der Existenz freiwilliger WandermuttergottesHausierer hat Seidl erst während der Recherche für den Dokumentarfilm „Jesus, Du weißt“ erfahren. Und die zentrale Paarkon-

stellation des Spielfilms – eine mit einem querschnittgelähmtem Moslem verheiratete Katholikin – stammt ganz direkt aus „Jesus, Du weißt“; allerdings überhöht Seidl in der Fiktion den interreligiösen Konflikt zwischen den beiden vehement. „Paradies: Hoffnung“ schließlich ist ein Film über Teenager-Energie und -Frustration, über Schönheitskult und erste Liebe: weniger „große“ Themen als Prostitution, Kolonialismus, Religionseifer und Glaubenskrieg. Seidl selbst bezeichnet die drei Storys als „Sehnsuchtsgeschichten“. Einen „Frauenfilmer“ nennt er sich inzwischen gern, mit nur leise ironischem Unterton. Die Offenheit ist die Basis seiner Methode, dessen Filme ohne Drehbuch entstehen. „Ich suche beim Drehen auch den Zufall. Er muss – nicht bei jeder Szene, aber doch oft – bei mir am Set mitspielen. Für andere Regisseure wäre das undenkbar, sogar unerträglich. Ich muss nicht alles kontrollieren. Ich finde es spannend, wenn beim Drehen Dinge passieren, die ich mir so nicht vorgestellt habe.“ In Seidls Ensembles arbeiten Laien- und Profidarsteller ganz selbstverständlich miteinander. Es ist sogar oft schwierig, die eine Gruppe von der anderen zu unterscheiden. Vor wenigen Wochen wurde der Regisseur 60 Jahre alt. Er hat gerade drei Kinofilme fertig gestellt und ein Bühnenstück inszeniert, und er ist dabei, eine dokumentarische Arbeit namens „Im Keller“ zu drehen. Seine Karriere wird dieser Tage neu konfiguriert. Er verweigert dabei jede Verlangsamung. Die Zumutungen des Alters haben Ulrich Seidl noch nicht erreicht. Stefan Grissemann Hinweis „Paradies: Hoffnung“, der abschließende von Ulrich Seidls „Paradies“-Trilogie, wird auf der „Berlinale“ (7.-17.2.) erstaufgeführt. Der Beginn, „Paradies: Liebe“, wurde in fd 1/13 rezensiert; das Mittelstück „Paradies: Glaube“ kommt am 21. März in den Kinos (Rezension in fd 6/13).

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