FILM-DIENST 4/2013

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Exklusiv

FILM Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

Martin Scorsese Zum ersten Mal zu sehen: Bilder aus dem Privat-Archiv des grandiosen Regisseurs

€ 4,50 www.filmdienst.de 66. Jahrgang 14. Februar 2013

4|2013

Die wichtigsten Film-Festivals Entdecken Sie neue Film-Highlights mit groSSem Jahresplan

40 Seiten Extra-Heft

Alle Filme im TV vom 14. bis 27. Februar

Alle neuen Kinofilme im Test

Die Erotik der Macht •  Von Hitler bis Scientology: Wie das Kino

die Verführungskraft der Autorität inszeniert •  Herausragende Filme über Führer-Figuren

Neue Serie

Woran erkennt man heute gute Filme? Kriterien für Qualität im Kino


Filmdienst 4 | 2013

Kino 10 Alle Filme im TV vom 16.2. bis 1.3.: Das Extraheft

Die Erotik der Macht Von Hitler bis Scientology – wie werden Menschen von der Anziehungskraft eines charismatischen Führers verführt? Immer wieder haben Filme dieses Thema aufgegriffen. Jetzt kommt ein neuer, faszinierender wie brisanter Film ins Kino. Von Michael Kohler Filmkritik zu „The Master“ von Rüdiger Suchsland

Martin Scorsese ist in einer fulminanten Ausstellung in Berlin zu entdecken.

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Akteure

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Neues deutsches Kino

Sophie Scholl | Drama 20.2. Bayern 3 Die Royal Tenenbaums | Tragikomödie 28.2. 3sat Homevideo | Drama 1.3. Einsfestival

Wer entdecken will, wie spannend die Film-Szene in Deutschland ist, sollte eines der vielen Film-Festivals besuchen. Das Beispiel des Festivals Max Ophüls Preis zeigt, wie viele großartige junge Filmemacher es gibt. Von Sascha Koebner Die wichtigsten Film-Festivals Eine Übersicht über die Termine 2013.

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Vom Auge ins Herz

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Star-Regisseur Martin Scorsese hat für eine wunderbare Ausstellung in Berlin sein privates Archiv geöffnet. Die Exponate zeigen, wie akribisch und leidenschaftlich Scorsese Film insziniert. Von Jens Hinrichsen

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Nina Hoss

Nenn‘ es nie Kinderfilm! Ob Oscars oder Berlinale – warum werden auf Film-Festivals so wenige Kinderfilme gezeigt?

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Sie gehört zu den herausragenden deutschen Schauspielerinnen. Eine Hommage an eine wahre Künstlerin. Von Josef Schnelle

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Die Bond-Musik Eine neue Doppel-CD zeigt, warum Musik für den Erfolg der Filme entscheidend ist. Von Mark Hairapetian Wer verführt wen? „The Master“ zeigt auf herausragende Weise, wie Menschen führen und verführen (S. 12)

Warum Musik für die Bond-Filme immer entscheidend war 4

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S. 26


+ Unsere Tipps für Heimkino: Neue DVDs/Blu-rays (S. 48)

Neue Filme Film-Kunst 28

Was ist ein guter film? Eine einfache Frage, die im Zentrum einer vierteiligen Serie steht. Denn die Kriterien für Qualität im Kino haben sich Stück für Stück verändert. Von Rainer Gansera

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38 Ende der Schonzeit [14.2.] 39 Mandala [31.1.] 40 Puppe [21.2.] 41 Der Iran Job [21.2.] 42 Les Misérables [21.2.] 44 Westerland [21.2.] 45 Der Hypnotiseur [21.2.] 45 Quellen des Lebens [14.2.]

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S. Westerland [Start 21.2.]

Empfehlung

Die besten Filme „Sie küssen und sie schlugen sich“ – François Truffaut Meisterwerk begründete den Ruhm des neuen französischen Films. Doch warum war dieser Film so wegweisend. Die neue FD-Serie erläutert die „Magischen Momente“ der Film-Geschichte. Von Rainer Gansera

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WeiSSblende im Gehirn Fotos: picture alliance/AP Images Titel: picture alliance/AP Images

+ Alle Starttermine

Februar ist Film-Monat: Mit der „Berlinale“ und den „Oscars“ feiert die Branche gleich zwei große Ereignisse. Im „normalen“ Kino ist die Zahl der Neustarts derweil überschaubar. Doch darunter sind einige Filme, die absolut sehenswert sind.

Alzheimer ist immer präsenter im gesellschaftlichen Bewusstsein – aber auch im Kino. Denn immer mehr Filme beschäftigen sich auf sehr unterschiedliche wie beeindruckende Weise mit dieser Alterskrankheit. Von Kathrin Häger

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„glücklicher Mensch“ Ein Gespräch mit einem der besten deutschen Regisseure Oskar Roehler über die 68er, seine Familie und das Verfilmen der eigenen Geschichte. Von Ralf Schenk

der Filmkommission

S. 45 The Master [21.2.] Der neue Film von Paul Thomas Anderson

46 Celeste & Jesse: Beziehungsstatus: Es ist kompliziert! [14.2.] 47 Warm Bodies [21.2.] 47 Verliebte Feinde [Schweiz 21.2.] 47 Stirb langsam – Ein guter Tag zum Sterben [14.2.] 47 Kokowääh 2 [7.2.] 47 Romantik Komedi 2 [14.2.] 47 Ghost Movie [21.2.]

Franz Everschor, unser „HollywoodMann“, über Richard Linklaters „Bernie“:

Bei den „Oscars“ zählt oft das MarketingGeld mehr als die Qualität eines Films.

Haben Sie Lob, Kritik und Anregungen?

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S. Der Hypnotiseur [Start 21.2.]

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S. Les Miserables [Start 21.2.]

Rubriken Editorial 3 Inhalt 4 Magazin 6 E-Mail aus Hollywood 27 Im Kino mit ... 50 Vorschau 51 + TV-Beilage

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Akteure

Scorsese

Vom Auge ins Herz Martin Scorsese ist seit 40 Jahren einer der herausragenden Regisseure Hollywoods. Jetzt hat er für eine grandiose und weltweit einmalige Ausstellung in Berlin sein privates Archiv geöffnet. FILMDIENST zeigt exklusiv besondere Exponate, die einen tiefen Blick in Scorseses künstlerische Kraft bieten. Von Jens Hinrichsen

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Robert De Niro in „Wie ein wilder Stier“.

Scorseses Liebe zu den „Roten Schuhen“ 1

Der junge Martin Scoreses 1977 mit seinem Kamerateam bei den Dreharbeiten zu „New York, New York“.

Die im Museum ausgestellten Ballettschuhe stammen aus dem Privatbesitz von Martin Scorsese, es sind Requisiten aus dem berühmtesten Film des britischen Regie-Gespanns Michael Powell und Emeric Pressburger: Ihr Filmklassiker „Die roten Schuhe“ (1948) erzählt von einer Primaballerina, die nicht mit dem Tanzen aufhören kann. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zur Bühne und einem Mann, stürzt sie letztlich in den Tod. Auch Scorsese ist ein Besessener, nicht nur von seiner eigenen Kunst. Seine Freundschaft zum lange bewunderten britischen Regisseur Michael Powell (1905-1990) begann 1975 – nach dessen Karriereknick, als der (erst spät rehabilitierte) Serienmörder-Film „Peeping Tom“ (1960) bei Kritik und Publikum in Ungnade gefallen war. Kein Regisseur hat Scorsese mehr beeinflusst als Powell. Es heißt, dass der ältere Kollege beim Dreh von „Wie ein wilder Stier“ (1980) als künstlerischer Berater fungierte. Bei diesem Film sollen die raffiniert choreografierte Sparringszenen von Powells Opernund Ballettfilm „Hoffmanns Erzählungen“ (1951) inspiriert worden sein. Auch dass Scorsese sein Boxerdrama in Schwarz-Weiß drehte, geht wohl auf Powell zurück. Wobei: Powell fand, dass Scorsese es mit dem Einsatz der roten Farbe – eine Reverenz an die Farbdramaturgie des Briten – mitunter übertrieb. Während Powell Scorsese wertvolle Ratschläge gab, kämpfte dieser für eine Renaissance der PowellFilme. Außerdem lernte Powell über Scorsese die 35 Jahre jüngere Thelma Schoonmaker kennen – und heiratete sie – Thelma Schoonmaker ist noch heute Scorseses Stammcutterin. Zwar sind die roten Schuhe in der Vitrine sind etwas verblasst. Für Martin Scorsese, den Sammler, ist das wohl

weniger tragisch als das Ausbleichen von Filmmaterialien. Schon Ende der 1970er-Jahre stieß er auf das Problem mangelnder Haltbarkeit von Filmkopien und appellierte an den EastmanKodak-Konzern, farbechtes Filmmaterial zu entwickeln. Um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und Geld zu sammeln, gründete Scorsese 1990 gemeinsam mit Steven Spielberg, Francis Ford Coppola, Stanley Kubrick und anderen Kollegen die „Film Foundation“. Mehr als 500 Filme sind im Auftrag der Organisation seither restauriert worden, darunter auch „Die roten Schuhe“ und „The Life and Death of Colonel Blimp“ (1943) – ebenfalls inszeniert von Powell/Pressburger –, der 2011 in New York wiederaufgeführt wurde.

„Die roten Schuhe“ stammen aus einem Film von Scorseses Freund Michael Powell.

Hepburns Kleid: Senfgelbe Sinnes-Attacke 2

Atemberaubend, wie Cate Blanchett die Hollywood-Legende Katharine Hepburn im Scorsese-Film „Aviator“ (2004) darstellt: Blanchett hat die Schauspielkollegin eingehend studiert, hütet sich aber vor einer übertriebenen Imitation. Cate Blanchett verkörpert die Frau, nicht die Ikone. Um das zu zeigen, ist das senfgelbe Kleid – Blanchett trägt es in einer öffentlichen Szene – gewiss nicht das treffendste Beispiel. Dennoch ist das von Sandy Powell entworfene Kostüm, in dem Katharine Hepburn wie die laszive Schwester von Miss Liberty wirkt, für den Film wie für dessen weibliche

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Ein Aquarell der Kostümdesignerin Sandy Powell, die für Scorsese die Protagonisten in „Gangs of New York“ einkleidete.

Hauptfigur unverzichtbar. „Wir sind uns zu ähnlich“, sagt Katharine Hepburn, als sie sich von Howard Hughes (Leonardo DiCaprio) trennt. Sie unterschlägt (oder ahnt nicht), dass dem technikbegeisterten Milliardär die von ihr selbst spielend gemeisterten Wechsel zwischen privater und öffentlicher Person zunehmend schwerer fallen. Hughes entwickelt sich zu einem für Scorsese typischen Einzelkämpfer (die oft von Robert De Niro gespielt werden). Zwar erzählt der Regisseur vorwiegend Männergeschichten, aber die Frauen werden kaum an den Rand gedrängt, sind vielschichtig wie Katharine Hepburn in „Aviator“ oder Ginger McKenna in „Casino“ (1995). Katharine Hepburns amazonenhaft-elegantes Kleid ist gelb. Der Grünstich mag der Farbe das Schrille nehmen, in der 52. Filmminute von „Aviator“ wird das Senfgelb trotzdem zur Sinnes-Attacke.

Das Kleid, das Cate Blanchett in „Aviator“ in der Rolle der Katharine Hepburn trägt, macht sie zum farb-intensiven Blickfang

Der knappen ersten Stunde des Films entzieht Scorsese die Farbe Gelb, um die Wirkung eines historischenFilmfarbsystems nachzuahmen.

Hommage an Multicolor 3

Bis Mitte der 1930er-Jahre – bevor die Technicolor-Company Hollywood mit der berühmten Drei-Streifen-Kamera revolutionierte – waren Aufzeichnung und Wiedergabe der drei Grundfarben unmöglich. In den frühen Szenen von „Aviator“ orientierte sich Scorsese am alten Multicolor-System, das von Howard Hughes favorisiert wurde und das nur die cyanblauen und roten Anteile zeigte. Ist es ein Zufall, dass in den von einem Technikfetischisten wie Hughes produzierten (Farb-)Filmen kein Grün der Natur vorkommt? Die seltsamsten Farbeindrücke im ersten Drittel von „Aviator“ bieten sich gerade in der Natur, wenn Hughes und Katharine Hepburn Golf spielen: eisblauer Rasen, rotbraunes Laub, an Hepburns leuchtend-rotem Lippenstift saugt sich der Blick fest als einzig lebendigem Farbfleck. Lange bevor sich seine zwangsneurotische Hauptfigur ins Exil eines Filmvorführraums zurückzieht, lässt Scorsese Howard Hughes durch ein bizarr koloriertes Universum segeln. Amerika, der fremde Planet.

Familienbild: Scorsese mit seinem Eltern Charles und Catherine Scorsese (in „Italianamerican“, 1980).

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Familie und Mamas Rezepte 4

Gleich am Anfang der Ausstellung stößt man auf eine Reihe von sehr persönlichen Familienschätze: gerahmte Malerei-Reproduktionen und Fotos. Darauf sieht man z.B. George Washington und Mona Lisa. Und Charles und Catherine Scorsese, die Eltern, und „Marty“, das Baby. Auf einem Tisch, der aus Scorseses New Yorker Elternhaus stammt, steht ein Monitor. Darauf zu sehen ist Scorseses Dokumentarfilm „Italianamerican“ (1974). Charles und Catherine rekapitulieren darin die Familiengeschichte der Scorseses, die nach Sizilien zurückführt. Herrlich die kleinen Kabbeleien des Ehepaars, bei denen Catherine – in vielen späteren Nebenrollen ist sie bei Scorsese als typische italienische Mamma zu sehen – meistens die Oberhand behält. Und die Hälfte des Nachspanns ist für Catherines Fleischbällchen-Rezept reserviert. Wie sollte ein Film über italienische Immigranten auch ohne kulinarische Traditionen auskommen? Trotz dieses Familiensinns zeigt Martin Scorsese in seinen Filmen erstaunlicherweise kaum glückliche, „heile“


Familien. In „Alice lebt hier nicht mehr“ (1974) schickte er eine alleinerziehende Mutter auf die Reise; drei Filme bis hin zu „Goodfellas“ (1990) widmete er sich schließlich der Mafia. „Familie“, das sind für Scorsese auch die Bowdens in „Kap der Angst“: Vater, Mutter, Kind kriechen im schlammigen Finale des Thrillers wie Lemuren aufeinander zu. Glück gehabt. Aber Familienglück sieht anders aus.

„Kap der Angst“: Martin Scorseses Stamm-Schauspieler Robert De Niro als „biblische Plage“, die eine Familie heimsucht.

diabolischer Schmerz und ein blutiges Hemd

Fotos: Martin Scorsese Collection, New York/Harry Ransom Center, University Austin, Texas – Robert De Niro Collection/ Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, picture alliance/AP Images

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Das Hemd, das Rita Ryack für die berühmte Prügelszene in Martin Scorseses „Kap der Angst“ (1991) entworfen hat, wäre auch ohne leuchtendes Kunstblut eine Attraktion jeder Film-Ausstellung. Doch so wirkt es noch stärker – wie der Film. Ex-Häftling Max Cady (Robert De Niro) terrorisiert den Anwalt Sam Bowden (Nick Nolte) und dessen Familie. Sein Outfit in der Überfall-Szene tendiert zu unschuldigem Weiß, aber das Hemd ist mit islamisch anmutenden Ornamenten „tätowiert“. Die weiße Aussparung auf Brusthöhe ist das ideale Feld für Blut und Wunden. Es scheint, als hätte Cady den Angriff damit regelrecht provoziert. Er triumphiert über die Schläger und trägt das zerschlitzte, blutbesudelte Hemd mit Stolz. Wie überall bei Scorsese ist Blut auch hier mit den christlichen Wurzeln verbunden. „Ich bin wie Gott, und Gott ist wie ich“, ruft der teuflische Cady am Ende der Szene – die Verballhornung eines Verses von Angelus Silesius. „Ich bin so groß wie Gott, und Gott ist so klein wie ich. Er kann nicht über mir, ich nicht unter ihm stehen!“

Martin Scorsese 10. Januar 2013–12. Mai 2013

„Ich bin wie Gott und Gott ist wie ich.“ Max Cady in „Kap der Angst“

Die Ausstellung zum Werk Martin Scorseses ist im Filmhaus (Deutsche Kinemathek/Museum für Film und Fernsehen) am Potsdamer Platz (Potsdamer Straße 2) in 10785 Berlin bis zum 12. Mai zu sehen. Öffnungszeiten: 10-18 Uhr (Di-So; Do: 10-20 Uhr). Eintritt:7 Euro regulär, 4,50 Euro ermäßigt. FILMDIENST ist Medienpartner der Berliner Ausstellung.

Weitere Informationen zur Ausstellung und zur Deutschen Kinemathek (und dem Film-Archiv) im Internet unter www.deutsche-kinemathek.de

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Neue Filme

im Kino

Ende der Schonzeit [14.2.]

Die Liebe der Mitläufer Während der NS-Zeit sucht v ein Jude schutz bei Bauern und wird als menschlicher Zuchtbulle missbraucht. Ein Drama, das sich ganz auf seine Figuren konzentriert.

Ein Blick auf verdorrte Hügel in leerer Landschaft. Ein Bus taucht am Horizont auf. Drin sitzt ein junger Deutscher, der nicht recht zu dem Rest der Reisenden, allesamt Bewohner eines Kibbuz, passen mag. Die Situation ist ihm sichtlich unangenehm. Schließlich ist es sein „Erzeuger“, den er zwischen Kühen und Misthaufen zum ersten Mal trifft. Die Körpersprache seines Gegenübers ist nicht weniger abweisend. Es dauert eine Weile, bis der wortkarge Mann in einer langen Rückblende zu er-

zählen beginnt: von seinen Rettern im Schwarzwald, die ihn doch noch kurz vor Kriegsende an die örtlichen Behörden denunziert haben. Ein konventioneller Prolog, der aber, sobald die Vergangenheit des Mannes aufgerollt wird. So entsteht ein überaus konzentriertes Kammerspiel, das mit bravouröser Schauspielkunst, allen voran die wunderbare Brigitte Hobmeier (vgl. Porträt in FILMDIENST 23/2012), in Atem hält. Der Auschwitz-Überlebende und spätere Israeli versucht 1942, den Rhein zu über-

Ende der Schonzeit | Deutschland 2012 Produktion: Eikon Südwest/Laila Films/SWR Produzenten: Philipp Homberg, Christian Drewing Regie: Franziska Schlotterer Buch: Franziska Schlotterer, Gwendolyn Bellmann Kamera: Bernd Fischer

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ein, weswegen das Gehöft mangels eines Stammhalters verloren zu gehen droht. Längst muss er sich am Stammtisch spöttische Bemerkungen gefallen lassen, vor allem von einem aufdringlichen Nazi-Freund, der sich in seine Frau verguckt hat und immer häufiger unangemeldet in ihrem Haus auftaucht. Die ist wenig begeistert von dem lieblos pragmatischen Arrangement, sich von einem zum Zuchtbullen degradierten Juden schwängern zu lassen. Obwohl sie nicht frei von anti-

Musik: Ari Benjamin Meyers Schnitt: Karl Riedl

dan (Tami), Mike Maas (Ernst), Wolfgang Packhäuser (Hans), Stela M. Katix Prislin

Darsteller: Brigitte Hobmeier (Emma), Hans-Jochen Wagner (Fritz), Christian Friedel (Albert), Thomas Loibl (Walter), Rami Heuberger (Avi), Max Mauff (Bruno), Michaela Eshet (Ruth), Ayala Mei-

Länge: 104 Min. | FSK: ab 12; f Verleih: farbfilm Kinostart 14.2.2013 FD-Kritik 41 540

Handwerk

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queren, um in der Schweiz Zuflucht zu finden. Zu dieser Zeit heißt er noch Albert, ist Sohn eines jüdischen Juweliers. Als er sich vor zwei Soldaten versteckt, trifft er mitten im Wald auf einen wildernden Einheimischen. Der grobschlächtige Bauer durchschaut seine Notsituation und bietet ihm einen Unterschlupf an, unter der Bedingung, dass er ihm auf dem abgelegenen Hof zur Hand geht und seine Frau „befruchtet“ – denn Nachwuchs stellt sich wegen der Impotenz des Bauern bereits seit zehn Jahren nicht

Inhalt

Darsteller

Ausführliche Kritiken zu jedem Film Online unter www.filmdienst.de


Das Urteil der Filmkomission Ein Bauern-Ehepaar gewährt einem Juden Unterschlupf vor den Nazis. Es verfolgt aber damit eigene Interessen: Der junge Mann soll auf dem Hof helfen und dafür sorgen, dass die wegen der Impotenz ihres Mannes kinderlose Bäuerin endlich ein Baby bekommt. In die Rahmenhandlung eingebettet, die die Konfrontation dieses Kindes mit dem leiblichen Vater schildert, beeindruckt der Film – dank starker Protagonisten –als konzentriertes Kammerspiel, das differenziert und schnörkellos von Mitwisserschaft und Verstrickung deutscher „Normalbürger“ in die antisemitische Ideologie erzählt. – Sehenswert ab 14. strang sich ebenfalls um ein kinderloses Ehepaar drehte, dem ein in ihrer Wohnung verstecker Jude bei der Zeugung aushalf, verzichtet Schlotterer gänzlich auf kurze Momente des heiteren Vergessens. Sie erzählt klar und ökonomisch, ohne atmosphärische Inseln und mit einem strengen Fokus auf die Figuren. Das aus Ermangelung an Alternativen in einer längst gescheiterten Beziehung verbleibende Bauernpaar weiß sehr realistisch die Lebensgefahr einzuschätzen, in der sich ihr unfreiwilliger Mitbewohner befindet. Als er nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager ausgemergelt zurückkehrt, um sein Kind zu sehen, ist der Schrecken und die Schuld tief in ihre Gesichter eingeschrieben, was sie nicht daran hindert, erneut ihre eigenen Interessen durchsetzen zu wollen. Ein großartig gespieltes, berührendes Finale, das Seltenheitswert hat, deutet es die ganze Skala ambivalenter Verstrickungen einer Generation an, die von der Möglichkeit der Hilfeleistung überwiegend nichts wissen wollte und die Gegenbeispiele wie Oskar Schindler oder Lilly Wust („Aimée & Jaguar“) lange verschwieg. Alexandra Wach

Mandala [31.1.]

Vom Loslassen Dokumentarfilm über eine meditative Performance buddhistischer Mönche

Fotos: Jeweilige Verleihe

semitischen Vorurteilen ist, willigt sie schließlich ein. Konfrontiert mit einem überraschend zärtlichen Liebhaber, der ihre sexuellen Bedürfnisse nicht verkümmern lässt, genießt sie bald die Treffen. Irgendwann kommen sogar Gefühle mit ins Spiel. Eine fatale Verliebtheit, die nicht auf Gegenseitigkeit beruht und in ihrer emanzipatorischen Stoßrichtung an Madame Bovary erinnert. Getaucht in matte Grünund Gelbtöne, entspinnt sich innerhalb des isolierten Dreiecks ein von Angst, Aggression, Eifersucht und Sehnsucht nach einem anderen Leben bestimmtes Machtspiel, dem das schwächste Glied am Ende zum Opfer fällt. Regisseurin Franziska Schlotterer (geb. 1972), hat bisher Erfahrungen im Dokumentarfilm und beim Drehbuch gesammelt. In ihrem Spielfilmdebüt stellt sie ihr inszenatorisches Können unter Beweis. Ein Melodram, das die Verortung in der deutschen Geschichte nicht scheut und Fragen nach der weit verbreiteten Mitwisserschaft um die Judenverfolgung im nächsten Umfeld stellt. Im Gegensatz zu Jan Hřebejks Tragikomödie „Wir müssen zusammenhalten“ (fd 35 320), deren Haupt-

Ein Besenstrich – und das betörend schöne Mandala im Sand ist zerstört. Was eben noch in ganzer Pracht erblühte, ein gewaltiger Kreis ornamentaler Formen, Farben und Figuren, wird emotionslos zusammengekehrt und in die Emscher gekippt. Für Menschen aus dem Westen erscheint das wie purer Irrwitz: im Moment der höchsten Vollendung zugleich wieder vernichtet zu werden. Für seine buddhistischen Schöpfer aber ist es das innere Ziel ihres konzentrierten Tuns: eine Übung im Loslassen, ein winziger Moment auf dem Weg zur Erleuchtung. Der Dokumentarfilm von Christoph Hübner gibt nicht vor, diese (tantrisch-buddhistische) Spiritualität erklä-

ren zu können; aber er konfrontiert – klug, sensibel und filmisch ähnlich fokussiert – mit einer rituell-religiösen „Performance“, in der Handwerk und Hingabe in stiller Gelassenheit ineinander fließen. Der Ort, die zum Kunsttempel veredelte Jahrhunderthalle in Bochum, illuminiert auf seine Weise Größe und Vergänglichkeit; der Anlass, die Ruhrtriennale 2011, bleibt hingegen äußerlich. Der meditative Film ist eine Herausforderung, die im Spiegel der exotischen „Mandala“-Kunst mit einer Spiritualität konfrontiert, die fremd und einladend zugleich erscheint. Ein bezwingend strenges und zugleich freies Ritual.

Deutschlanx 2012/ FD-Kritik 41 541

Länge: 69 Min. | FSK: o.a.

Regie: Christoph Hübner

Verleih: Real Fiction (O.m.d.U.)

Handwerk

Josef Lederle

Inhalt

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