Kino on deMand
FIlM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur
01 2017
www.filmdienst.de
Léa Seydoux
Schön, rätselhaft, melancholisch, zornig: die faszinierende französische Schauspielerin hat etwas, das mehr ist als nur ausstrahlung und Präsenz
5. Januar 2017 € 5,50 70. Jahrgang
Kinos kuratieren neuerdings ein digitales Zusatzangebot für ihre Besucher. der Beginn einer neuen Freundschaft von Kino und internet-Stream?
Pa r K C h a n - w o o K
die abgründigen Filme des Koreaners zeigen Menschen in sinnlichen und emotionalen extremzuständen
CarLoS Saura
eine Begegnung mit dem 85-jährigen Meisterregisseur am rand seines dokumentarfilms »Jota de Saura«
S A LO M É RICHARD
CLAUDE G E N S AC
S WA N N ARLAUD
ZABOU BREITMAN
BADEN BADEN EIN FILM VON RACHEL LANG
LAZARE GOUSSEAU
OLIVIER CHANTREAU
JORIJN VRIESENDORP
NOÉMIE ROSSET
DRISS RAMDI
THOMAS SILBERSTEIN
SAM LOUWYCK
KATE MORAN
GRAPHISME : NOÉMIE ROSSET ET PIERRE DE BELGIQUE 2016
TA R A N T U L A , C H E VA L D E U X T R O I S & J O U R 2 F Ê T E PRÄSENTIEREN
editorial
Das Pariser Kino »MacMahon«, eröffnet im Jahr 1938, gilt als eine Wiege der Cinephilie
Fotos: Susanne Duddeck/Holger Twele
Mit dem Kino ins neue Jahr Willkommen im Jahr 2017! Ohne Verschnaufpause legt das Kino mit zahlreichen Filmstarts gleich wieder los, wobei das Spektrum der Themen und Genres beachtlich ist. Von globalen Blockbuster-Filmen wie »The Great Wall« und »Assassin’s Creed« reicht das Angebot über den engagierten Omnibus-Dokumentarfilm »Research Refugees« bis zu Arthouse-Filmen wie »Die Taschendiebin« (zu dem es in dieser Ausgabe ein Porträt des Regisseurs Park Chan-Wook gibt), Chris Kraus’ »Die Blumen von gestern« und dem Romantic-Musical-Comedy-Drama »La La Land«. Marius Nobach lobt in seiner Kritik zu »La La Land«, dass Regisseur Damien Chazelle die Chemie zwischen den Darstellern über gesangliche und tänzerische Perfektion stelle; auf diese Weise könne man leichter in die Welt der Träume hineinfinden. »Nicht weil der Film weismachen würde, dass Träume stets in Erfüllung gehen müssten. Sondern weil er klarmacht, wie furchtbar es wäre, keine zu haben.« Da passt es ganz gut, dass auch dieses erste Heft des Jahres an einigen Stellen versucht, der Atemlosigkeit der Ereignisse entgegenzusteuern, um ein wenig die Geschwindigkeit herauszunehmen und allzu »eilige« Prozesse zu entschleunigen. So lassen sich womöglich auch leichter Perspektiven auf die Frage erkennen, wohin denn das Kino derzeit steuert. Als immer noch zentraler, ebenso kommunikativer wie auratischer Ort des Films muss es sich doch immer wieder neu erfinden, um sein Publikum zu halten, es zu unterhalten und, ja auch, zu bilden. Das Modell »Kino on Demand« ist in diesem Zusammenhang eine interessante Alternative, nicht zum Kino, sondern als dessen (digitale) Ergänzung. Denn klar ist: Die Liebe zum Kino braucht eine Zukunft, wobei sich klassische und digitale Cinephilie nicht im Weg zu stehen brauchen. Wobei auch für Claude Bertemes, den Direktor der Cinémathèque Luxembourg, klar ist: »Die Idee des Kinosaals ist kein Selbstläufer!«
Horst Peter Koll, Chefredakteur
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FILMDIENST 01 | 2017 Die NeueN KiNoFiLMe NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE
49 43 51 50 42 48 43
Die Abmachung 12.1. Armenia 5.1. Assassin’s Creed 27.12. Ballerina 12.1. Die Blumen von gestern 12.1. Bob, der Streuner 12.1. Feuerwehrmann Sam – Achtung Außerirdische! 5.1. Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki 5.1. Ein Haus in Ninh Hoa 5.1. Hell or High Water 12.1. Die Hollars – Eine Wahnsinnsfamilie 12.1. King Cobra 12.1. Ein Kuss 12.1. La La Land 12.1. Mr. Church 12.1. Passengers 5.1. Plötzlich Papa 5.1. Research Refugees 11.1. Die Taschendiebin 5.1. The Bicycle 12.1. The Happy Film 5.1. Vier gegen die Bank 25.12. Why him? 12.1. Wild Plants 12.1.
39 41 36 41 43 43 40 49 38 41 44 46 41 49 47 45 37
KINOTIPP
der katholischen Filmkritik
38 PASSENGERS
37 WILD PLANTS
39 DER GLÜCKLICHSTE TAG IM LEBEN DES OLLI MÄKI Ungewöhnlicher finnischer Sportlerfilm über einen jungen Boxer, der sich dem Leistungsdruck widersetzt
FERNSEH-TIPPS 56 Preisgekrönte Filme wie Christian Petzolds »Phoenix«, der Filmessay »Der Perlmuttknopf« und das Drama »Freistatt« laufen erstmals im Fernsehen. Arte erinnert an David Bowie und zeigt den Western »In letzter Sekunde«, in dem Oliver Hardy ausnahmsweise ohne Stan Laurel, dafür aber mit John Wayne auftritt.
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42 DIE BLUMEN VON GESTERN
36 HELL OR HIGH WATER
Fotos: TITEL: Concorde. S. 4/5: Camino, Piffl, Real Fiction, Paramount, Sony, Koch Media, Neue Visionen, Holger Twele, Wild Bunch
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01 | 2017 Die artiKeL INHALT KINO
AKTEURE
FILMKUNST
16 PARK CHAN-WOOK
24 MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR
28 CINÉMATHÈQUE POPULAIRE
Seit Ende 2013 bieten einige Kino-Webseiten Filme zum Streamen an. Das Modell soll helfen, Zuschauer auch im digitalen Zeitalter an die Kinos zu binden. Perspektiven und Chancen einer innovativen Idee.
20 LÉA SEYDOUX
Die Wandelbarkeit der französischen Schauspielerin erstaunt mit jedem Film aufs Neue. Ihre Rollenauswahl kündet von einem besonderen Mut zu neuen Figuren. Annäherung an das Mysterium Léa Seydoux.
27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD
Von Reinhard Kleber
Von Michael Ranze
Von Franz Everschor
16 PARK CHAN-WOOK
24 MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR
10 KINO ON DEMAND
Der südkoreanische Regisseur lässt sich gern von der Kinogeschichte inspirieren, doch seine abgründigen Werke wie aktuell »Die Taschendiebin« sind alles andere als reines Zitatkino. Ein Porträt. Von Lukas Foerster
23 FILM-STILLS
Ein außergewöhnlicher neuer Bildband erinnert an die subtile Inszenierungskunst von Film-Stills. Eine gute Ergänzung ist eine Publikation mit Bildern der Fotografin Sage Sohier, die ebenfalls die Schnittstellen von Kunst und Kino erkundet.
Die französische Regisseurin greift in ihrem Drama »Der Himmel wird warten« ein hochaktuelles Thema auf: die Radikalisierung jugendlicher Mädchen durch den Islamischen Staat. Ein Interview. Von Margret Köhler
26 IN MEMORIAM
Nachrufe auf den portugiesischen Filmemacher Alberto Seixas Santos, den britischen Schauspieler Peter Vaughan und den Fotografen und Regisseur David Hamilton.
Inmitten der lauten Kommerzfilme stechen die stillen Werke der Regisseurin Kelly Reichardt umso mehr hervor. Auch in ihrem neuen Film »Certain Women« bleibt sie sich auf unbeirrbare Weise treu.
28 CINÉMATHÈQUE POPULAIRE
Lässt sich die traditionelle Liebe zum Kino heute noch vermitteln? Der Einsatz von Menschen wie Claude Bertemes, Direktor der luxemburgischen Kinemathek, gibt Anlass zur Hoffnung. Eine Begegnung. Von Holger Twele
32 CARLOS SAURA
Der Regisseur prägt das spanische Kino seit einem halben Jahrhundert mit gesellschaftskritischen und essayistischen Filmen. Eine Würdigung zum 85. Geburtstag.
Von Wolfgang Hamdorf
Von Josef Nagel und Rainer Dick
Von Horst Peter Koll
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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAY TV-TIPPS FILMKLISCHEES VORSCHAU / IMPRESSUM
Spitzentanz: Der Animationsfilm »Ballerina« (ab 12.1. im Kino)
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Kino der extreme
Kino Park Chan-wook
die abgründigen Filme des Koreaners
ParK Chan-wooK
»I’m a Cyborg, But That’s OK« (2006)
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Park Chan-wook Kino
»Stoker« (2013)
wie die Filmemacher der »nouvelle Vague« schrieb der koreaner Park Chan-wook (geb. 1963 in Seoul) einst selbst Texte über das kino. Man sieht seinen Filmen an, dass Park sehr genau um deren zahlreiche Vorgänger in der Filmgeschichte weiß, dabei sind sie alles andere als postmodernes Zitat-kino: hinter Parks cineastischen Genrefilmen offenbaren sich anspielungsreiche, intelligente Studien über Moral. nach seinem hollywoodabstecher »Stoker« setzt er nun in »Die Taschendiebin« auf erlesene Visualität. Von lukas foerster In den frühen 2000er-Jahren war des Öfteren von einer Filmbewegung namens »Asian Extreme« die Rede. Darunter gefasst wurden so unterschiedliche Regisseure wie der Festivalliebling Kim Ki-duk, der Genrekino-Handwerker Takashi Shimizu und der de-facto-Experimentalfilmer Shinya Tsukamoto – Filmemacher also, die bis auf einen gewissen Hang zum blutrünstigen Schockeffekt wenig miteinander gemeinsam haben. Bei Licht betrachtet, war »Asian Extreme« vermutlich in erster Linie eine Kreation des britischen DVD-Labels Tartan, das seine »Tartan Asia Extreme«-Kollektion zu vermarkten versuchte. Dass die Bezeichnung nicht allzu glücklich gewählt war, zeigt sich bereits daran, dass sie nicht einmal auf den Regisseur passt, dessen Filme in mancher Hinsicht das Zentrum der (fragwürdigen) Bewegung darstellten.
unbarmherzige Zufall
Die bricht in die Welt herein
Der Koreaner Park Chan-wook machte nach zwei außerhalb seiner Heimat kaum wahrgenommenen Frühwerken im Jahr 2000 mit dem düsteren Politthriller »Joint Security Area« auf sich aufmerksam. Zwi-
schen 2002 und 2005 entstand dann seine so genannte Rache-Trilogie, die ihn nicht nur zu einem der großen Namen im internationalen Kinobetrieb machte, sondern die auch maßgeblich für den Erfolg mitverantwortlich sein dürfte, den das koreanische Kino allgemein in den letzten zehn Jahren auf internationalen Festivals erlebte. Auf den ersten Blick liegt es tatsächlich nahe, Parks Werk unter dem Aspekt des Extremen zu betrachten. Vor allem die Rache-Filme erzählen nicht einfach nur von Brutalität, sondern noch mehr von der schockartigen Sinnlosigkeit von Gewalt. Insbesondere gilt das für »Old Boy« (2003), den Mittelteil der Trilogie: Da wacht ein Geschäftsmann eines Tages, ohne die leiseste Ahnung zu haben warum, in einer absurden Gefängniszelle auf, in der er dann 15 Jahre lang eingeschlossen bleibt. Und als er schließlich freigelassen wird, stehen ihm die schlimmsten Qualen erst noch bevor. Tatsächlich ist die Gewalt an sich nicht das eigentlich Erschreckende an Parks Filmen. Viel verstörender ist die Art und Weise, in der er wieder und wieder den unbarmherzigen Zufall in die Welt hereinbrechen lässt. Wie eine unaufhaltbare Kraft, die am Ende alles und jeden auslöscht.
Fast noch radikaler als »Old Boy« ist in dieser Hinsicht »Sympathy for Mr. Vengeance«, der erste Teil der Rache-Trilogie: Da setzt die Erkrankung einer jungen Frau einen unheilvollen Mechanismus in Gang, einen regelrechten Strudel der Gewalt, vor dem sich wirklich gar niemand in Sicherheit bringen kann. Und doch macht gerade dieser Film deutlich, dass es ganz und gar nicht sinnvoll ist, Parks Werk auf die blutrünstigen Schockeffekte zu reduzieren, an deren gezieltem Einsatz er freilich durchaus einigen Spaß zu haben scheint. Denn in »Sympathy for Mr. Vengeance« setzt die Gewalt erst relativ spät ein und erscheint bei näherer Betrachtung vor allem wie eine bloße, nachträgliche Veräußerlichung jener inneren Beschädigungen, von denen die Figuren von Anfang an gezeichnet sind. Menschen in sinnlichen und emotionalen
Extremzuständen
Mehr als an blutrünstigen Bildern ist Park an Menschen in sinnlichen und emotionalen Extremzuständen interessiert. Auch seinem exaltierten Stil, der von ungewöhnlichen Kameraperspektiven und rauschhafter Farbdramaturgie bestimmt ist, geht
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Hell or High Water Die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 hat in den USA ihre Spuren hinterlassen, die einem auf Schritt und Tritt begegnen. Aber es hat Zeit gebraucht, bis sie im amerikanischen Filmschaffen sichtbar wurden. Filme wie »Margin Call«, »The Big Short« und »99 Homes« verfolgten die Konsequenzen des wirtschaftlichen Erdbebens schließlich mit einer aufrüttelnden Mischung aus Zorn und Ironie. Noch mehr Zeit hat es gebraucht, bis ein Film ins weniger dicht bevölkerte amerikanische Hinterland vordringt, zum Beispiel in die weiten Ebenen von West-Texas, wo einst reiche »Cattle Ranchers« einen Wohlstand begründeten, der den räuberischen Praktiken der Kreditinstitute ebenso wenig standhielt wie die scheinbar unantastbaren Industrien im Osten des Landes. Taylor Sheridan, der schon in seinem Drehbuch für den Drogenthriller »Sicario« eine erstaunlich analytische Perspektive der Verbrechensbekämpfung an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze geliefert hat, transponiert in »Hell or High Water« die Kon-
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ventionen des Western in die Gegenwart und gewinnt ihnen eine ungewohnte Blickrichtung ab. Und der britische Regisseur David Mackenzie lässt sich kompromisslos darauf ein, die letztlich auf die Grundformel von Arthur Penns »Bonnie and Clyde« zurückführbare Story des Films so zu kondensieren, dass sie zu einer bitter-ironischen Demonstration der Machtverhältnisse in dem einst von Indianern, dann von Viehbaronen und Öl-Milliardären, schließlich von den Banken beherrschten Landstrich geworden ist. Erzählt wird von Toby und Tanner, zwei Brüdern, die wahrlich keine weißen Westen haben, deren Colts aber hauptsächlich deshalb so locker sitzen, weil sie nicht länger zusehen wollen, wie ihnen ihr Land unter den Füßen weggezogen wird. Nicht viel anders, als es einst den Comanchen erging, fällt jetzt ihnen die Rolle der Verlierer zu. Sie mögen im Sinne von Gesetz und Ordnung Verbrecher sein, aber sie halten daran fest, dass sie ein Recht haben, den Wohlstand ihrer Kinder, wenn nötig, mit den eigenen Händen zu verteidigen. (Ganz
nebenbei liefert »Hell or High Water« auch ein paar Einblicke in die oft schwer verständlichen Motive des aktuellen Streits um das Recht des privaten Waffenbesitzes.) Die Bank will Toby und Tanner das Land nehmen, weil sie ihre Hypothek nicht abzahlen können. Nur Toby weiß, dass unter seiner Erde Öl zu finden ist und dass es sich deshalb lohnt, auch mit radikalen Mitteln um sein Eigentum zu kämpfen. Es ist die Logik der Rebellen, die Toby und Tanner dazu treibt, sich das fehlende Geld genau bei denen zu holen, die sie für den Niedergang ihrer Heimat und ihrer Lebensweise verantwortlich machen: bei den Banken. Gesetz und Moral sind zwielichtige Kategorien in diesem West-Texas, wie selbst der wenige Wochen vor seiner Pensionierung stehende Texas Ranger zugestehen muss, der die ihm eigene Kunst, sich in die Denkweise der verfolgten Bankräuber zu versetzen, mit lässigem Zynismus garniert. Während herkömmliche Western die Desperados, die das Recht in die eigene Hand nehmen, gern als Volkshelden verklärt haben, betrachtet sie
»Hell or High Water« aus der Distanz eines sachlichen Beobachters. Toby und Tanner sind weniger genreübliche Draufgänger als Produkte einer tief sitzenden Enttäuschung, ausgelöst durch den Zyklus wirtschaftlicher Unsicherheit und finanzieller Verzweiflung, der nach der Krise des Jahres 2008 auch scheinbar unverwüstliche Landstriche wie West-Texas erfasst hat, in denen die Uhren anders ticken und die Menschen anders denken. Mackensie hat als Ausländer hier wohl einen schärferen Blick als Einheimische, die in ihren spezifischen Milieus und Denkweisen groß geworden sind. Man denke nur an Wim Wenders’ »Paris, Texas«. Die Häuserfronten des kleinen Kaffs, die Interieurs der Wohnungen und Geschäfte, die Bilder der Landschaften und Straßen, die nicht einmal am Horizont ein Ende finden, geben der Handlung erst das richtige Gewicht und die nötige Authentizität. Aber es sind die Darsteller, die auch jenseits der aufheizenden Banküberfälle das Interesse für Nuancen wachhalten, durch die sich die Figuren von den gewohnten Klischees des klas-
Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe
Die Folgen der US-Wirtschaftskrise, aufgearbeitet in Gestalt eines Westerns
NEUE FILME KRITIKEN sischen Western oder seiner psychologisierenden Nachfolger unterscheiden. Und es sind die oft unglaublich komischen Dialoge, mit denen Taylor Sheridan die Figuren nicht nur von den üblichen Outlaws abrückt, sondern dem ganzen Film einen Ton verleiht, der beständig zwischen Realismus und Ironie balanciert. Das eigentliche Kunststück jedoch, warum die Hintergründigkeit der Story so verblüffend gut funktioniert, ist die Erfindung der Kontrastfigur des alten Texas Rangers, den Jeff Bridges mit lustvoller Profanität und frustrierter Abgeklärtheit zu einem gleichwertigen Antipoden in einer an Gegensätzen reichen Umgebung macht. Franz Everschor BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION
Zwei Brüder aus West-Texas wollen durch Banküberfälle an Geld gelangen, um ihre Hypotheken zu bezahlen und den Zugriff der Kreditinstitute auf ihr Land zu verhindern. Der vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Wirtschaftskrise angesiedelte moderne Western verbindet Genreelemente mit einem kritisch-sarkastischen Blick auf die ländlichen USA nach dem Bankencrash 2008. Spannend, ironisch und enthüllend zugleich, wirft der vorzüglich inszenierte und gespielte Film ein scharfes Schlaglicht auf die drohende Relativierung von Gesetz und Moral in einer von Verzweiflung diktierten sozialen Situation. – Sehenswert ab 14.
HELL OR HIGH WATER Scope. USA 2016 Regie: David Mackenzie Darsteller: Jeff Bridges (Marcus Hamilton), Chris Pine (Toby Howard), Ben Foster (Tanner), Gil Birmingham (Alberto Parker), Katy Mixon (Jenny Ann) Länge: 102 Min. | Kinostart: 12.1.2017 Verleih: Paramount | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 44 399
Wild Plants Doku-Essay
Ein Hund schlittert auf dem Eis. Hände buddeln in der Erde. Blätter wehen über eine Schneedecke. Ein Baum stürzt um. Pflanzen bahnen sich ihren Weg durch den Asphalt. Verlassene Häuserruinen. Mehr als zehn Minuten vergehen ohne ein gesprochenes Wort. »Wild Plants« funktioniert zunächst als reiner Impressionismus. Nur Bilder und Töne: von Pflanzen, Landschaften, Tieren, aber auch von den Grenzbereichen zwischen Natur und Urbanität; in der Ferne hört man Polizeisirenen, einen Güterzug. Ein »Life in the woods«, wie es der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau propagierte, der im Abspann unter »special appearance« auftaucht, sieht 170 Jahre später eben doch erheblich hybrider aus. Der Filmemacher Nicolas Humbert zeigt verschiedene Menschen, die mit, in und von der Natur leben, die sich als Teil eines größeren Kreislaufs sehen, als Kompost, wenn man so will: »transform« ist das Schlüsselwort. In der Exposition sieht man die Protagonisten, Mitglieder des französisch-helvetischen Landwirtschaftskollektives »Les Jardins de Cocagne«, einen Guerilla-Gärtner aus Zürich, die Betreiber eines urbanen Gartens in Detroit sowie den Lakota Sioux Milo Yellow Hair, schwei-
gend in die Kamera blicken. Dabei handelt es sich weniger um Porträts im klassischen Sinn als vielmehr um »Naturbetrachtungen«: die zerfurchten Gesichter werden mit keiner anderen Haltung als Mohnpflanzen oder ein paar Regenwürmer gezeigt. »Wild Plants« ist deshalb nur bedingt eine Dokumentation. Humbert führt zwar Interviews, aber es gibt keine übergeordnete Frage und schon gar keine auf Dialektik ausgerichtete Betrachtungsweise, die den Film antreiben würde. Wobei »antreiben« eigentlich der falsche Begriff ist. »Wild Plants« ist vielmehr ein Film, der sich treiben lässt. Und er folgt ganz dem Prinzip der Entschleunigung, das einer der Gärtner als Maxime formuliert. In einem Garten mitten in der ausgebluteten Industriestadt gräbt Andrew mit einem Helfer im Kompost. Ob er lieber als Erdbeere oder Pfirsich wieder auf die Welt kommen wolle, fragt Humbert den jungen Mann, und erhält »Nicht speziell« zur Antwort. Maurice Maggi ist »im Pakt« mit Pionierpflanzen, die besondere Anpassungskräfte für die Besiedelung neuer, noch vegetationsfreier Gebiete besitzen. Mitten in der Nacht macht er sich mit Hacke und Plastiksack auf den Weg durch die Stadt, um Samen von Malven und Kürbissen am
Straßenrand und auf Verkehrsinseln auszusäen. Seine Aktionen sieht er als gesellschaftspolitische Arbeit. Er spricht von Widerstand, von Avantgarde, Subkultur und von Gesinnungsgenossen (gemeint sind die Pionierpflanzen). Eine mit Markierungen übersäte Karte von Zürich zeigt, wie sich seine Aktions-Orte zu einem dichten Netz formieren. Milo Yellow Hair, ein Aktivist für die Rechte der diskriminierten Ureinwohner Nordamerikas, sagt: »Unsere Sprache ist aus den Klängen der Natur entstanden.« Die Klänge der mit Zivilisationstönen angereicherten Natur machen die Textur des Films aus. »Wild Plants« ist ein dichtes »sound piece«, komponiert aus Regen, Wind, Verkehrslärm, Vogelgezwitscher und raschelnden Blättern, aus den Geräuschen von Holzhacken und Schritten im Matsch. Esther Buss
BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION
Impressionistischer Dokumentarfilm über Menschen, die mit, in und von der Natur leben und sich als Teil eines größeren Kreislaufs verstehen. Bei den Annäherungen an Mitglieder eines Landwirtschaftskollektivs, die Betreiber eines urbanen Gartens, einen Pionierpflanzen-Guerillero sowie einen Lakota-Aktivisten handelt es sich weniger um herkömmliche Porträts als um Naturbetrachtungen. Ohne übergeordnete Fragestellung oder inneren Rechercheauftrag fügt der Film vorrangig Bilder und Töne von Pflanzen, Menschen, Tieren und Landschaften zu dichten Klangkompositionen zusammen. – Ab 14.
Deutschland/Schweiz 2016 Regie: Nicolas Humbert Länge: 113 Min. | Kinostart: 12.1.2017 Verleih: Real Fiction | FSK: ab 0; f FD-Kritik: 44 400
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KRITIKEN NEUE FILME
La La Land
Emma Stone und Ryan Gosling erobern tanzend die Stadt der Engel Was für ein Anblick! In der ganzen Weite des Cinemascope-Formats breitet sich Los Angeles County aus, die Stadt selbst blinkt verheißungsvoll am Horizont. Jedenfalls, wenn man nicht auf den verstopften Freeways dorthin muss, so wie die Menschen in den Fahrzeugkolonnen, mit denen sofort ein wenig prosaischer Alltag in den Film kommt. Langsam gleitet die Kamera an den hupenden Autos entlang, bis eine Fahrerin plötzlich aussteigt und beginnt, eine Hymne auf L.A. anzustimmen, bald gefolgt von den anderen Wageninsassen. Wie sie dabei im choreografischen Einklang auf den Autodächern singen und tanzen, erinnert an das aktuelle Phänomen der Flashmobs, ist zugleich aber schon die erste Referenz des Films an die Geschichte des Musical-Genres. Tanzen ist im Kino immer auch »Freitanzen«, ob wie hier von der Zumutung des Verkehrs und der kalifornischen Gluthitze oder wie im
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klassischen Hollywood von den diversen Drehbuch-Zwängen, die so vollendete Tänzer wie Fred Astaire, Ginger Rogers und Gene Kelly daran hindern wollten, sich ihrem ureigensten Talent hinzugeben. Auch die Geschichte, die der US-Regisseur Damien Chazelle im Folgenden in seinem Film »La La Land« erzählt, erinnert an Astaire-Rogers-Paarungen wie »Top Hat«. So wie diese immer mehrere Begegnungen brauchten, um zueinander zu finden, ist es auch bei Ryan Gosling und Emma Stone als ihren modernen Wiedergängern Sebastian und Mia keine Liebe auf den ersten Blick. Mia arbeitet in einem Café und geht regelmäßig zu Vorsprechen, sieht ihren Traum aber stets nach einem Satz wieder platzen. Der Pianist Sebastian träumt derweil von einem eigenen Jazz-Club, tut sich aber vorerst schwer, auch nur die Lebenshaltungskosten mit seiner Musik zu bestreiten. Kein Wunder, dass
der erste genervte Kontakt zwischen ihnen eigentlich gar keiner ist. Sie haben genug anderes im Kopf. Mit dem Ringen von Künstlern um einen Platz in der Welt greift Damien Chazelle das Thema seines vorigen Films »Whiplash« wieder auf, allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen. Wo sich die junge MusikerHauptfigur darin bis zur Selbstzerstörung aufrieb, um einem tyrannischen Bandleader zu gefallen, widersetzt sich Sebastian dem Druck seines Bosses – dass beide Autoritätsfiguren vom selben Schauspieler, J.K. Simmons, gespielt werden, ist eine zusätzliche Pointe. Statt in einem Restaurant nur im Hintergrund zu klimpern, lässt Sebastian sich zu einer Improvisation hinreißen, wofür er natürlich prompt gefeuert wird. Mit seiner Musik hat er jedoch die zufällig vorbeigehende Mia angezogen, die der trotzig hinausstürmende Pianist allerdings ein weiteres Mal übersieht.
So ist es, anders als in alten Hollywood-Musicals, der jungen Frau vorbehalten, die Beziehung anzustoßen. Als sie Sebastian bald darauf auf einer Party wiedertrifft und das Gespräch mit ihm sucht, sprühen die Funken schon heftiger. Ein wenig kabbeln sie sich noch, doch ein Spaziergang schafft endgültig Klarheit: Im pastellfarbenen Licht der untergehenden Sonne und aufflammenden Straßenlaternen kommt es zur ersten einer Reihe charmanter Tanzszenen, die durch die natürliche Ausstrahlung der Darsteller zuerst spontan wirken, um an Intensität und Einfallsreichtum zuzunehmen, je weiter die Beziehung sich entwickelt. Der Höhepunkt wird ein Besuch in jedem Planetarium bei L.A. sein, in dem schon zentrale Szenen von »...denn sie wissen nicht, was sie tun« gedreht wurden. Hier streift das Paar endgültig alle irdischen Fesseln ab und entschwebt in den Sternenhimmel, um seine Liebe dort tanzend zu besiegeln. Trotz aller Technicolor-Bilder, ausgefeilter Choreographien und der beschwingten Melodien von Justin Hurwitz ist »La La Land« allerdings weit mehr als ein Imitat der Filme eines Vincente Minnelli oder Stanley Donen und erschöpft sich auch nicht in der bloßen Hommage. Damien Chazelle lässt Mias und Sebastians Beziehung in vier Kapiteln und einem Epilog Höhen und Tiefen durchmachen, mit reichlich melancholischen Noten, die als weiteres Vorbild Jacques Demys »Die Regenschirme von Cherbourg« ausweisen. Ein glattes Happy End ist daher nicht zu erwarten, wenn Sebastian und Mia in der zweiten Hälfte des Films ihre Karrierepläne neu ausrichten und sich der Preis des Erfolgs als bittersüß erweist. Bei all der erstaunlichen Sicherheit, mit der der erst 31-jährige Damien Chazelle mit Elementen der Kino-Musical-Historie jon-
gliert, ist allenfalls die Story etwas schlicht geraten. »La La Land« ist sicher nicht der Film, der mit dem Fehlschluss aufräumen wird, Musicals könnten nicht auch komplexe Inhalte transportieren. Dafür aber könnte er sehr wohl ein neues Publikum für ein Genre gewinnen, das seine Virtuosität nicht immer so dezent präsentiert wie in diesem Fall. Dass Chazelle dabei die Chemie zwischen seinen Darstellern über gesangliche und tänzerische Perfektion stellt, macht es nur leichter, sich in diese Welt der Träume hineinzufinden, die mittels der Musik beschworen wird. Nicht weil der Film weismachen würde, dass Träume stets in Erfüllung gehen müssten. Sondern weil er klarmacht, wie furchtbar es wäre, keine zu haben. Marius Nobach
Ein Haus in Ninh Hoa
L
The Bicycle
Zwei Frauen in der südvietnamesischen Küstenstadt Ninh Hoa erinnern sich anhand von Briefen, Postkarten und Fotos an ihr Familienleben. Ein Bruder ging in den 1970erJahren als Diplomat nach Deutschland, zwei andere Brüder gerieten in die Wirren des Vietnam-Kriegs. Der unaufgeregt-zurückhaltende Dokumentarfilm entwirft ein komplexes Gewebe aus Gegenwart und Vergangenheit, wobei er höchst sorgsam mit den Leerstellen der Erinnerungen umgeht. Am Ende rekapituliert der Sohn die Familiengeschichte, was die durch die Montage erzielte Beiläufigkeit spielerisch geradezu ironisiert. – Ab 14.
Ein Hamburger Hobbyfilmer und eine Kanadierin pflegen eine komplizierte Fernbeziehung. Um ihre Liebe zu retten, treffen sie sich im sommerlichen Paris, doch lassen ihre charakterlichen Unterschiede schnell wieder die alten Konflikte aufbrechen. Der Versuch, Jean-Luc Godards »Außer Atem« mit Richard Linklaters »Before Sunrise« zu mischen, scheitert am lähmenden Leerlauf tausendfach ausgetretener Pfade. Eine erschöpfende Übung in Ziellosigkeit, vor allem auch, weil der einsamen Zweisamkeit der Anti-Romanze jeder Anflug von Charme fehlt. – Ab 14.
Deutschland 2016 | R: Phil Widmann | 113 Min. | Start: 5.1. | FSK: ab 0; f | FD-Kritik: 44 404
Deutschland 2015 | R: Arne Körner | 82 Min. | Start: 12.1. | FD-Kritik: 44 405
Plötzlich Papa
Die Hollars
Ein lebenslustiger Franzose kutschiert Touristen entlang der Mittelmeerküste, bis ihm eine Strandbekanntschaft ein Baby in die Hand drückt und verschwindet. Auf der Suche nach ihr strandet er in London, wird Stuntman und wandelt sich zum mustergültigen Alleinerziehenden. Gut gespielte, elegant fotografierte Vater-Tochter-Komödie, die pointiert von Liebe und Notlügen, Verantwortung und dem Sinn des Lebens, aber auch von den unterschiedlichen Lebensweisen auf beiden Seiten des Ärmelkanals erzählt. Das französische Remake eines mexikanischen Erfolgsfilms fällt dabei deutlich gefälliger, aber auch harmloser als der Original aus. – Ab 14.
Als sich seine Mutter einer schweren Operation unterziehen muss, kehrt ein beruflich gescheiterter Graphic-Novel-Zeichner aus New York in seinen Heimatort zurück. Dort begegnet er nicht nur seinem geschiedenen Bruder, sondern auch einer Ex-Freundin, was prompt seine eifersüchtige Lebensgefährtin in das Provinzkaff lockt. Gemächlich entwickeltes Drama einer Familienzusammenführung, das die Konflikte zwischen den Figuren nur wenig pointiert ausspielt, sodass die Zweifel und Zerwürfnisse behauptet wirken. Auch die zahlreichen Folk-Songs und gute Darsteller täuschen nicht über den inszenatorischen Leerlauf hinweg. – Ab 14.
DEMAIN TOUT COMMENCE. Frankreich 2015 | R: Hugo Gélin | 118 Min. | FD-Kritik: 44 406
THE HOLLARS USA 2016 | R: John Krasinski | 88 Min. | Start: 12.1. | FSK: ab 0; f | FD Kritik: 44 407
BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION
Eine junge Schauspielanwärterin und ein Jazz-Pianist finden in Los Angeles zueinander, erleben den Höhenflug ihrer ersten Liebe, erfahren aber auch die Belastungen ihrer Beziehung, als sie ihre Karrieren neu ausrichten. Ein von der Handlung betont schlichtes, inszenatorisch dafür umso einfallsreicher umgesetztes JazzMusical, das mit charmanten Darstellern, ausgefeilten Choreografien und beschwingten Songs begeistert. Ohne sich je im bloßen Imitat zu erschöpfen, greift der Film auf klassische Vorbilder zurück und verdichtet sich zu einer mitreißenden Hommage auf Los Angeles, das Kino und das Recht zu träumen. – Sehenswert ab 14.
LA LA LAND. Scope. USA 2016 Regie: Damien Chazelle Darsteller: Ryan Gosling (Sebastian), Emma Stone (Mia), J. K. Simmons (Bill), Finn Wittrock (Greg), John Legend (Keith), Rosemarie DeWitt (Laura) Länge: 128 Min. | Kinostart: 12.1. 2017 Verleih: StudioCanal | FSK: ab 0; f FD-Kritik: 44 403
FILMDIENST 01 | 2017
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auf dvd / blu–ray neue filme
Goliath
die erste Staffel einer spannenden anwaltsserie mit billy bob Thornton US-amerikanische Justizdramen haben viel dazu beigetragen, das für Kontinentaleuropäer eher befremdliche angelsächsische Rechtssystem durchsichtiger zu machen. Da hier Geschworene, nicht Richter über Recht und Gerechtigkeit entscheiden, kommt den Anwälten eine zentrale Rolle zu. Ihre rhetorisch-taktisch hochpolierten Monologe wollen nicht nur die Urteile der Jury beeinflussen, sondern prädestinieren die Advokaten geradezu als Zentrum des filmischen Erzählens. Mit diesem rede- und geltungssüchtigen Berufsstand hat der Produzent David E. Kelley den Großteil seiner Karriere bestritten. Von »L.A. Law« über »Ally McBeal« bis zu »Boston Legal« stammen viele wichtige Anwaltserien von ihm. In seinem jüngsten, für Amazon Prime entwickelten Projekt »Goliath« schlägt Kelley inhaltlich zwar keine neuen Wege ein, wohl aber in der Tonlage. Das vorgeblich juristische Ringen zwischen einem versoffenen Ex-Staranwalt (Billy Bob Thornton) und einer mächtigen Kanzlei wird mit knallharten Bandagen ausgetragen: Verbal werden so ziemlich
alle Register von spitzzügiger Noblesse bis zum derben Slang gezogen, und hinter den Kulissen schrecken die Beteiligten auch vor Erpressung, Nötigung oder Mord nicht zurück. Am District Court in Los Angeles geht es um einen angeblichen Selbstmord, bei dem ein Mitarbeiter eines US-Waffenkonzerns sich mit seinem Boot in die Luft gesprengt haben soll. Die Schwester des Opfers aber ist davon überzeugt, dass der Tote einem illegalen Waffentest zum Opfer fiel. Ihren auf den ersten Blick eher schäbigen Rechtsbeistand Billy McBride, ehedem ein High-Flyer der Branche, ehe er nach einer Fehlentscheidung nur noch im Alkohol Zuflucht fand, hat die Klägerin nur deshalb für den wenig aussichtsreichen Fall interessieren können, weil der von Thornton mit beängstigender Präsenz verkörperte Zyniker mit dem Chef der gegnerischen Kanzlei (William Hurt) noch mehr als eine Rechnung offen hat: Die florierende Law-Society »Cooperman & McBride« wurde von McBride einst mitbegründet, und seine Ex-Frau (Maria Bello) bestimmt dort immer noch die Geschicke.
Damit die recht vertrackt gesponnenen Erzählfäden nicht allzu schnell entworren werden und genügend Raum für Andeutungen, Spekulationen und falsche Spuren bleibt, wird der Law- und Crime-Plot mit Rache- und Eifersuchtsmotiven angereichert und überdies durch ein knappes Dutzend meist gut ausgearbeiteter Nebenfiguren ergänzt, was die acht Episoden der ersten Staffel dramaturgisch fast durchgängig spannend macht. Dazu tragen überraschende Wendungen, extreme Cliffhanger, aber auch die clevere Inszenierung bei, die dem vorzüglichen Darstellerensemble (u.a. Molly Parker, Olivia Thirlby, Tania Raymonde) viel Raum zur schauspielerischen Entfaltung lässt. Das bringt die erste Staffel auch dann noch zum Glänzen, wenn im letzten Drittel erzählerische Routinen durchscheinen oder zunehmend trashige Klischees den Showdown vor Gericht hinauszögern sollen. Visuell bewegen sich die Episoden auf unterschiedlichem Level; die Locations rund um Santa Monica, aber auch in Downtown machen einiges her, der gläserne Tower der Anwaltskanzlei sowieso; doch richtig spektakuläre oder gar visionäre Bilder wie die Gesellschafterversammlung von Cooperman & McBride (in der ersten Episode) oder der Blick in den Recherche-Raum, wo Dutzende akkurat herausgeputzter Assistenten an dem Fall arbeiten, darf man bei einer solchen Produktion eher nicht erwarten. Dafür entschädigen dann McBride und seine kuriose Truppe: Außer auf seine Genialität kann der Advokat nur auf die Hilfe einer übergewichtigen Sekretärin, einer dampfplaudernden Anfängerin und der bildhübschen Teilzeit-Helferin setzen, die ihre Einkünfte durch Prostitution aufbessert. – Ab 16. Josef Lederle
GOliATH uSa 2016 Showrunner: david E. Kelley, Jonathan Shapiro Darsteller: billy bob Thornton, William Hurt, Maria bello, Olivia Thirlby, Tania raymonde, Molly Parker, Nina arianda länge: 432 Min. | fSK: ab 12 Anbieter: amazon Prime fD-Kritik: 44 424
Filmdienst 01 | 2017
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KRITIKEN FERNSEH-TIPPS
SA
SAMSTAG 7. JANUAR
13.35 – 15.15 WDR Fernsehen Der Junge und der Wolf R: Nicolas Vanier Hirtensohn freundet sich mit Wölfen an Frankreich 2009 Ab 14
20.15 – 22.30 Unknown Identity R: Jaume Collet-Serra Thriller mit Liam Neeson USA/GB/Frankreich 2011
VOX
14.00 – 15.30 KiKA Benni, der Lausebengel R: Johan Nijenhuis Bewegender Kinderfilm Niederlande 2011 Sehenswert ab 8
20.15 – 21.55 Top Gun R: Tony Scott Flieger-Kultfilm USA 1985
20.15 – 21.55 BR FERNSEHEN Willkommen bei den Sch’tis R: Dany Boon Warmherzige Klischee-Demontage Frankreich 2008 Ab 12
23.30 – 01.25 ZDF The Town – Stadt ohne Gnade R: Ben Affleck Gangsterfilm und Milieustudie USA 2010 Ab 16
20.15 – 22.10 One 3 Zimmer, Küche, Bad R: Dietrich Brüggemann Optimistische WG-Komödie Dt. 2012 Sehenswert ab 14
23.30 – 01.05 3sat Eine dunkle Begierde R: David Cronenberg Über C.G. Jung und Sabina Spielrein Kanada 2011 Sehenswert ab 16
20.15 – 22.40 Servus TV In ihren Augen R: Juan José Campanella Vielschichtiger Politthriller Argentinien 2009 Sehenswert ab 16
23.50 – 02.45 rbb Fernsehen Die durch die Hölle gehen R: Michael Cimino Schonungsloser Vietnamkriegsfilm USA 1978 Ab 16
20.15 – 22.35 SUPER RTL Chihiros Reise ins Zauberland R: Hayao Miyazaki Wunderbar fantasievolles Anime-Epos Japan 2001 Sehenswert ab 10
23.55 – 01.48 Das Erste Die Akte Grant R: Robert Redford Packendes Politdrama USA 2012 Sehenswert ab 14
Ab 14 zdf_neo 7. Januar, 20.15 – 22.35 Ab 16
SUPER RTL
Chihiros Reise ins Zauberland
In der Welt japanischer Animes leben Geister, Dämonen und Götter mitten unter den Menschen. Man kann sie sogar sehen, wenn man sich wie die junge Chihiro ihrer Präsenz öffnet. In einem verwunschenen Wald bei Tokio gelangt das mutige Mädchen ins Reich der vielgestaltigen Shinto-Wesen. Es will den Bann brechen, der seinen Vater und seine Mutter in gefräßige Schweine verwandelt hat. Dafür muss Chihiro nicht nur der Hexe Yubaba im Badehaus zur Hand gehen, sondern sich in vielen gefahrvollen Momenten bewähren. Der vom AnimeGroßmeister Hayao Miyazaki mit überschäumender Fantasie gestaltete Trickfilm gewann 2002 den »Goldenen Bären« und im Jahr darauf einen »Oscar«. Die märchenhafte, farbenprächtige Fabel verbindet einen atemberaubenden Kosmos fantastischer Wesen mit ökologischen Themen und der Aufforderung, im Einklang mit der Natur zu leben. Auf der BBC-Liste der besten Filme des 21. Jahrhunderts rangiert »Chihiros Reise ins Zauberland« gegenwärtig auf dem vierten Platz.
»Eine dunkle Begierde«
Ab 7. Januar, 23.30
Die Akte Grant
Das Erste
Ein kluges Polit-Drama von und mit Robert Redford: Er spielt einen angesehenen Anwalt, der mit seiner Vergangenheit als linksradikaler »Weatherman« konfrontiert wird. Als ehemaliges Mitglied jener Gruppe radikaler VietnamKriegsgegner, die in den frühen 1970er-Jahren in verschiedenen Städten der USA Attentate verübten, droht er ins Visier von Ermittlern zu kommen, als eine Weggefährtin von einst (Susan Sarandon) sich dem FBI stellt und ein ehrgeiziger junger Journalist (Shia LaBeaouf) die Hintergründe aufdeckt. Um sich von den Vorwürfen, in einen tödlichen Anschlag verwickelt gewesen zu sein, reinzuwaschen, muss er seine ehemalige Geliebte (Julie Christie) ausfindig machen, die ihn entlasten könnte. Ein packender, durch genaue Dialoge und markante Charaktere vorangetriebener Film, der sich einem wenig bekannten Kapitel der US-Geschichte widmet und dessen Folgen für die Gegenwart beschreibt.
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Filmdienst 01 | 2017
Filmreihe »Amour Fou«
Der Begriff mag inzwischen vielleicht etwas abgegriffen klingen, doch die »Amour Fou«-Filmreihe auf 3sat behauptet sich nicht ohne Grund schon seit Jahren. Denn die Auseinandersetzung mit den Themen Sex und Liebe, Lust und Leidenschaft ist im Zeitalter jederzeit verfügbarer Pornofilme oder von DatingDiensten wie Tinder alles andere als obsolet. Das signalisiert auf seine Weise auch der erste Film der Reihe, »Eine dunkle Begierde« (7.1., 23.30–01.05.) von David Cronenberg, der die Anfänge der Psychoanalyse in Gestalt des schwierigen Verhältnisses von Carl Gustav Jung zu seiner Patientin Sabina Spielrein mit zeitgemäßen Augen betrachtet. Die weiteren Filme sind die Erstausstrahlung »Swinger« (10.1., 22.25–23.50) von Colin Kennedy, »Der kleine Tod« (11.1., 22.25–23.59) von Josh Lawson, »Henry & June« (12.1., 22.25–00.35) von Philip Kaufman, »Linda Lovelace« (13.1, 22.35–00.05) von Rob Epstein sowie »Der Loulou« (13.1, 00.05-01.45) von Maurice Pialat. Am 19.1. zeigt 3sat außerdem »Der Pornograph« (22.25-00.10) von Bertrand Bonello, der auf sehr zugespitzte Weise ebenfalls nach der Liebe fragt.
Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.
7. Januar, 23.55 – 01.48
3sat