Filmdienst 01 2015

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

01 2015

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KI N O & W I R K LICH K EIT

»Traumfabrik«? Von wegen! Das Kino hinterlässt ganz konkrete Spuren in der Realität. Wir sind ihnen nachgegangen.

PAU L A B EER

Die junge Schauspielerin machte mit »Poll« und »Das finstere Tal« auf sich aufmerksam. Ein Porträt aus der Reihe »spielwütig«.

GO DA RD GO E S 3D

3D hat seinen Platz im Blockbuster-Kino, auch wenn der große Hype nachgelassen hat. Doch nun nimmt sich Jean-Luc Godard der Stereoskopie an.

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8. Januar 2015 € 5,50 68. Jahrgang

HU ND E RT JAHR E VAMP

Schön, aber tödlich: Diven wie Theda Bara kreierten vor 100 Jahren das Rollenbild des Vamps. Was ist daraus im Lauf der Filmgeschichte geworden?

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filmdienst 01 | 2015 neu im kino + 44 37 51 48 51 51 49 46 44 41 48 50 45 49 44 51 45 48

Alle StArttermine 96 Hours – Taken 3 8.1. Amour Fou 15.1. Annie 15.1. Berlin East Side Germany 8.1. Bros Before Hos 15.1. Doktor Proktors Pupspulver 15.1. Familienfieber 15.1. Frau Müller muss weg 15.1. Get – Der Prozess der Viviane Amsalem 15.1. Der große Trip – Wild 15.1. Ein Hells Angel unter Brüdern 15.1. Ich will mich nicht künstlich aufregen 8.1. Julia 8.1. Jung & Piano – Grand Prix der Pianisten 18.1. Le Capital 8.1. Let’s Be Cops – Die Party Bullen 8.1. Praunheim Memories 8.1. Schändung 15.1.

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KInOTIPP der katholischen Filmkritik

36 St. Vincent 8.1. Komödie von theodore melfi 49 40 51 43 47 45 42 38 39

Streif – One Hell of a Ride 15.1. Die süße Gier – Il Capitale Umano 8.1. The Best of Me – Mein Weg zu Dir 8.1. The Gambler 15.1. Top Girl oder La Déformation Professionelle 15.1. Unbroken 15.1. Unterm Sternenhimmel 15.1. Wild Tales 8.1. Xenia 15.1.

26 in memoriam: annemarie düringer

fernseh-tipps 56 mit zahlreichen Dokumentationen und Spielfilmen erinnern die tV­Sender im Ja­ nuar an die Befreiung des Konzentrations­ lagers Auschwitz vor 70 Jahren. Darunter die KZ­Doku »night Will Fall«, die unter Beteiligung von Alfred Hitchcock entstand.

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46 neu im kino: frau müller muss weg

Fotos: titel: FD­Archiv. S. 4/5: Polyband, FD­Archiv, X­Verleih, Camino, Constantin, Prokino, Wild Bunch/Stadtkino Verleih, Wien

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inhalt kino

akteure

filmkunst

10 die wirklichkeitsfabrik

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10 DIe WIrKLICHKeITsFaBrIK

Alles nur Kino?? tatsächlich wird die Wirklichkeit immer wieder von filmischen erfindungen geprägt: So stammt der Countdown ebenso aus einem Kinofilm (»Die Frau im mond«) wie das Wort »Papa­ razzo« (»la dolce vita«, siehe Foto). eine essayistische inspektion.

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mit 19 Jahren kann die Schauspielerin (»Poll«, »Das finstere tal«) schon einige beachtliche rollen vorweisen, und ihr ausdrucksstarkes Spiel lässt auch für die Zukunft Großes erhoffen. ein Porträt aus der »Spielwütig«­reihe.

einst nannte man Jeffrey Katzenberg bewundernd den »Walt Disney von heute«. Doch nach einigen rückschlägen umweht ihn nun ein rauerer Wind, und so muss sich der Chef von Dreamworks Animation wieder einmal neu erfinden.

Von Alexandra Wach

Von Franz Everschor

22 DamIÁn sZIFrÓn

28 GoDarD & 3D

Von Jens Hinrichsen

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Seit der Premiere von »A Fool there Was« im Januar 1915 bevölkern »böse Frauen« die leinwand, deren Ziel das Verderben der männer ist: die Vamps. eine vorsichtige Annäherung zum 100. Geburtstag.

mit seinem episodenfilm »Wild tales« über sechs wahnwitzige Vergeltungsszenarien begeisterte der Argentinier 2014 in Cannes. ein Gespräch über exzessiven Humor und den realistischen Kern der Farce.

»Adieu au langage«, das neue Werk des 84­jährigen Jean­luc Godard, lässt einen wieder an 3D als Kunstform glauben. Doch sein virtuoses Spiel mit Kino­möglichkeiten droht, hierzulande unentdeckt zu bleiben.

Von Wolfgang Hamdorf

Von Wilfried Reichart

Von Marius Nobach

24 HeYnoWsKI & sCHeUmann

eine umfangreiche DVD­edition versam­ melt Werke der beiden DDr­Dokumen­ tarfilmer Walter Heynowski und Gerhard Scheumann. ein neuer Blick auf die Filme, bei denen Propaganda und Dokument nie getrennt wurden. Von Ulrich Kriest

26 In memorIam

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RUBRIKEn eDitOriAl inHAlt mAGAZin DVD/BlU­rAY DVD­Perlen tV­tiPPS ABCinemA VOrSCHAU / imPreSSUm

Wir trauern um den Hollywood­ Produzenten Frank Yablans und die schweizerische Darstellerin Annemarie Düringer.

+ 3D­DVD­Highlights 2014 Von Jörg Gerle

32 Das GesToHLene GesICHT

in seinem roman »Kastelau« erzählt Charles lewinsky von einem vorgetäusch­ ten Filmdreh am ende des Zweiten Welt­ kriegs. Was unglaublich klingt, aber ein brisantes historisches Vorbild hat. Von Michael Töteberg

34 maGIsCHe momenTe

leichtigkeit und Übermut: Billy Wilders »manche mögen’s heiß« ist die wohl klügste Komödie aller Zeiten. Von Rainer Gansera

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kino vamps

h c i l d K n c e e r r e h i s cs z i n Fa

sn me ind h a n e, s lic e hr pir erb i i e Va m n s t W s: die d u p n m n, u a e - V n n lo s o i Kin ber ters gee al si

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vamps kino

am 12. Januar 1915 startete in den Us-amerikanischen Kinos das Melodram »a Fool There Was« – der erfolg übertraf alle erwartungen: Mit der Darstellung einer durch und durch bösen Frau wurde die schauspielerin Theda Bara unsterblich. Die Figur des Vamp war geboren, prägte die stummfilmzeit, lebte im Film noir wieder auf und hat bis heute im Kino ihre spuren hinterlassen. eine vorsichtige annäherung an die gefährlichen Verführerinnen zu ihrem 100. Geburtstag. Von Marius Nobach

Was für eine Frau! Schwarzes, weit her­ abhängendes Haar; tief liegende dunkle Augen, die durch schwarze Kreise um sie herum noch mehr hervorstechen. ein grau­ samer Zug um die schmalen lippen, die sich zum spöttischen lachen öffnen, wenn sie wieder eines ihrer männlichen Opfer ins Ver­ derben gelockt hat. So trat die junge Schau­ spielerin theda Bara Anfang 1915 im Kinofilm »A Fool there Was« vors US­amerikanische Publikum. Dieses kam in Scharen und traute seinen Augen nicht: So eine Frau hatte es im noch jungen medium Film bis dahin nicht gegeben: weltgewandt und selbstsicher, exo­ tisch und anziehend, zugleich herzlos und für jeden mann, der ihr zu nahe kommt, absolut tödlich. Wo sie geht und steht, sieht man ihr Zerstörungswerk: einst ehrenhafte männer, die durch sie zu Bettlern wurden oder im Gefängnis landeten, wenn sie sich nicht gleich eine Kugel in den Kopf gejagt haben. Das erschreckendste für die damaligen Zuschauer dürfte die Ohnmacht der positiven Filmfiguren gegenüber dieser bösen Frau gewesen sein. Der Protagonist, ein ange­ sehener Diplomat, büßt seinen ruf, seine Familie, Freunde und zuletzt das leben ein. Alle rettungsversuche sind vergebens. Cha­ rakterliche und physische Stärke lösen sich in nichts auf, übrig bleibt nur die willenlose, ausgemergelte Hülle eines menschen, den am ende die erschöpfung hinwegrafft. Die Verderberin zeigt selbst jetzt kein mitleid und streut rosenblätter auf den toten mann. Bis zuletzt folgt sie der animalischen natur ihres rollennamens »the Vampire«. in der rezep­ tion des Films wird dieser bald zu einem neuen, bis heute benutzten »Four­letter­ Word« verkürzt: Der »Vamp« war geboren.

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Regisseur Fritz Lang verstand sich aufs Insze­ nieren tödlich verlockender Weiblichkeit. In "Spione" (1927) lässt er Gerda Maurus als gewiefte Spitzenagentin auf den Helden los

Der Sensationserfolg von theda Bara traf auch den Produzenten William Fox über­ raschend. Gänzlich aus dem Blauen kam er indes nicht, vereinte die Vampir­Frau doch in sich männerängste und ­sehnsüchte, die seit mitte des 19. Jahrhunderts stetig gewachsen waren: mit romanen und theaterstücken von Prosper mérimée (»Carmen«), Émile Zola (»nana«) oder Gabriele d’Annunzio (»la Gioconda«), Gemälden von Gustave moreau oder edvard munch, aber auch frauenver­ achtenden, pseudo­wissenschaftlichen

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kino vamps ra a ba a thedeopatr cl

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Werken wie Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter« versuchte man(n), den ersten weiblichen Bestrebungen, eine rolle in der Gesellschaft zu spielen, Herr zu werden. Direkte Vorbilder für »A Fool there Was« sind das Gemälde »the Vampire« von Philip Burne­Jones sowie ein davon inspirier­ tes Gedicht von rudyard Kipling, das die Zwischentitel des Films ausgiebig zitieren. Auf diesem Boden kann theda Bara mit ihrer rolle der durch und durch Verdorbenen reüs­ sieren. »Sie ist eine schrecklich faszinierende Frau, böse bis ins mark und grausam. Wenn sie befiehlt: ‚Küss mich, mein narr’, ist der narr bereit zu gehorchen und einen ausge­ dehnten moment zu genießen, ungeachtet der wenig erfreulichen, die folgen«, schrieb der »new York Dramatic mirror« seinerzeit. Fünf Jahre lang funkelt theda Bara ihre Opfer unheilverkündend von unten an, schlängelt sich um sie und betreibt ihr Vernichtungsspiel in Filmen mit einschlägigen titeln wie »Sin« oder »Destruction«. Als weibliche inkarnation des Bösen ist sie bald auch nicht mehr allein auf Beutefang: Weltweit sprießen zahlreiche weitere Film­Vamps hervor und verhelfen ihren Darstellerinnen zu ruhm. immer noch beeindruckt an diesen Stumm­ filmen die anscheinend grenzenlose macht, mit der die Vamps ihr Zerstörungswerk entfalten – noch erschreckender als dieses ist aus heutiger Sicht allerdings das Ausmaß der misogynie, die hinter dieser Präsentation steckt. ein Arsenal verführerischer Augen­ aufschläge, ein leichtes locken mit dem

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sinnlichen mund und das nach damaligem Verständnis skandalös unverhüllte Drängen auf engen Körperkontakt reichen den Vamps an Waffen aus, damit männer ihnen mit Haut und Haaren verfallen. Widerstand ist zweck­ los, selbst wenn man ein furchtloser torero wie rudolph Valentino in »Blood and Sand« (1922) ist. Als er der männermordenden Doña Sol (nita naldi) verfällt, verliert er rasch seine ganze manneskraft und stirbt in der Arena, gleichmütig beobachtet von seiner Verder­ berin. »totschlagen musst du mich, wenn du mich loswerden willst«, provoziert lulu (louise Brooks) in »Die Büchse der Pandora« (1929) dreist eines ihrer Opfer. tatsächlich erweist sich die Gefühlskälte der Stummfilm­ Vamps immer wieder als so undurchdringlich, dass ihr gewaltsamer tod das einzig mögliche mittel gegen sie bleibt – aber erst, nachdem sie das Unglück und meist den tod unzähliger männer herbeigeführt haben. Das finanzielle Aussaugen der Verführten ist dabei für sie eher ein erwünschter nebeneffekt. Anders als später bei der Femme fatale im Film noir mit ihrem fast immer rein materiellen interesse, geht es dem Vamp der Stummfilmzeit tat­ sächlich um die umfassende Vernichtung des mannes als mann. eine rationale Begründung für ihr verheerendes treiben und ihre Bösar­ tigkeit geben die Filme nicht.

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Die Frage, woher solch böse Frauen kommen, ist bei den ersten Vamps elementar.

im US­Kino ist auch hier der Unterschied zu den späteren Femmes fatales markant, die fest in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind, mit ihrer rücksichtslosen Art, nach dem eigenen Glück zu streben, vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Die frühen Vamps mit ihren dunklen Haaren und dem mondä­ nen Auftreten sind dagegen eindeutig als Fremde ausgewiesen. Dementsprechend müssen gebürtige Amerikanerinnen wie theda Bara und nita naldi exotisch klingende namen annehmen (ebenso wie in Frankreich louis Feuillades »les Vampires«­Darstellerin musidora), zudem werden Schauspielerin­ nen aus dem Ausland integriert: in den USA etwa die Polin Pola negri und die russin Alla nazimova, in Deutschland die Ungarin lya de Putti sowie die Amerikanerinnen Fern Andra und louise Brooks. neben dem fremdenfeindlichen einschlag – der Aufstieg der Vamps beginnt nicht zufällig während des ersten Weltkriegs – gibt es auf die Frage nach ihrer Herkunft noch eine zweite, beun­ ruhigende Antwort: Wer derart unmenschlich handelt, stammt womöglich tatsächlich nicht von dieser Welt. in den 1920er­Jahren meh­ ren sich deshalb die von Wissenschaftlern künstlich geschaffenen Vamps, die – wie in »metropolis« (1927) oder in »Alraune« (1928) – einen täuschend echten Frauenkörper, aber kein Gewissen haben. einige Vamps sind sogar Boten des leibhaftigen Satans: von »A Fool there Was«, in dem die Vampir­Frau mit Donner und Blitz angekündigt wird, bis zu Josef von Sternbergs programmatisch beti­ teltem »Der teufel ist eine Frau« (1935).

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vamps kino

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Fotos: Archiv FD/Deutsche Kinemathek (16­17)

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in 20 Jahren hat sich viel getan: nicht nur sind die Vamps mittlerweile blond, ihr Ver­ halten erlaubt nun durchaus auch einen anderen Blickwinkel. marlene Dietrich gibt sich bei von Sternberg zwar betont ego­ istisch und gleichgültig, doch schon allein das charakteristische Heben der Augen­ brauen, das die halbgesenkten Augenlider von theda Bara & Co. verdrängt, verrät den selbstironischen Zug ihrer Figuren – Frauen, deren übermäßige Verführungsqualitäten vor allem durch eine verzerrte Wahrnehmung der männer zustande kommen. Wenn sie in »Der blaue engel« den vertrockneten lehrer bezirzt, ist dieser zumindest mitschuldig daran, dass er ihren beiläufig vorgetragenen Gesangsnummern (»männer umschwirren mich wie motten das licht und wenn sie ver­ brennen, dafür kann ich nichts«) und ihrem freizügigen Auftritt verfällt: machten die ersten Vamps noch mit exotischer eleganz verlockende Angebote, die sich schlicht nicht ablehnen ließen, ist marlene Dietrichs lola lola nicht nur vulgär, sondern auch eindeutig eine Kunstfigur. Aus Vamp­Sicht haben die 1920er­Jahre viel Schaden angerichtet: Die Fortschritte in der Frauenemanzipation und die leichte lockerung der Zensur lassen die macht der Weibsteufel unglaubwürdiger wir­ ken und ihre ganze erscheinung artifiziell. Um die Verführung nachvollziehbar zu machen, setzen Filmemacher nun immer öfter auf ein mittel, dessen bestrickende Wirkungskraft durch die biblische Geschichte von Salome mit ihren verheerenden Folgen für Johannes den täufer hinlänglich bezeugt wird: den

tanz. Kaum ein Vamp der späten 1920er­ Jahre kommt noch ohne tanzszenen aus, im tonfilm werden sie unverzichtbar, ergänzt durch den Gesang als zweiten wichtigen Faktor. So üben die Vamps zwar immer noch effektiv ihr Zerstörungswerk an schwachen Geistern aus, doch die Abhängigkeit von Hilfsmitteln hat sie ihre unheimliche Aura gekostet. mehr noch: Das Publikum sieht in den verruchten Frauen nicht länger nur eine verführerische Bedrohung. Zwar hatte auch theda Bara schon ihre Verächter: »Sie könnte keinen mann dazu bringen, zu spät zum Abend­ essen zu kommen, geschweige denn auf den thron von rom zu verzichten«, hieß es etwa im »Brooklyn eagle« über ihren größten Kassenerfolg »Cleopatra«; doch verhallten diese Stimmen ohne großen nachklang. Das Publikum der 1930er­Jahre kann sich jedoch mühelos über die kurvenreiche Komikerin mae West amüsieren, die das image der män­ nermörderin persifliert. Der Vamp wirkt nicht länger nur erschreckend, sondern hat auch eine komische Seite; ein Prestigeverlust, den er trotz der rehabilitation durch den Film noir nie völlig überwindet. Als in den 1950ern marilyn monroe und Brigitte Bardot als leinwand­Vamps bekannt werden, versteht man darunter bereits wieder etwas Anderes: Arglos zur Schau gestellter Sexappeal hat die Stelle der Bosheit eingenommen, der Zauber der Verführerinnen wird nicht mehr verteufelt, sofern er nicht ohnehin ironisch gebrochen ist.

e ern d o m en zeit Was ist nach 100 Jahren vom Vamp in seiner ursprünglichen Gestalt geblieben? Wenn man allein an den frauenfeindlichen impetus der frühen Vamps denkt, ist man froh, dass die Sicht auf Frauen in dieser Zeit doch einige Fortschritte gemacht hat. Dass der Vamp auch heute noch im Kino fortlebt und während der letzten 20 Jahre sogar ein Comeback gefeiert hat, verdankt sich einer Umdeutung seines treibens, auf die schon theda Bara gerne verwiesen hatte: Die ungewöhnliche Überlegenheit, die der Vamp als Frau gegenüber der von männern beherrschten Gesellschaft an den tag legte, lässt sich auch als feministisches Statement deuten. Die neuen Vamps sind Frauen, die hemmungslos manipulieren, morden und ihre Verführungskraft ein­ setzen, um ihre Ziele zu erreichen, und sich damit rechtfertigen können, dass auch die männer in den entsprechenden Filmen ohne Skrupel agieren. Von Sharon Stone in »Basic instinct« und linda Fiorentino in »Die letzte Verführung« bis zu rosamund Pike in »Gone Girl« sind auch sie gefährlich und verlockend zugleich, und genau wie der »Vampir« in »A Fool there Was« kommen sie am ende ungestraft davon. Die Faszination an den »bösen Frauen« bleibt ungebrochen, und wen wundert es? Wie ihre namensgeber­ innen, die Vampire, sind die Vamps schlicht­ weg alterslos und unsterblich. #

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st. Vincent

bill murray als komischer heiliger

Bill Murray ist längst in einem Stadium angelangt, in dem es ausreicht, einfach nur Bill Murray zu sein. Wenn er dazu noch einen »grumpy old man« in Camouflage­Shorts darstel­ len darf, der raucht, säuft und mit Huren abhängt, kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen. Dennoch kann man nicht behaupten, dass sich der mann mit dem melancho­ lischen Knautschgesicht auf seinem Kultstatus ausruhen würde. in »St. Vincent« liefert der Schauspieler einmal mehr eine wunderbar unterspielte Performance als schroffer, leicht verwahrloster eigenbröt­ ler. Der natürlich das Herz am rechten Fleck hat, wenn er nicht gar über manche eigen­ schaft eines Heiligen verfügt, was herauszufinden es des neu zugezogenen nachbarsjungen Oliver bedarf. »St. Vincent« funktioniert nach dem gängigen Komödien­ schema, wonach es nur ein hartnäckiges Kind braucht, um aus dem knurrigen Fiesling den netten Kerl herauszukitzeln. Der von theodore melfi geschrie­ bene und inszenierte Film ist also nicht sonderlich spannend

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in Bezug auf das »Was«. ent­ scheidend ist das »Wie«, und das ist sehr charmant. Vincent bietet sich der neuen nachbarin maggie, einer allein­ erziehenden Krankenschwester, als Babysitter für deren 12­jäh­ rigen Sohn Oliver an. Kinder­ liebe ist dabei nicht das motiv; Vincent braucht das Geld und parkt Oliver zunächst vor dem Fernseher. Doch nach und nach entwickelt sich eine echte Beziehung zwischen dem misanthropen und dem in der Schule gemobbten Jungen. Allerdings sind Vincents Dien­ ste als Babysitter eher unkon­ ventionell und auch nicht gerade pädagogisch wertvoll. er nimmt Oliver mit in seine eckkneipe, zum Wetten auf die Pferderennbahn und lässt ihn Bekanntschaft mit der schwan­ geren Stripperin Daka machen. Außerdem bringt er ihm das Boxen bei, damit Oliver sich gegen seine Widersacher weh­ ren kann. es ist ein sympathischer, authentischer, gar nicht rührse­ liger Kosmos, den der einstige Werbefilmer theodore melfi in seinem Kinodebüt entwirft und der dem Film Drive und Humor

verleiht: etwa Vincents Bezie­ hung zu der von naomi Watts mit offensichtlichem Spaß an der Sache gespielten Daka, die zwar auf Geld und recht herben Umgangsformen beruht, aber auch von einer gegenseitigen Wertschätzung geprägt ist. Oder die verspielte einführung in Vincents Familiengeschichte, als er zusammen mit Oliver als Arzt verkleidet eine insassin eines Altersheims besucht und mit dieser flirtet – später stellt sich heraus, dass es sich bei der Dementen um seine eigene Frau handelt. »St. Vincent« hat inszenatorisch manche Überraschungen zu bieten, allem voran durch die Besetzung der Krawallnudel melissa mcCarthy als gänzlich normale, von Arbeit und Kin­ dererziehung gestresste mutter. ein leiser Witz entsteht dadurch, dass sie, die mit Pöbe­ leien und ordinären Sprüchen in Filmen wie »Brautalarm« oder »taffe mädels« bekannt wurde, nun auf der sprichwörtlich anderen Seite des Gartenzauns steht und gegenüber dem unseriösen Vincent die bürger­ lichen Werte verteidigt. mcCar­ thy zeigt hier, dass sie auch lei­ sere töne beherrscht. Auch naomi Watts als prollige Komö­ dienfigur ist ein Casting­Coup und ebenso gelungen gegen den Strich besetzt. Die Ausgangsidee von »St. Vin­ cent« stammt von melfis nichte, die für die Schule einen inspirierenden katholischen Heiligen und dessen reales »Pendant« im Alltag finden sollte. Oliver, der, so erfährt man erst relativ spät und nebenbei, von maggie adop­ tiert wurde, wählt dafür den Patron der adoptierten Kinder, William of rochester. Und stellt ihm Vincent zur Seite, in dem er »heilige Qualitäten« – Opfer­ bereitschaft und Hingabe, die Welt besser zu machen – zu erkennen meint. Das ist der

Punkt, an dem der Film ansatz­ weise ins Sentimentale driftet. Ohne einen pathetischen Kul­ minationspunkt wie die Schul­ veranstaltung, auf der Oliver in einer ausführlich ins Bild gesetzten Power­Point­Präsen­ tation seine »Heiligen«­Wahl erklärt, scheint es in einer Familienkomödie aus Holly­ wood einfach nicht zu gehen. Und so ist im Finale eine große, vielleicht etwas zu glückliche Patchwork­Familie um Vincents tisch versammelt. Was das Ver­ gnügen an diesem ebenso wit­ zigen wie warmherzigen Film, der ansonsten eben gerade nicht auf vordergründige rühr­ seligkeit setzt, aber nicht son­ derlich schmälern kann. Katharina Zeckau bewertung der filmkommission

komödie um einen mürrischen alten mann aus brooklyn, der sich von seiner neu zugezogenen nach­ barin überreden lässt, in ihrer abwesenheit auf deren 12­jährigen sohn aufzupassen. der misanthrope rentner schleppt den Jungen daraufhin mit in einen nachtclub, auf die rennbahn oder eine bar, woraus sich eine art vater­sohn­ beziehung entwickelt, in der beide sehr unterschiedliche dinge vonei­ nander lernen. ein durchweg guter, in nebenrollen auch sehr gelungen gegen den strich besetzter debüt­ film, der seinen humor und seinen drive aus einem authentisch gezeichneten kosmos bezieht, auch wenn der film gegen ende etwas zu sehr ins sentimentale abrutscht. – ab 14.

usa 2014 regie: theodore melfi darsteller: bill murray (vincent), Jaeden lieberher (oliver), melissa mccarthy (maggie), naomi watts (daka), chris o’dowd (bruder geraghty) länge: 103 min. | kinostart: 8.1.2015 Verleih: polyband | fsk: ab 6; f fd-kritik: 42 825

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neue filme kritiken

amour fou

heinrich und henriette beschließen zu sterben

»Wollen Sie mit mir sterben?«, fragt der junge, offenkundig recht schüchterne mann unvermittelt eine fremde Dame. Die errötet und blickt noch ein wenig ent­ schlossener zu Boden, auf das geometrische muster eines Ses­ sels. Doch entgegen manchen Gerüchten ist dies kein Film über Heinrich von Kleist, Henriette Vogel und den gemeinsamen Selbstmord der beiden am Wannsee. Die Werbetexte zum Film führen auch in die irre, wo sie suggerieren, hier würde irgendet­ was von Belang über jene epoche um 1800 ausgesagt, in der die moderne entstand und in der Kleist, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller aller Zeiten, texte schrieb, die wie weniger andere zum Ausdruck einer geistig­ästhetischen revolu­ tion wurden. ein paar hübsche Kleist­Sätze dekorieren die ein­ fälle und erfindungen der macher, Kostüme und möbel entsprechen weitgehend unserer Vorstellung der epoche – mehr historischen Bezug gibt es nicht. Unter den zahlreichen Filmen über diese epoche ist »Amour Fou« ein Solitär. Zu seinem histo­ rischen Gegenstand verhält er sich ähnlich wie der zu Unrecht

vergessene »Baader« von Christo­ pher roth. Fehlte nur noch, dass sich »Heinrich« am ende des Films doch nicht umbringt. Soviel Chuzpe geht Jessica Hausner, die begabteste österreichische regis­ seurin nicht nur ihrer Generation, allerdings ab. Der name Kleists fällt aus guten Gründen nie. man tut »Amour Fou« daher einen Gefallen, wenn man ihn als völlige Fiktion begreift. Heinrich und Henriette sind lose Bekannte, sie lieben sich nicht, aber vertrauen einander, zumin­ dest so weit, dass es zu den Vor­ bereitungen ihres gemeinsamen Freitods taugt. Hauptfigur Henri­ ette ist eine verheiratete mutter und chronisch krank. Heinrich wirkt egoman, frivol, und ohne erkennbaren leidensdruck. eine lachnummer. Frühere Filme von Hausner besa­ ßen einen sehr besonderer Humor, der auf die Skurrilität zwischen­ menschlicher Kommunikation zielte, auf die Abgründe, die jeden einzelnen von allen anderen tren­ nen. Diese kann man auch in »Amour Fou« finden. mehr aber interessiert Hausner an dem Stoff ein universales Frauenschicksal mit feministischen Konsequenzen. Henriette ähnelt Hausners ande­

ren Frauenfiguren: Verloren, pas­ siv, dabei gierig auf neues und offen, wird sie zum Opfer der rituale einer männergeprägten Welt. ihr letzter Satz bricht ein­ fach ab: »Was ich noch sagen wollte...« So funktioniert der Humor des Films: mehr edel kostümierter Salon­Zynismus als ironie. Stilistisch ist dies ein Antikostüm­ film­Kostümfilm, eine didaktische lektion für alle, die in vergan­ genen Zeiten schwelgen möch­ ten: eintauchen darf nicht sein, Anteilnahme ist trug, zur empö­ rung soll es nicht kommen, Abbilder gehören dekonstruiert und Wahrheit ist sowieso illusion – dies ist inzwischen akade­ mischer mainstream. Der Schauspieler­ton schwankt zwischen Bresson‘schem »leer Sprechen«, rohmer‘scher Zurück­ haltung und unvermitteltem Overacting, wie man es von theaterschauspielern kennt. Jeder befindet sich hier auch sprachlich in seiner eigenen Welt. Die Bilder sind makellos, aber auch clean; ihre Aseptik steigert den eindruck des Artifiziellen noch. Alles ist starr und leblos, es gibt keine Zooms und keine Schwenks, keine einzige Kamera­

fahrt, bis auf eine am ende – der tod als Befreiung aus einem statischen lebenskäfig? noch nie hat Hausner so wenig spielerisch gewirkt, noch nie so skrupulös wie in ihrem ersten »historischen« Werk. Während Dominik Grafs »Die geliebten Schwestern« ein Film der Bewe­ gung ist, so ist dieser ein Film der Starre, so wie jener uns die Figuren nahebringen, das, was an ihnen aktuell, universal und heu­ tig ist, herausarbeiten will, so möchte »Amour Fou« uns seine Figuren fernhalten. im Gegensatz zum konventionellen Historien­ kino setzt Hausner statt auf Ver­ fremdungseffekte auf reine Künstlichkeit. nur die Hunde sind hier lebendig. Von Kleist hätte man jedenfalls lernen können, dass ratio und Anmut, Kontrolle und Grazie einander bedingen. Rüdiger Suchsland bewertung der filmkommission

der dichter heinrich von kleist (1777­1811) findet in seiner bekannten henriette vogel (1780­ 1811) eine seelenverwandte und schließt, als sie von einer tödlichen erkrankung erfährt, mit ihr einen selbstmordpakt. das in makellosen, aber aseptischen bildern fixierte historiendrama stellt die ebenso kluge wie verlorene junge frau in den mittelpunkt und beschreibt ihr schicksal auf universale weise. dar­ stellerisch uneinheitlich, verweigert der film jede form von lebendig­ keit; in seiner artifiziellen kunst­ sprache wird er weder der darge­ stellten epoche noch seinen figuren gerecht. – ab 16.

Österreich/deutschland 2014 regie: Jessica hausner darsteller: birte schnöink (henriette), christian friedel (heinrich), stephan grossman, sandra hüller, katharina schüttler länge: 96 min. | kinostart: 15.1.2015 Verleih: neue visionen | fsk: ab 6; f fd-kritik: 42 826

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