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+++ MARLENE DIETRICH +++ JOAN FONTAINE +++ WOJCIECH KILAR +++ MARTIN SCORSESE +++

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

liTera Tur

Fotos von F.W. murn au

€ 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 67. Jahrgang | 16.01.2014

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kino aus Dem neTz

Ist Video-on-Demand die Zukunft des Mediums Film? Eine Bestandsaufnahme mit den wichtigsten Internet-Anbietern viDeokunsT unD kino

Steve McQueen

Matthew McConaughey Mit „Dallas Buyers Club“ wandelt sich der Hollywood-Star vom romantischen Helden zum versierten Charakterdarsteller

Der britische Videokünstler erobert mit „12 Years a Slave“ die Kinoleinwand kinovorschau

Hochsaison in Hollywood Das aktuelle amerikanische Kino glänzt mit Vielfalt und großen Namen

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Akteure

Kino 20

FRIEDRICH WILHELM MURNAU

alle Filme im tV vom 18.1. bis 31.1. Das extraheft

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VIDEO-ON-DEMAND Internet-Downloads oder Video-Streams werden von der Filmbranche immer stärker als rentable Vertriebswege genutzt. Sogar die Filmkunst findet hier einen Platz. Eine Bestandsaufnahme. Von Olaf Brill + die wichtigsten Internet-Adressen

Der deutsche Stummfilm-Regisseur war auch ein begeisterter Fotograf. Bilder aus seinem privaten Fotoalbum sind nun erstmals in einem Bildband zu erleben. Von Daniel Kothenschulte

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MATTHEW MCCONAUGHEY Nachdem er jahrelang nur als romantischer Held zu sehen war, konnte der Schauspieler sich zuletzt mit Charakterrollen eindrucksvoll neu erfinden. Von Marius Nobach

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JULIA VON HEINZ Die Regisseurin greift in „Hannas Reise“ auf unkonventionelle Art Holocaust-Aufarbeitung und das schwierige deutschisraelische Verhältnis auf. Ein Gespräch. Von Margret Köhler

26 Marie Antoinette 26.1. SRF 2 Ein Leben für ein Leben 27.1. mdr

16 STEVE MCQUEEN Mit „Hunger“, „Shame“ und aktuell „12 Years a Slave“ hat der britische Videokünstler gezeigt, dass er auch ein herausragender, stilistisch ambitionierter Spielfilmregisseur ist. Ein Porträt. Von Tim Slagman

IN MEMORIAM Joan Fontaine, die in Hollywood-Filmen der 1940er-Jahre willensstarke, sensible Frauen spielte, und Marta Eggerth, Operetten-Filmstar der 30er-Jahre, sind gestorben.

Fotos: TITEL: Ascot Elite. S. 4/5: farbfilm, Realeyz, Tobis, FD-Archiv, Rapid Eye Movies, Paramount, missingFilms.

Platoon 18.1. rbb Fernsehen

Marta eggerth (1912-2013) verzauberte das Publikum mit ihrer stimme.

Deutsches Drama am Meer: „nordstrand“

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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sinnliche Verführerin mit leicht proletenhaftem touch: Marlene Dietrich in Josef von sternbergs „Der blaue engel“

Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

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schmerzhafte reisen in die Vergangenheit unternehmen ein alter, dementer amerikaner in „nebraska“ und zwei deutsche brüder in „nordstrand“. Die jungen ägyptischen künstler in „art War“ setzen dagegen alles daran, ihr land aus den klauen überkommener traditionen zu befreien.

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s. NEBRASKA

kinoTiPP der katholischen Filmkritik

s. 40 A Touch of Sin [16.1.] Drama von Jia Zhangke

Film-Kunst

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Schuld und Mitschuld der deutschen Durchschnittsbürger an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs sind das Thema zweier Nachkriegsfilme. Von Ralf Schenk

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Fotos: TITEL: Ascot Elite. S. 4/5: farbfilm, Realeyz, Tobis, FD-Archiv, Rapid Eye Movies, Paramount, missingFilms.

NEUE US-FILME Zum Ende des Jahres 2013 hat Hollywood mit außergewöhnlich vielfältigen und anspruchsvollen Filmen überrascht. Diese laufen bald auch in Deutschland an. Von Franz Everschor + die wichtigsten neuen US-Filme

DVD-PERLEN

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s. ART WAR

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über den Schauspieler Bruce Dern, der nach 50 Jahren im Geschäft mit „Nebraska“ die Rolle seines Lebens erhielt und nun im Rennen um den „Oscar“ ist (S. 27).

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MAGISCHE MOMENTE Als „fesche Lola“ war Marlene Dietrich in „Der blaue Engel“ eine Femme fatale aus dem Bierdunst einer Kaschemme. Die Rolle machte sie zum Star. Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

Art War [23.1.] Blick in den Abgrund [23.1.] Der blinde Fleck [23.1.] Crashkurs [23.1.] Crulic - Weg ins Jenseits [16.1.] Erbarmen [23.1.] Erkekler - Männersache [19.12.] Hannas Reise [23.1.] Homefront [23.1.] Illusion [23.1.] Land in Sicht [23.1.] Meine liebe Frau Schildt [23.1.] Nebraska [16.1.] Nordstrand [23.1.] Paranormal Activity: Die Gezeichneten [2.1.] Das radikal Böse [16.1.] The Wolf of Wall Street [16.1.] Über das Meer [16.1.] Youth [23.1.] Zwei vom alten Schlag [9.1.]

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s. NORDSTRAND

Der Mann, der John Wayne erschoss

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Meister ausgeklügelter Bildkompositionen: Steve McQueen führt Regie bei „12 Years a Slave“.

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Der regisseur unD ViDeokünstler steVe McQueen erobert Das kino

dasFleisch seineBegierdenund seineVerletzlichkeit Mit seinen drei Langfilmen „Hunger“, „Shame“ und „12 Years A Slave“ hat sich Steve McQueen als einer der derzeit interessantesten britischen Regisseure etabliert. Zusammen mit seinem Stammschauspieler Michael Fassbender und seinem Kameramann Sean Bobbitt lotet er stilistisch ambitioniert menschliche Zwangslagen aus. Von Tim Slagman

Ü

berall gibt es Wände. Sie sind mal unsichtbar, stehen meist aber mitten im Bild. Bisweilen teilen sie es vertikal und lassen den Zuschauer in unterschiedliche Räume blicken, etwa in „Shame“, wo sie Zeichen der sterilen Kahlheit eines New Yorker Apartments sind, in dem ein erfolgreicher Geschäftsmann ein triebgesteuertes, einsames, leeres Leben führt. Dann wieder füllen die Wände das Breitwandbild ganz aus und pferchen den Zuschauer in dieselbe enge, kotbeschmierte Zelle, in der in „Hunger“ die IRA-Aktivisten sitzen. Dann wieder schwebt die Kamera mit verlogener Eleganz an den Wänden vorbei, hinein in die einzelnen Räume eines perversen, violinklanggezuckerten Sklavenmarkts – in „12 Years a Slave“ (Kritik in dieser Ausgabe). Der britische Regisseur und Videokünstler Steve McQueen dreht Filme über Gefangenschaft. Sein Werk umfasst bisher drei Arbeiten in Spielfilmlänge. Der Cannes-Gewinnerfilm „Hunger“ (2008) handelt vom Hungerstreik von IRA-Aktivist Bobby Sands (Michael Fassbender), der 1981 im nordirischen Maze Prison starb. Michael Fassbender war bislang in allen Filmen McQueens in Schlüsselrollen zu sehen,

so spielte er in „Shame“ (2011) einen Mann, der in seinem Inneren gefangen scheint – unfähig zur Liebe, besessen von Sex. Die Kälte seiner Wohnung und die grauen Betonschluchten des Molochs New York sind in gewisser Weise Seelenlandschaften. „12 Years a Slave“ (2013) entstand nach den Erinnerungen des Afroamerikaners Solomon Northup, der 1841 aus dem Bundesstaat New York in den Süden verschleppt wurde, wo die Sklaverei seinerzeit noch legal war. „Ich wollte diese Geschichte in Bildern erfahren“, sagt McQueen. Erfahrung meint bei diesem Künstler, der 1999 mit dem renommierten „Turner Prize“ ausgezeichnet wurde, niemals nur die sinnliche Rezeption einer ästhetischen Komposition oder die Konstruktion einer Sinneinheit im Dienste der fortschreitenden Erzählung. Zu seinen aktuellen fotografischen Arbeiten gehört beispielsweise „Lynching Tree“, ein fotografisches Komplement zu „12 Years a Slave“. Die Aufnahme zeigt einen Baum in der Nähe von New Orleans, an dem früher tatsächlich Sklaven aufgeknüpft wurden. Natürlich erzählt das knorrige, düstere Stammund Zweigwerk seine Geschichte nicht von allein, vielmehr sind es der Titel und die Verbindung zum Film, die einen

Assoziationsraum herstellen. Oder scheint uns der Baum nur deshalb düster und knorrig, weil wir um seine blutige Vergangenheit wissen? Viele Kompositionen McQueens bestechen gerade durch ihre Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten. Michael Fassbender als Bobby Sands liegt in „Hunger“ auf seinem Gefängnisbett, ausgezehrt, krampfgeschüttelt, sterbend. Mit lautem Flügelschlag erhebt sich eine Schar Vögel in einer Überblendung aus kahlen Baumwipfeln, schwarz, wie in einem Scherenschnitt. In einer Welt, die bislang nur aus Mauern bestand, muss man das als Befreiung verstehen, auch wenn das Bild eine Düsternis behält und das Flattern des Schwarms etwas Bedrohliches verbergen mag. Die Boten der Unterwelt, sie sind Verheißung und Untergang zugleich. „Shame“ ist eingerahmt von zwei Blickwechseln, einer Standardsituation des Kinos. Dennoch war selten so viel Unausgesprochenes in den Augen der Menschen wie bei McQueen: Ein ganz anderer Fassbender, gepanzert, äußerlich elegant, glatt rasiert, mit mehr als nur einem Anflug von Arroganz sieht in der U-Bahn eine Frau. Er sieht sie nicht nur: Er starrt sie an. Erst geschmeichelt, dann unsicher beginnt sie zu lächeln.

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Fotos: S. 16: Tobis Film; S. 18: fugu films/Prokino/Tobis Film.

Die bedeutung der körpersprache ist ein wiederkehrendes element in McQueens Filmen: „Hunger“, „shame“, „12 Years a slave“ (von oben).

Sein Gesicht bleibt unbewegt, eine Maske der berechnenden Verführung womöglich. Sie schaut weg, irritiert, verletzt. Als sie die Bahn verlässt, stellt er sich auffordernd neben sie, folgt ihr. Sie flieht. Es sind solche Momente, in denen deutlich wird, wie McQueen seine Arbeit als Videokünstler von der als Regisseur unterscheidet. Sicherlich sind in seinen Spielfilmen Zugeständnisse an das klassische Erzählkino zu erkennen, die von „Hunger“ bis „12 Years a Slave“ immer auffälliger werden. Aber mindestens so augenscheinlich sind die Szenen, in denen er seinen Schauspielern freien Raum gibt, die Komposition mit ihrem spezifischen Ausdruck zu bereichern. Das mögen zum einen Dialogsituationen sein: Über 20 Minuten lässt McQueen in „Hunger“ in einer unbewegten Einstellung Bobby Sands und einen Priester über Sinn und Unsinn des Hungerstreiks debattieren. Fassbender und Liam Cunningham füllen den statischen Raum mit kleinen Gesten, unterdrückten, selten wohlmeinenden Lachern, mit Zigarettenrauch und leiser Aggression auf dramatische Weise aus. Aber es sind selbstverständlich auch solche Momente, in denen die Figuren mit ihren Körpern sprechen müssen. Das Fleisch, seine Begierden und seine Verletzlichkeit stehen im Zentrum des politischen Kinos, das McQueen macht, sie sind – wie für Bobby Sands der eigene Leib – seine Waffe und sein Propagandainstrument. Dies bedeutet freilich nicht, dass McQueen die Prügel und die Marter als Bildeffekt ausschlachtete. In „12 Years a Slave“ hat er die Inszenierung der Gewalt am weitesten ausdifferenziert. Es gibt Szenen, in denen er unerbittlich draufhält, wenn Solomon Northup, der es wagt zu behaupten, er sei in Wahrheit ein freier Mann, mit einem Brett geprügelt wird. Dann wieder saugt die Kamera sich bei einer Auspeitschungsorgie fest an den Gesichtern der Peiniger. Während Solomon anscheinend für Stunden an einem Ast aufgeknüpft ist, mit den Zehenspitzen gerade noch den Boden berührend und so sein Leben rettend, verrichten im Hintergrund seine verschüchterten Leidensgenossen weiter ihr Tagwerk. Und eine Sklavin, die mit einer Vase niedergestreckt wird, bricht zusammen und verschwindet wie nebenbei aus dem Blick – der ein Blick der herrschenden Klasse ist, die sich weigert, die Opfer in Augenschein zu nehmen. Sean Bobbitt hat alle bisherigen Langfilme von Steve McQueen fotografiert. 2002 stieg er für

Steve McQueen

McQueen mit einer Super-8-Kamera und den Arbeitern in die tiefste Goldmine der Welt herab: Tau Tona in Südafrika, die das Apartheid-Regime noch „Western Deep“ nannte. Die klaustrophobischen, dunklen Aufnahmen von damals und die trügerische Eleganz der fließenden Kameraläufe sowie der suggestiv-artifiziellen Bildkompositionen von „12 Years a Slave“ scheinen wenig miteinander gemein zu haben – außer einem direkten, aufklärerischen und, ja, aufrüttelnden Impuls. Die Erinnerungen von Solomon Northup vergleicht McQueen, der in seiner Wahlheimat Amsterdam lebt, mit dem „Tagebuch der Anne Frank“. Nationale Grenzen sollen keine Rolle mehr spielen in diesen Erzählungen von Unterdrückung. McQueens Eltern stammen von Grenada. „Es geht nicht um meine Nationalität als Brite, sondern darum, dass ich ein Teil dieser Tradition bin“, sagt der Regisseur. „Wenn man diese Erlebnisse nicht wahrhaftig erzählt, dann respektiert man sein Publikum nicht.“ Dieser Wahrhaftigkeit hat McQueen in „12 Years a Slave“ viele seiner Ambivalenzen geopfert. Er und Bobbitt führen in den eindrucksvollsten Bildern Geschichte und Geschichten zusammen, sie verdichten sie zu Tableaus, in denen die Spannung von Gesellschaft und Individuum ihren Ausdruck findet. Mehrdeutig sind diese Einstellungen nicht mehr. Weil Steve McQueen von der Videokunst kommt und auch Fotograf ist, eben ein „visual artist“, neigt man womöglich dazu, den Ton seiner Langfilme als Marginalie abzuhaken. Dabei leben viele seiner Szenen auch davon. Etwa von dem paradoxerweise perfekt arrangierten Stimmenchaos in einem Gefängnisgottesdienst in „Hunger“ – der Priester predigt verzweifelt an gegen die eifrig konspirierenden Häftlinge, denen sonst kaum ein Austausch gestattet ist. Es gibt in demselben Knast einmal eine Reinigungsaktion: Der Besen schrubbt scheinbar endlos den Urin der Gefangenen aus dem Gang, wie eine Waffe schiebt er sich nach vorne, die alles vor und unter sich zu zermalmen scheint. Dann ist da die trügerische Kontemplation der Klavierläufe von Glenn Gould in „Shame“, die die krasse Sex-Sucht erheben und sie zugleich in ihrer physischen Eindimensionalität entlarven. Und die Violine, die einmal das Handwerkszeug war, mit dem Solomon Northup sich seinen Lebensunterhalt verdiente: Sie spielt später, bei der Fleischbeschau, den Sound seiner Erniedrigung.

kino

steVe McQueen Geboren 1969 in London, lebt und arbeitet in Amsterdam und London. 1989-90 Studium am Chelsea College of Art and Design, 1990-93 am Goldsmiths College, beide London, 1993-94 an der Tisch School of the Arts, New York University. 1999 Stipendiat des DAAD-Programms Artists-in-Residence in Berlin. 2003 berufen zum offiziellen Kriegskünstler Großbritanniens für den Irak-Krieg. 2009 vertritt Großbritannien auf der „Biennale” in Venedig. Bis Ende August 2013 zeigte die LaurenzStiftung/Schaulager Basel die erste umfassende Ausstellung des britischen Videokünstlers und Filmemachers: www.schaulager.org/smq/de/ausstellung/ steve-mcqueen.html Auf dieser Website sind zwei ausführliche Gespräche mit Steve McQueen einsehbar: «Artist’s Talk» 17. März 2013. Steve McQueen im Gespräch mit Hamza Walker, Associate Curator and Director of Education an der Renaissance Society in Chicago (Englisch, 71 Min.) «Artist’s Talk» 24. Mai 2013. Steve McQueen im Gespräch mit Adrian Searle, Kunstkritiker „The Guardian“, London (Englisch, 46 Min.) Anlässlich der Ausstellung erschien zudem der Katalog „Steve McQueen. Werke“ mit Essays, einem ausführlichen Gespräch sowie vollständigen Werk-, Ausstellungsund Literaturverzeichnissen. Hrsg. Laurenz-Stiftung, Kehrer Verlag Heidelberg/Berlin 2013, 262 S., 35,00 EUR. Website zu Steve McQueens Objekt „Queen and Country“: www.artfund.org/queenandcountry/ index.php

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The Wolf of Wall sTreeT [16.1.]

Was kostet die Welt? Eine überbordende Satire auf die kapitalistische Gier Nach den Gangstern von „Good Fellas“ und den Spielbank-Haien von „Casino“ stürzt sich Martin Scorsese in vorgerücktem Alter noch einmal in die Welt der Superreichen und Gewissenlosen, die den Sohn streng katholischer Einwanderer aus Italien sein Leben lang fasziniert haben. Diesmal vertauscht er die schussfreudigen Ganoven und leichtfertigen Spielernaturen mit ehrgeizigen Börsenmaklern, wobei er vollkommen zu Recht unterstellt, dass sich zwar die Methoden der amerikanischen Emporkömmlinge verändert haben, ihre Amoralität darunter aber nicht gelitten hat. Bernie Madoff und Genossen lassen grüßen. Sagt Scorsese mit dem drei Stunden langen Film etwas Neues? Nein. Bringt er es mit seinem in

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jeder Beziehung hemmungslosen Sittengemälde fertig, den Zuschauer aus der Lethargie gleichförmiger Hollywood-Filme in eine Art Fieberwahn grenzenloser Gesellschaftskarikatur zu katapultieren? Keine Frage. Gleich von der ersten Szene an ist man mittendrin in einer orgiastischen Darstellung des Exzesses, in einem AdrenalinTrip voller Kokain und Nutten, in einer vulgären und gleichzeitig erschreckenden Screwball-Komödie über den moralischen Niedergang Amerikas. Wie es heute in Hollywood üblich ist, hat auch Scorseses seinen Helden dem wahren Leben entliehen. Hinter der Filmstory steht der Börsenmakler Jordan Belfort, dessen Autobiografie dem Drehbuchautor Terence Winter in die Hände fiel.

im Kino

Der hatte schon bei den Fernsehlistenreicher Schweizer Bankier und serien „The Sopranos“ und „Board- seine bereitwilligen Helfershelfer walk Empire“ dafür gesorgt, dass den Zorn des Gesetzes weit mehr aus dem übergroßen Ich der realen zu spüren als er, der in einem „MiniHelden mythische Figuren wurden. mum Security Prison“, wo für Geld Auch bei „The Wolf of Wall Street“ alles zu haben ist, nach wie vor die tut er sich nicht schwer, aus Belfort Vorteile seines Luxuslebens genießt. einen von Moral und Gewissen Scorsese hat sich auf diese Story unbeleckten Beherrscher der Klageworfen, als wollte er dem Publiviatur menschlicher Gier zu kum mit einem Übermaß an machen. Binnen kürzester Zeit Exzess und Sarkasmus einhämsteigt der Protagonist vom Pennymern, wie verworfen doch die Stocks-Händler zu einem mit MilliWelt der Jordan Belforts ist. Er onen um sich werfenden Börsenlässt eine wahre Sturzflut von makler auf. Amoralität auf den Zuschauer los, Die Inszenierung suhlt sich in den in der Regeln gebrochen, Träume Ausschweifungen dieser Blitzkarrizerstört und egoistische Selbstbeere, die oft eher wie ein modernes friedigung gefeiert werden. Der Sodom und Gomorra aussehen, als Film wirkt wie ein total überdass sie einen Blick hinter die ehrdrehter Fiebertraum, beständig zu würdigen Mauern von Wall Street neuen Höhepunkten getrieben werfen würden. Egal, ob Belfort durch die fulminante technische seine Opfer mit wortgewandter Perfektion und die elektrisierende, Überredungskunst in sein Lügenalle Vorsicht fahren lassende Dargespinst angeblich unfehlbarer stellung der Hauptperson. Auch Investitionen lockt, ob er hoffkomplizierte Massenszenen und nungslose Makler einer herunterhautnah am Eingriff der Zensur gekommenen Strip Mall in Long vorbeimanövrierte Sequenzen Island in fiebernde Abbilder seiner beherrscht Scorsese inzwischen eigenen Hemmungslosigkeit vermit einem Geschick, das andere wandelt oder seine etwas farblose Hollywood-Regisseure vor Neid Ehefrau gegen ein weibliches Auserblassen lassen müsste. hängeschild des eigenen Erfolgs Die Missachtung aller konventioeintauscht – alles, was er anfasst, nellen Grenzen und die überborwird zu Geld. dende Energie, mit der die InszeJordan Belfort ist eine Inkarnation nierung lustvoll gegen sie verder 1990er-Jahre, in denen in Amestößt, machen bisweilen sprachlos, rika alles ging, solange man sämtschlagen aber auch in eine sehr liche illegalen Tricks beherrschte. In bewusst kalkulierte Satire um, die Konflikte gerät Belfort erst, als sich „The Wolf of Wall Street“ zu einem ein unbestechlicher FBI-Agent an der komischsten und in seiner seine Fersen heftet. Aber auch die Komik entlarvendsten Filme der dritte Stunde von „The Wolf of Wall jüngeren amerikanischen ProdukStreet“, die man den Absturz nentionsgeschichte werden lässt. nen könnte, hat nicht die mindeste Dabei geht allerdings die EmpaÄhnlichkeit mit den moralischen thie, die Scorsese früher nicht einImplikationen der Gangsterfilme mal dem niederträchtigsten eines Edward G. Robinson oder Schurken verweigerte und die seiRobert Stack. Auch im Niedergang nen Figuren stets einen menschlibleibt Belfort ein von vielen bewun- chen Akzent verlieh, weitgehend dertes Sinnbild des Größenwahns verloren und weicht einem alles und der Egozentrik, denen Amerika überschattenden Zynismus. seinen Ansehensverlust in der Welt Formal gerät dem Film zum Nachzu verdanken hat. Obwohl Belfort teil, dass große Regisseure heute verurteilt wird, bekommen sein oftmals ihre eigenen Produzenten

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sind und es keinen David O. Selznick mehr gibt, der auch einen Alfred Hitchcock in die Grenzen zu weisen vermochte. Trotz aller Vitalität, die „The Wolf of Wall Street“ bis zum Schluss nicht abzusprechen ist, bewirken auch die spektakulärsten Szenen in ihrer jedes übliche Zeitmaß sprengenden Häufung nämlich auf Dauer ein Gefühl der Monotonie, das sogar Leonardo DiCaprios mimische und physische Kunststücke nicht gänzlich überspielen können.

hannas reise [23.1.]

spurwechsel in israel

Erfrischende Komödie über deutsch-jüdische Bande

Die Dame auf dem Pezziball ment-Center. Ein Erzählstrang wippt zustimmend, als Hanna im reflektiert ihre langsame Abkehr Franz Everschor Bewerbungsgespräch über ihr vom reinen Effizienzdenken und soziales Engagement referiert: ein dreht sich um Hannas Verhältnis zu Praktikum in Israel, Arbeit mit einer Frau namens Mira, die stänScope. USA 2013 Behinderten. Eigentlich will Hanna dig nach der Uhrzeit fragt. Hanna dieses Praktikum gar nicht antreverspricht ihr eine eigene Uhr, regie: Martin Scorsese ten, sondern Karriere machen. wenn sie gelernt habe, diese auch buch: Terence Winter Aber ihre Mutter macht ihr einen zu lesen. Sie müsse mit Mira doch kamera: Rodrigo Prieto Strich durch die Rechnung. Diese „nichts erreichen“, merkt ihr schnitt: Thelma Schoomaker weigert sich nämlich, der Tochter Betreuer Itay an. Der gut aussehDarsteller: Leonardo DiCaprio (Jordan Belein falsches Zeugnis auszustellen. ende Israeli begegnet Hannas fort), Jonah Hill (Donnie Azoff), Margot RobAlso muss sich die künftige Unterabweisendem Zynismus mit bie (Naomi Lapaglia), Matthew McConaughnehmensberaterin tatsächlich auf menschlicher Wärme und amüsierey (Mark Hanna), Kyle Chandler (Patrick die Reise machen. tem Sarkasmus – inklusive Witzen Denham), Rob Reiner (Max Belfort), Jon FaWenn es in Julia von Heinz’ „Hanüber den Holocaust. Im weiteren vreau (Manny Riskin), Jean Dujardin nas Reise“ Abziehbilder oder KliVerlauf ist er maßgeblich an der länge: 180 Min. | Fsk: ab 16; f schees gibt, dann zu Beginn. HanErschütterung von Hannas zielstreVerleih: Universum | kinostart: 16.1.2014 nas Mutter (Suzanne von Borsody) bigen Plänen beteiligt. FD-kritik: 42 145 ist eine 1968er-Friedensaktivistin Schon in ihrem Dokumentarfilm Handwerk wie aus dem Bilderbuch: unge„Standesgemäß“ (2008) deutete InHalt schminkt, in Hippie-Klamotten. sich das außerordentliche Gespür darSteller Ihre Tochter im Business-Outfit der Filmemacherin für Komik an. zelebriert ihre Art der Abgrenzung: Das von ihr mitverfasste Drehbuch Karriere ohne Rücksicht auf Vervon „Hannas Reise“ orientiert sich beWertung Der luste, ein ebenso erfolgsorienlose an Motiven des Romans „Das FilMkoMMission tierter Freund, mit dem sie gerade war der gute Teil des Tages“; wie In den 1990er-Jahren steigt ein kleiner in ein aseptisches Loft zieht. Diedieser pflegt es einen unverUS-Börsenmakler mit Geschick und ser – auch psychologisch – ein krampften Umgang mit dem senGewissenlosigkeit zum meisterhaften simple Rahmen wird allerdings nur siblen deutsch-israelischen VerManipulator von Menschen und Millioskizzenhaft umrissen und durch hältnis. Der Fokus liegt auf der nen auf. Die auf einer realen Figur basievergnügliche Dialoge und Details dritten Generation: Hanna steht für rende Geschichte inszeniert Martin aufgewertet. Hanna sitzt dann die deutschen Tweens, für die der Scorsese als überbordende, streckenohnehin sehr schnell im Flugzeug. Holocaust Teil des Geschichtsunweise entwaffnend komische Satire auf Und in Israel gestalten sich die terrichts ist und die keine Ahnung eine maßlose Gesellschaft. Die elektriDinge ungleich komplizierter. haben, was „ihre Großeltern im sierende Darstellung hemmungslosen „Behinderte Juden“ zählten doppelt Krieg gemacht“ haben. In Israel Exzesses gerät durch die Anhäufung im Lebenslauf, proklamiert Hanna wird sie jedoch zur Auseinanderorgiastischer Karikaturen allerdings bei zynisch. Doch sie merkt recht setzung gezwungen – nicht zuletzt einer Laufzeit von drei Stunden mitunter schnell, dass sich die Arbeit mit durch den Teil ihrer „Mission“, bei an den Rand der Monotonie. – Ab 16. den Behinderten nicht so durchdem sie eine „Überlebende“ trifft. kalkulieren lässt wie ein AssessDie Dialoge sind politisch inkorrekt

und lebensnah; die Figuren sind bis in die zahlreichen Nebenfiguren aufmerksam austariert; alltägliche Beobachtungen und scheinbar Nebensächliches spielen eine wichtige Rolle. Die Abziehbilder des Beginns wandeln sich so in vielschichtige, lernfähige Menschen. Neben dem guten Drehbuch und der sensiblen Regie ist dies auch den Schauspielern zu verdanken. Der Nachwuchsdarstellerin Karoline Schuch gelingt der Spagat, aus der anfangs unsympatischen Hanna eine Identifikationsfigur herauszuschälen. Zwischen ihr und ihrem Gegenüber Doron Amit, der in Israel ein Star ist, stimmt die Chemie. Julia Teichmann

beWertung Der FilMkoMMission Eine ehrgeizige BWL-Studentin reist nach Israel, um ihren Lebenslauf durch die ehrenamtliche Arbeit in einem Behindertendorf aufzuwerten. Der Umgang mit den Menschen und die vielfältigen Einflüsse zwingen sie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Herkunft; doch auch in Liebesdingen entdeckt sie Neues. Die komödiantisch akzentuierte Liebesgeschichte lotet mit angenehmer Leichtigkeit das deutsch-israelische Verhältnis aus. Die Dialoge sind amüsant und lebensnah, die überwiegend jungen Darsteller spielen frisch und überzeugend. – Ab 14.

Deutschland 2013 regie: Julia von Heinz buch: John Quester, Julia von Heinz kamera: Daniela Knapp Musik: Matthias Petsche Darsteller: Karoline Schuch (Hanna), Doron Amit (Itay), Max Mauff (Carsten), Lore Richter (Maja), Trystan Pütter (Alex), Lia Koenig länge: 100 Min. | Fsk: ab 0; f Verleih: Zorro | FD-kritik: 42 146 Handwerk InHalt darSteller

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