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asghar farhadi +++ john waters +++ anita ekberg +++ susanne wolff +++ John Woo

FILM Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.filmdienst.de 67. Jahrgang | 30. Januar 2014

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Eine g ckun

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Ein besonderer Kosmos

» B AAL«

Die Welt des Wes Anderson sein Neuer Film eröffnet die »Berlinale«

Cityguide

Berlin

Spaziergänge durch eine schillernde Metropole mit Filmtradition

Hauptrolle »Filmrolle«: Inspirierende ausstellung

The UNSEEN SEEN 03 4 194963 604507


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Akteure

Kino 20

alle Filme im tV vom 1. 2. bis 14. 2. Das extraheft

ASGHAR FARHADI Mit dem Liebesdrama „Le Passé“ zeigt sich der Iraner erneut als Meister der Wahrhaftigkeit. Ein Gespräch über die Vorteile internationaler Bekanntheit und das Filmen im Iran. Von Margret Köhler

40 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV 80.000 Film-Kriti k e n u n t e r w w w. f i lmdienst.d

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WES ANDERSON

PULP FICTION 6. 2. VOX

Ständige Beilage

FILM

IM TV

THE INVISIBLE FRAME 11. 2. zdf.kultur

1.2.–14.2.2014

NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG 5. 2. arte

MULHOLLAND DRIVE 8. 2. BR Fernsehen

Mit dem „Berlinale“­Eröffnungsfilm „Grand Budapest Hotel“ fügt der Regis­ seur einen weiteren Stein in das schil­ lernde Mosaik seines einzigartigen Oeu­ vres ein. Ein Porträt und ein Interview. Von Nils Daniel Peiler + Literatur­ und DVD­Tipps

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CHÉRI – EINE KOMÖDIE DER EITELKEITEN 12. 2. arte

Im Schatten Kriminaldrama von Thomas Arslan Thomas Crown ist nicht zu fassen Gaunerfilm mit Steve McQueen San Fernando Cowboy Neo-Western mit Edward Norton

[4.2. ZdF.KUltUR]

THE UNSEEN SEEN

[14.2. ARte] [3.2. HR FeRnseHen]

Eine Berliner Ausstellung zeigt Filmrol­ len, wie man sie noch nie gesehen hat: Als Leuchtkästen oder farbenprächtige Wandbilder. Ein Gespräch mit dem Fotografen Reiner Riedler. Von Jens Hinrichsen

Pulp Fiction 6. 2. VOX Mulholland Drive 8. 2. BR Fernsehen Chéri – Eine Komödie der Eitelkeiten 12. 2. arte ein Party-Girl als meernixe: anita ekberg in Federico Fellinis „la Dolce Vita“.

Von der Rolle: Die ausstellung „the Unseen Seen“ führt in Zeiten der allgegenwärtigen Digitalisierung die Schönheit der guten alten Filmrollen vor augen.

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Die Faszination für das Milieu der Bör­ senspekulanten ist auch im Hollywood­ Kino längst der ernüchternden Vorstel­ lung von der alles verschlingenden Finanzblase gewichen. Ein Essay. Von Tim Slagman

Als Theaterschauspielerin wird sie für ihr virtuoses Spiel auf der Emotions­ skala gepriesen, im Kino wartet sie seit ihrem Auftritt in „Das Fremde in mir“ auf eine weitere echte Herausforderung. Von Alexandra Wach

SUSANNE WOLFF

BÖRSE UND FINANZWELT

ein Dilemma für independents

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über den Prestigeverlust unabhängig produzierter US-Filme, bei denen ein Kinoeinsatz längst kein Kriterium mehr für Qualität ist (S. 27).

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

S. 48

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Fotos: TITEL: Reiner Riedler/Deutsche Kinemathek. S. 4/5: Fd­Archiv, Twentieth Century Fox, Reiner Riedler/Deutsche Kinemathek, Camino, Mixtvision, Ascot Elite, Alamode.

AGORA – DIE SÄULEN DES HIMMELS 8. 2. WDR Fernsehen


Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

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LESETIPPS Eine Studie über Jim Jarmuschs Status als „Kartograph der Popkultur“. Und ein Band mit Essays zur Filmgeschichte von Norbert Grob.

Film-Kunst 28

46 47 Ronin [30.1.] 46 Anchorman – Die Legende kehrt zurück [30.1.] 42 Argerich – Bloody Daughter [30.1.] 47 Blutgletscher [6.2.] 41 Dallas Buyers Club [6.2.] 47 Dhoom 3 [9.1.] 37 Disconnect [30.1.] 47 Free Birds – Esst uns an einem anderen Tag [6.2.] 46 Fünf Freunde 3 [16.1.] 40 I, Frankenstein [23.1.] 45 Der Imker [30.1.] 45 Jappeloup [6.2.] 45 Kill Your Darlings [30.1.]

menschen unter dem eindruck des todes: in „Staudamm“ erstarrt ein Dorf nach einem amoklauf im Schock. in „Dallas Buyers club“ kämpft ein aiDS-kranker Rodeocowboy gegen sein Schicksal an. in „meine Schwestern“ will eine herzkranke junge Frau noch etwas Zeit mit ihrer Famlie verbringen.

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s. STAUDAMM

Fotos: TITEL: Reiner Riedler/Deutsche Kinemathek. S. 4/5: Fd­Archiv, Twentieth Century Fox, Reiner Riedler/Deutsche Kinemathek, Camino, Mixtvision, Ascot Elite, Alamode.

FD-CITYGUIDE BERLIN Nicht nur die „Berlinale“ macht Berlin zur Filmstadt. Die dortigen Kinos spie­ geln die wechselvolle Geschichte der Stadt wider. Ein cineastischer Streifzug. Von Wolfgang Hamdorf

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s. DALLAS BUYERS CLUB

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SCHLÖNDORFFS „BAAL“ Kurz nach der Erstausstrahlung 1970 wurde die anarchische Brecht­Adaption verboten. Auf der diesjährigen „Berlina­ le“ ist sie erstmals wieder zu sehen. Von Ralph Eue

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MAGISCHE MOMENTE Federico Fellini ließ in „La Dolce Vita“ Anita Ekberg im Trevi­Brunnen baden und verlieh ihr auf diese Weise die Aura eines mythischen Wesens. Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

kinotiPP der katholischen Filmkritik

s. 36 Le Passé [30.1.] Drama von Asghar Farhadi

42 Le Weekend [30.1.] 47 Madame empfiehlt sich [6.2.] 39 Mandela: Der lange Weg zur Freiheit [30.1.] 44 Meine Schwestern [6.2.] 45 Nicht mein Tag [16.1.] 45 Parallax Sound Chicago [30.1.] 46 Patron Mutlu Son Istiyor – Der Chef will ein Happy End [9.1.] 43 Ricky – Normal war gestern [6.2.] 47 Senin Hikayen [9.1.] 38 Staudamm [30.1.] 45 Und Äktschn! [6.2.] 46 Zero Killed [6.2.]

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s. MEINE SCHWESTERN

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Filmbilder über die Finanzmärkte: Die Börse ist längst keine Spielwiese für notdürftig erwachsen gewordene Jungs mehr.

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Börse und Finanzwelt

kino

Für seine Hauptrolle als korrupter Börsianer in Die Geschichte der ZahlenMartin Scorseses „The Wolf of Wall Street“ erhielt wirtschaft lässt sich kaum ohne Leonardo DiCaprio den „Golden Globe“. Tatsächlich ihre Verbrecher erzählen. ist die Rolle des schillernden Betrügers, den er Vermutlich war Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“, auch er spielt, längst schon wieder das Relikt einer anderen ein hinterlistiger Börsen­Manipulator, 1922 der erste Finanzhai der Filmgeschichte. Aber spätestens seit Gekko scheint das Zeit. Überlegungen zu Hollywoods AuseinanderUS­amerikanische Kino überzeugt davon, dass die Geschichte setzungen mit dem Finanzmarkt seit Oliver Stones der Zahlenwirtschaft sich kaum ohne ihre Verbrecher erzählen lässt, ja mehr noch: dass außer von Verbrechern hier von „Wall Street“. nichts zu erzählen ist. Oliver Stone interessierte sich wenig­

Von Tim Slagman

Ein seidenes Taschentuch. Eine goldene Armbanduhr. Ein Ring, ein Geldclip – und ein monströs klobiges Mobiltelefon mit ausfahrbarer Antenne. So sahen Reichtum und Exklusivi­ tät damals noch aus, als Michael Douglas’ legendärer Speku­ lant und Firmenvernichter Gordon Gekko aus Oliver Stones „Wall Street“ sein Unwesen trieb und schließlich aufflog und eingebuchtet wurde. „Gier ist gut.“ Gekkos Satz ist längst in die Geschichte nicht nur der Popkultur eingegangen. In Gekko personifizieren sich seit 1987 die böse Seite des Finanzsystems, die Übeltäter, die manipulativ und zielgerichtet handelnden Hyperegoisten und ja, die Gier und der Luxus. Es ist nicht überraschend, dass Gekko sich der Methoden des Insider­Tradings bediente: Er steht für den Missbrauch eines Systems, in das sich sein Pro­ tegé Bud Fox (gespielt von Charlie Sheen) noch mit einigem Idealismus stürzen konnte, bevor Gekko ihn in die Finger bekam.

stens noch rudimentär für die Strukturen und Funktionsweise eines Systems, das solche Kriminelle hervorbringt. Doch schon wenige Jahre später schlachteten Regisseure wie Brian De Palma mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ (1990) oder Mary Harron mit „American Psycho“ (2000) lustvoll die Symptome und Deformationen aus, die ein System produzieren musste, das man als selbstverständlich verdorben ansah. Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“, entstanden nach den Memoiren des Brokers Jordan Belfort, pfropft nun so hysterisch wie noch keiner dieser Vorgänger den Teufelskreis­ lauf aus Geld, Macht und Trieb in orgiensatte Bilder. So viel Koks, Champagner, Pillen, so viele nackte Brüste, so viele ent­ blößte Schambereiche, so viele sich wälzende oder gewälzt werdende Leiber, so viele gestreckte Mittelfinger, so viel bru­ tale Physis war selten im Kino – jedenfalls, wenn das beruf­ liche Milieu eben eines der abstrakten Ziffernreihen und potenziellen Profite war. Man ahnt es vielleicht: Das Ganze ist auch ziemlich lustig. Scorseses Film ist Ende der 1980er­Jahre angesiedelt, und bei aller Aktualität, die sein Thema besitzen mag, wirkt er wie ein Historienfilm, wie ein Abgesang auf eine

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Bilder von einem System des Größenwahnsinns: Von „Wall Street“…

… zu „The Wolf of Wall Street“

vergangene Ära. Außer Jordan Belfort sind alle schillernden Antihelden mit dem Stil und Format eines Gordon Gekko aus dem Kino verschwunden. Liegt es am großen Crash von 2008, den niemand kommen sah, den kaum jemand verstand und der unser Bild von den Finanzmärkten zwar immer noch diffus bleiben ließ, aber wesentlich veränderte? Verorten wir heute das Übel, von dem wir sicherer denn je ahnen, dass es existie­ ren muss, längst woanders? Was bringen Chiffren wie „Wall Street“ und die Skyscraper von New York noch, wenn Kauf und Verkauf längst vollständig im digitalen Code aufgehen?

Die Banker um die Jahrtausendwende sind Gefangene und Gefängniswärter eines Wahn- wie Wahnsinnssystems. Im Roman „American Psycho“ (der im Original 1991 erschien) hatte Bret Easton Ellis bereits einige Spuren des unzuver­ lässigen Erzählens gelegt, denen Mary Harron in ihrer Ver­ filmung folgte. Patrick Bateman, ein Wall­Street­Yuppie, geschmückt mit allen Insignien des Reichtums, scheint ein irrer Massenmörder zu sein. Seine One­Night­Stands zerlegt er mit der Kettensäge, der ungeliebte Kollege bekommt bei Bateman zu Hause die Axt zu spüren. Zuvor wurde die Couch mit Plastikfolie abgedeckt, danach färbt das Blut eine Hälfte von Batemans zornverzerrter Fratze tiefrot, während der Teint der anderen nur perfekte Kosmetik und die exakt richtige Dosis Solarium zeigt. Eine gespaltene Persönlichkeit soll er sein, ein Reinlichkeitsfreak, der den schmutzigen Exzess her­ beisehnt, Triebstau und Ausbruch – eine eindeutige, viel zu eindeutige Diagnose. Nichts von alledem ist wahr. Keinen der

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Morde hat er tatsächlich begangen. Als Bateman dahinter­ kommt, nun ein schwitzendes, desorientiertes Wrack, hockt er vor einer Tür, auf der steht: „This is not an exit.“ Er fanta­ siert einen inneren Monolog, der endet: „No new knowledge can be gained from my telling. This confession has meant nothing.“ Die Banker um die Jahrtausendwende sind also Gefangene und Gefängniswärter zugleich eines Wahn­ wie Wahnsinns­ systems. So wenig Bateman seine Welt verlassen kann, so unbedeutend ist darin offensichtlich auch noch das schwer­ wiegendste Verbrechen. David Cronenberg, der wie kaum ein zweiter gezeigt hat, wie unsere Psyche eigene Gliedmaßen und Welten erschaffen kann, setzte in „Cosmopolis“ (2012) nach dem Roman von Don DeLillo diese Eingeschlossenheit ganz naheliegend und konkret um. In seiner Stretch­Limou­ sine erlebt der Vermögensverwalter Eric Packer geschäft­ lichen Erfolg und Misserfolg, sexuelle Begegnungen und ärzt­ liche Untersuchungen – er hat einen Mikrokosmos gebastelt, der ihm ein New York von Halse halten soll, das kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint. Die Anbindung an die Welt weiter draußen, an die Welt der Märkte und der Zahlenströme, ist nur unter Ausschaltung der physischen Umgebung zu haben. Der Wagen ist die Kapsel seiner eigenen Paranoia, dessen Karosserie seine Schädeldecke. Packer hat Angst. Zu Recht. Die letztlich einigermaßen spektakulären Bilder dieser Filme sprechen allegorisch von Luxus, Exzess und Isolation, und sie bestätigen damit zumindest einen Teil der Vorurteile, die um das Leben in und um diese Branche kursieren. In den vergan­ genen Jahren wurde noch von anderen Dingen berichtet: von 22­Stunden­Tagen, deren kurze Nächte im Schlafsack unter dem Schreibtisch verbracht wurden, von einer totalen Aus­

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Börse und Finanzwelt

Fotos: S. 17: Universal Pictures. S. 18/19: 20th Century Fox, Universal Pictures, Falcom Media, Concorde.

Gefangen im System: „Cosmopolis“…

kino

… und „American Psycho“

löschung der Individualität jenseits des Funktionszusammen­ hangs im Büro. Als der nach wie vor beste Film zur Krise erscheint vor diesem Hintergrund J.C. Chandors „Der große Crash“ (2011). Da findet ein junger Mitarbeiter verdammt faule Papiere in den Büchern seiner Investmentbank, und er trägt diesen Fund höher und immer höher, durch ein Dickicht von Hierarchie­Ebenen, die mal von Kevin Spacey verkörpert wer­ den, dann von Simon Baker, auch von Demi Moore – als Frau eine absolute Randerscheinung in den Erzählungen von Macht und Machtmissbrauch in der Finanzbranche. Wer aller­ dings hier was tut und wofür direkt verantwortlich ist, das kann und soll man gar nicht mehr begreifen, höchstens so viel: Der Chef des „Risk Management“ wird zu Beginn gefeu­ ert. Der Boss der Bosse jedenfalls, gespielt von Jeremy Irons, ist vom Alltag der Trader so weit entfernt, dass er anschei­ nend nur dann mit dem Hubschrauber eingeflogen wird, wenn – um eine Metapher des Films zu borgen, die wiederum vom ehemaligen Citigroup­Chef Chuck Prince stammt – die Musik droht aufzuhören.

Auf irgendeine Weise sind wir alle in die Finanzmärkte verstrickt. Chandor, dessen Vater bei Merrill Lynch arbeitete, zweifelt keine Sekunden daran, dass gezockt, betrogen und vertuscht wird in der Branche. Aber in seinem Kammerspiel, das sich über 24 Stunden erzählte Zeit erstreckt, symbolisieren die Wolkenkratzer von New York längst schon mindestens so viel Sehnsucht nach einem Außen wie den Hochmut der in ihnen

Eingeschlossenen. Zauberlehrlinge sind sie, denen Chandor erstaunliche Momente des Innehaltens und des Mitgefühls erlaubt, auch wenn ihre Taten, deren Folgen sie selbst nicht überblicken konnten, Anleger und Märkte in den Untergang treiben. Dies ist noch eine andere Erfahrung, die Filmemacher den Turbulenzen der Krise verdanken: Die Börse lässt sich nicht mehr als Spielwiese notdürftig erwachsen gewordener Jungs ausmalen, deren Verfehlungen schlimmstenfalls dieje­ nigen treffen, deren Arbeitgeber gerade in den Ruin speku­ liert worden sind. Vielmehr sind wir auf irgendeine Weise alle in die Finanzmärkte verstrickt, als Sparbuchinhaber oder Hypothekenschuldner, als Versicherungsnehmer oder einfach nur als Autofahrer, die vergeblich auf vertagte Investitionen in die Infrastruktur warten. Der US­amerikanische Spielfilm registriert mit einer neuen Selbstverständlichkeit, dass jeder die Mechanismen der Märkte zur Kenntnis zu nehmen hat – als Opfer einer verbrecherischen Branche wie Woody Allens Protagonistin in „Blue Jasmine“ oder als selbstgerechter Wutbürger wie der Mega­Terrorist Bane in Christopher Nolans „The Dark Knight Rises“. Wo es noch Gauner gibt, die sich auf Kosten anderer bereichern wie Jasmines Ehemann, da sind sie zu läppischen Taschenspielern mutiert, zu chiffrenhaften Phantomen, die wie ein Bernie Madoff im wirklichen Leben höchstens durch das Volumen ihres Betrugs legendenhaft werden könnten. Oliver Stone hat in seiner Fortsetzung „Wall Street: Geld schläft nicht“ (2010) darauf reagiert, indem er Gordon Gekko als Dinosaurier zeich­ nete – als einen, der mit den Reliquien eines vergangenen Lebens aus dem Knast entlassen und ins Zentrum einer Geschichte gesteckt wurde, die sich eher um die Familie drehte als um die Finanzen.

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neue Filme

im Kino Le Passé [30.1.]

Der Ballast des alten

Asghar Farhadis Drama begleitet Menschen beim Versuch, ein neues Leben zu starten

Eine dicke Glasscheibe, die die Transitzone auf dem Pariser Flug­ hafen Charles de Gaulle von dem öffentlich zugänglichen Bereich abgrenzt, trennt auch Marie und Ahmad. Beide bewegen stumm ihre Lippen, als hätte man ihnen den Ton abgedreht. Die Scheibe schluckt den Schall; die Kommu­ nikation muss auf andere Mittel ausweichen, auf Gesten, Blicke und Lippenlesen. Die symbolische Eingangsszene des Films gibt den „Ton“ vor für die komplizierten, verstellten und von Kommunikationsverfehlungen geprägten Beziehungen zwischen den Figuren. Es geht in „Le Passé“ von Asghar Farhadi um Übergangs­ phasen und Übergangsräume – zwischen dem Titel gebenden Ver­ gangenen und der Gegenwart bzw. Zukunft, zwischen alten und neuen Liebesbeziehungen und Familien­ konstellationen, zwischen einem

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noch nicht abgeschlossenen alten Leben und einem nicht richtig angefangenen neuen und – ganz im Hintergrund – auch zwischen geo­ graphischen und gesellschaftlichen Räumen (Iran und Frankreich). Symbolische Funktion übernimmt auch der zentrale Schauplatz des Films: das neben einer Gleisanlage gelegene, zwischen Schienen und Bahnübergängen eingeklemmte Haus in der Banlieue von Paris, in dem Marie mit Ahmad und ihren beiden Töchtern aus erster Ehe zusammenlebte, bevor die Bezie­ hung in die Brüche ging. Jetzt, vier Jahre später, ist dieser Ort gleichzeitig in Auflösung wie Umgestaltung begriffen. Maries neuer Lebensgefährte Samir und sein kleiner Sohn Fouad sind ein­ gezogen, pendeln aber noch zwi­ schen der neuen Adresse und einer verwaisten Wohnung, die die nach einem Selbstmordversuch im

Koma liegende Ehefrau und Mutter zurückgelassen hat. Hier und dort finden sich Versuche eines Neuanfangs: halbrenovierte Zimmer, halbgestrichene Wände, halbgefüllte Farbtöpfe. Doch der Ballast des Alten dringt beharrlich durch die darüber gelegten Ober­ flächen: Das Mobiliar ist teilweise mit Tüchern verhängt, der Abfluss in der Küche verstopft. Noch bevor Ahmad das Haus betreten hat, beginnt er, ein kaputtes Fahrrad zu reparieren – es ist der Versuch, zunächst einmal ein wenig Halt zu gewinnen in einer ebenso unüber­ sichtlichen wie ungeklärten Umge­ bung. „Le Passé“ ist der erste Film, den der iranische Regisseur außerhalb seines Heimatlandes gedreht hat. Im Gegensatz zu Abbas Kiarostami, der seine beiden jüngsten Filme in Italien („Die Liebesfälscher“) und in Japan („Like Someone in Love“, 2013) angesiedelt hat, verweist Farhadi trotz aller universalen Aus­ richtung seines Films mit der Figur des Ahmad explizit auf die „Über­ siedlung“ seines Schaffens. Ahmad ist von Teheran nach Paris gekommen, um den Scheidungs­ termin mit Marie wahrzunehmen. Die Scheidung soll die noch lose miteinander verbundenen Bereiche endgültig trennen – und damit auch die Trennung zwischen Samir und seiner diffus zwischen Leben und Tod schwebenden Ehe­ frau vorantreiben. Das allerdings gestaltet sich als schwierig. Bereits auf der Fahrt vom Flughafen nach Hause treten die ersten Unstimmigkeiten zutage. So hat Marie nicht wie vereinbart ein Hotelzimmer für ihren Noch­ Ehemann reserviert, sondern quar­ tiert ihn mit ihr und den Kindern im Haus ein, in dem es auch zur ersten Begegnung mit seinem Nachfolger kommt. Von diesem erfährt Ahmad erst aus dem Mund von Fouad, auch wenn Marie ver­ sichert, sie habe ihm darüber bereits in einer Email berichtet. Immer wieder kommt es in „Le

Passé“ zu Situationen, in denen Informationen verloren gehen oder falsch kommuniziert werden oder in denen die Kommunikation schlichtweg verweigert wird – wie in der Beziehung zwischen der 16­jährigen Lucie zu ihre Mutter Marie sowie zu dem von ihr heftig abgelehnten Samir. Schließlich aber ist es Ahmad, dem in der angespannten Beziehung zwischen Mutter und Tochter die Rolle des Vermittlers und Vaterer­ satzes zukommt. Während Marie oft unkontrolliert und unsouverän reagiert – gerade in der Interaktion mit ihrer pubertierenden Tochter – tritt Ahmad besonnen und diplo­ matisch auf. Er, der das chaotische Treiben mit einiger Distanz betrachtet, kommt der Position des Zuschauers am nächsten. Farhadi spannt ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen den Figuren, in dem sich die Verhält­ nisse von Anziehung, Verwerfung, Vertrautheit und Befremden ständig neu sortieren. Gegen Ende des Films kommt Farhadi allerdings etwas vom Weg ab und versteigt sich in eine umständlich erzählte und geradezu kriminalistische Abhandlung über die Umstände des Selbstmords von Samirs Frau. Die Konzentration der Geschichte geht darüber ein wenig verloren, thematisch öffnet der Film sich zu moralischen Fragestellungen, vor allem zum Motiv der Schuld. Im Gegensatz zum dynamisch gefilmten Vorgängerwerk „Nader und Simin“ wird „Le Passé“ von einer ruhigen, bewegungsredu­ zierten Kamera getragen. Die Figuren wirken wie ausgebremst, sie drängen nicht nach vorn, son­ dern hängen Dingen aus der Ver­ gangenheit nach. Der Regisseur überlässt in seiner akribischen Inszenierung nichts dem Zufall: jeder Schritt, jede Bewegung und jede Geste scheinen kontrolliert und durchchoreographiert, jedes Bild exakt kadriert, nie gerät etwas in den Blick, das zur Erzählung nichts Essenzielles beitrüge.

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im Kino Farhadis Form der Kontrolle ist beeindruckend, hat aber auch eine gewisse Hermetik zur Folge. Diese wird durch die kindlichen bzw. jugendlichen Darsteller jedoch immer wieder aufgebrochen: Sie öffnen den Film für das Unfertige, Unabgeschlossene – und für die Gegenwart. Esther Buss

BeWeRtUnG DeR FilmKommiSSion Ein Iraner kehrt nach Paris zurück, um vor Gericht seine Ehe mit einer Französin offiziell aufzulösen. Während seine Noch-Ehefrau etwas überstürzt die Zukunft mit einer neuen Familie vorantreibt, wirft die Vergangenheit noch manchen Schatten. Ein facettenreiches Familien-, Ehe, Beziehungs- und Migrationsdrama, das von Übergangsphasen und -räumen sowie den Schwierigkeiten der Ablösung handelt. Ein sorgfältig inszenierter, kunstvoll austarierter Film, der gegen Ende zwar dramaturgisch ausfranst, aber mit großer Meisterschaft ein Netz von Beziehungen zwischen den Figuren spannt, in dem sich die Verhältnisse von Anziehung, Verwerfung, Vertrautheit und Befremden ständig neu sortieren. – Sehenswert ab 14. Frankreich/Italien 2013 Regie, Buch: Asghar Farhadi Kamera: Mahmoud Kalari musik: Evgueni Galperine, Youli Galperine Schnitt: Juliette Welfling Darsteller: Bérénice Bejo (Marie Brisson), Tahar Rahim (Samir), Ali Mosaffa (Ahmad), Pauline Burlet (Lucie), Elyes Aguis (Fouad), Jeanne Jestin (Léa), Sabrina Ouazani (Naïma), Babak Karimi (Shahriyar), Valeria Cavalli (Valeria), Aleksandra Klebanska (Céline) länge: 130 Min. | FSK: ab 12; f Verleih: Camino | Kinostart: 30. 1. 2014 FD-Kritik: 42 171 HANDWERK INHALT DARSTELLER

neue Filme

disconnect [30.1.]

im digitalen Dschungel Ein episodischer Film über Risiken des Internets

Dies ist, womöglich nur schein­ bar, ein Film über die digitale Ver­ netzung, also die Reaktion eines Mediums auf ein anderes. So jedenfalls stellen Regisseur Henry­ Alex Rubin und der Drehbuchautor Andrew Stern ihre oberflächlich miteinander verbundenen Episo­ den vor. Die Leinwand wird dabei minutenlang von aufpoppenden Chat­Nachrichten und den kon­ zentrierten, oft verzweifelten Gesichtern der Chattenden domi­ niert. Cindy Hull (Paula Patton) offenbart den Schmerz über den Tod ihres Kindes lieber einem unsichtbaren Gegenüber als ihrem Ehemann Derek (Alexander Skarsgård). Der zockt heimlich in virtuellen Pokerräumen. Das führt irgend­ wann dazu, dass ein Unbekannter die Kreditkarten­Daten der beiden klaut und sie damit an den Rande des Ruins bringt. In einer anderen Episode freundet sich der einsame Teenager Ben (Jonah Bobo) auf Facebook mit einem Mädchen an, das zwei andere Jungs allerdings nur aus dem Grund erfunden haben, um ihn bloßzustellen. Und die ehrgeizige Journalistin Nina Dunham (Andrea Riseborough) lernt bei Recherchen zu einer Story über halblegale Porno­Web­ sites den jungen Kyle (Max Thie­ riot) kennen, zu dem sie ein ambi­ valentes Verhältnis zwischen Anziehung und Ausbeutung auf­ baut. So gefährlich ist das Internet also? Es gibt Momente innerhalb dieses Spielfilmdebüts, in denen die war­ nende Botschaft geradezu aus den Großaufnahmen und Chatproto­ kollen quillt. Doch der Film geht nicht in solchen altbacken­kultur­ pessimistischen Augenblicken auf – auch deshalb, weil das Potenzial echten Trostes und echten Ver­

ständnisses bei der digitalen Kon­ taktaufnahme immer wieder auf­ blitzt: So kommt es zwischen dem sensiblen Musikfanatiker Ben und seinem „Cyber­Bully“ zu einer unbeabsichtigten Annäherung, als sich die beiden über ihre Väter austauschen. Neu oder sonderlich lehrreich ist das freilich nicht einmal für Men­ schen, die sich von Chatrooms und sozialen Netzwerken fernhalten. Es dauert allzu lange, bis die Insze­ nierung das Digitale allmählich aus der Geschichte verschwinden lässt und die gestörte Kommunikation in den auf unterschiedliche Weise vom Schicksal gebeutelten Fami­ lien schärfer herausgearbeitet wird. Die Figuren gewinnen an Kontur, da sich ihr bisher bloß behaupteter Schmerz zunehmend und am Ende durchaus gewaltsam Bahn bricht. Dann erzählt der Film nicht mehr didaktisch und scha­ blonenhaft, sondern porträtiert Individuen und Konstellationen, die keineswegs tausendfacher All­ tag im und neben dem Internet sind. Für die Schauspieler ist das eine tolle Möglichkeit, zu glänzen. Wäh­ rend Alexander Skarsgård aber statt der eiskalten Verführungs­ kraft seines Vampirs aus „True Blood“ als aus der Bahn gewor­ fener Bürohengst nur schwam­ mige Langeweile ausstrahlt, über­ rascht der ähnlich gegen sein Image besetzte Jason Bateman. Er spielt den entfremdeten Vater des gemobbten Teenagers Ben und macht aus dem selbstsicheren Anwalt, dem das Handy am Ohr zu kleben scheint, einen sich vorsich­ tig vorantastenden, desorien­ tierten Mann, dem die Frage nach dem Warum mit einem Schlag die lässige Selbstsicherheit aus dem Gesicht gewischt hat. Tim Slagman

BeWeRtUnG DeR FilmKommiSSion Ein sensibler Teenager wird in einem sozialen Netzwerk bloßgestellt, ein Ehepaar verliert persönliche Daten an einen Cyber-Kriminellen, eine Journalistin ist von der komplizierten Welt der Internet-Pornografie und ihren allzu echten Protagonisten überfordert. Ein arg exemplarischer Episodenfilm über die Gefahren und Chancen der digitalen Welt. Die Inszenierung lässt sich dabei viel Zeit, um die Figuren und deren individuelle Nöte zu konturieren, gewinnt im letzten Drittel aber an Format und stellt Schicksal und Konstellationen vor Augen, die über die medialen Gemeinplätze hinausweisen. – Ab 16. Scope. USA 2012 Regie: Henry-Alex Rubin Buch: Andrew Stern Kamera: Ken Seng musik: Max Richter Schnitt: Lee Percy, Kevin Tent Darsteller: Jason Bateman (Rich Boyd), Hope Davis (Lydia Boyd), Frank Grillo (Mike Dixon), Michael Nyqvist (Stephen Schumacher), Paula Patton (Cindy Hull), Andrea Riseborough (Nina Dunham), Alexander Skårsgard (Derek Hull), Max Thieriot (Kyle), Colin Ford (Jason Dixon), Norbert Leo Butz länge: 115 Min. | FSK: ab 12; f Verleih: Weltkino | Kinostart: 30. 1. 2014 FD-Kritik: 42 172 HANDWERK INHALT DARSTELLER

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