FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur
03 2016
www.filmdienst.de
KINOJAHR 1966
Erinnerungen an Filme, die 1966 im unsere Kinos kamen. Aus Anlass der diesjährigen Retro der »Berlinale«.
BERLIN & FILM
Ein Interview mit Drehbuchautor und Regisseur Achim von Borries über die Hauptstadt-Mythen.
4. Februar 2016 € 5,50 69. Jahrgang
KIDLAT TAHIMIK
Porträt des philippinischen Altmeisters. Sein aktueller Film erhielt den »Caligari-Filmpreis« und tourt bald durch die Kinos.
FILMDIENST 03 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE
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69 Tage Hoffnung 11.2. Alles andere zeigt die Zeit 28.1. Antons Fest 4.2. Dirty Grandpa 11.2. Feuer bewahren – nicht Asche anbeten 11.2. Gänsehaut 4.2. Geym of Bizans 14.1. Grenzbock 4.2. Kardesim Benin 21.1. Lichtes Meer 4.2. Mittwoch 04:45 4.2. Nichts passiert 11.2. Projekt A – Eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa 4.2. Robinson Crusoe 4.2. Sibylle 4.2. Sisters 11.2. Suffragette – Taten statt Worte 4.2. The Forest 4.2. Die wilden Kerle – Die Legende lebt 11.2. Ride Along: Next Level Miami 21.1.
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42 THE FOREST
37 SIBYLLE KINOTIPP
der katholischen Filmkritik
36 SUFFRAGETTE – TATEN STATT WORTE
44 PROJEKT A
Das Historiendrama zeigt einfühlsam den Kampf um die Emanzipation der Frauen.
FERNSEH-TIPPS 56 Vor und während der »Berlinale« zeigen die Sender Preisträgerfilme der früheren Jahre. arte würdigt den griechischen Regisseur Constantin Costa-Gavras und den amerikanischen Komiker Buster Keaton. Und die ungeklärten Umstände des Todes von Uwe Barschel dienen als Steilvorlage für einen ambitionierten Politthriller.
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39 69 TAGE HOFFNUNG
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Fotos: TITEL: Concorde. S. 4/5: Concorde, Splendid, eksystent distribution, Drop-out, UPI, Warner, »Berlinale« 2016, Französische Filmwoche Berlin, FD-Archiv
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03 | 2016 DIE ARTIKEL INHALT KINO
AKTEURE
FILMKUNST
10 DAS KINOJAHR 1966
22 GUILLAUME NICLOUX
32 DAVID BOWIE
10 DAS KINOJAHR 1966
20 ABI MORGAN
27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD
Die Retrospektive der »Berlinale« ist dem deutsch-deutschen Kinojahrgang 1966 gewidmet. Aufbruch im Westen und Zensurverschärfung im Osten vollzogen sich in einer international höchst bunten Kinolandschaft. Eine Passage durch 1966er-Filme.
Die britische Drehbuchautorin rollt in »Suffragette« einen historischen Kampf um weibliche Emanzipation auf. Auch ihre anderen Werke zeichnen sich oft durch entschlossene Protagonistinnen aus. Ein Werkporträt.
Für die diesjährigen »Oscar«-Nominierungen und die »Golden Globes« haben die Gremien in Hollywood viel Kritik und Häme kassiert. Tatsächlich zeugt die Auswahl einmal mehr von Einseitigkeit und dem Sieg von Glamour über Substanz.
Von Hans Helmut Prinzler
Von Fabian Tietke
Von Franz Everschor
22 GUILLAUME NICLOUX
28 KIDLAT TAHIMIK
16 VON BORRIES: BERLIN & FILM Der Autor und Regisseur Achim von Borries arbeitet derzeit an der Serie »Babylon Berlin« und hat das Drehbuch zur Fallada-Adaption »Jeder stirbt für sich allein« geschrieben. Ein Gespräch über das neue Interesse an Berlin und den Reiz seriellen Erzählens. Von Rüdiger Suchsland
Die Filme des französischen Regisseurs punkten mit Vielfalt und originellen Erzählweisen. In »Valley of Love« führt er Gérard Depardieu und Isabelle Huppert auf einen Wüstentrip zwischen Fiktion und Wahrheit. Ein Porträt und ein Interview.
Auf der »Berlinale« 2015 gewann der philippinische Filmemacher den »Caligari«Preis. Nun ist sein preisgekrönter Film auf einer Kino-Tournee zu entdecken. Die Gelegenheit, einen in Deutschland kaum bekannten Regievirtuosen kennenzulernen.
Von Stefan Grissemann
Von Ulrich Gregor
26 IN MEMORIAM
32 DAVID BOWIE
Die deutsche Schauspielerin Ruth Leuwerik empfahl sich dem Kinopublikum der 1950erJahre mit damenhafter Grandezza, der Brite Alan Rickman glänzte in zahlreichen Filmen als charismatischer Schurke. Zwei Nachrufe. Von Rainer Dick und Felicitas Kleiner
Der am 10. Januar 2016 verstorbene Popstar war nicht nur eine der schillerndsten Gestalten im Musikgeschäft. Auch im Kino konnte man ihm immer wieder an unerwarteten Orten begegnen. Erinnerungen an das filmische Vermächtnis von David Bowie.
Von Ulrich Kriest
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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAY TV-TIPPS P.S. VORSCHAU / IMPRESSUM
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KINO DAS KINOJAHR 1966
SPIONAGE, W A S
B O T
SCHIWAGO
DAS KINOJAHR
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SWINGING
INTERNATIONAL?
SIXTIES 10
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KINO DAS KINOJAHR 1966 1966. Seit fünf Jahren trennt die Mauer als Symbol des Kalten Krieges West und Ost. Auch die Filmlandschaft ist natürlich geteilt. Die »Berlinale« – gegründet zur Stärkung von Westberlin – findet bereits zum 16. Mal statt. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt eröffnet sie am 24. Juni in der Kongresshalle (heute: Haus der Kulturen der Welt). Als Europäische Erstaufführung wird die Komödie »Die Russen kommen, die Russen kommen...« von Norman Jewison gezeigt, eine etwas naive Satire, die mit einer vermuteten sowjetischen Invasion an der amerikanischen Ostküste beginnt und mit einer gemeinsamen Hilfsaktion von Russen und Amerikanern für ein verunglücktes Kind endet. Der Film läuft »außer Konkurrenz«. Den »Goldenen Bären« erhält am Ende Roman Polanski für seine Gewalt-Parabel »Wenn Katelbach kommt«, die uns variantenreich an der Konfrontation eines Ehepaars mit zwei Gangstern auf einem alten schottischen Schloss teilhaben lässt. Der Regisseur lebt da schon im Exil: Er hatte
»Modesty Blaise - Die tödliche Lady«
»Die phantastische Reise«
»Wenn Katelbach kommt...«
Polen im Sommer 1962 in Richtung Westen verlassen und sich in London niedergelassen. Solche Emigrationen sind damals keine Seltenheit.
WEST- UND OSTBERLIN. UND EIN »FUN PICTURE«, MITTEN IM KALTEN KRIEG Und es blüht das Genre Spionagefilm. Der vierte James-BondFilm, »Feuerball«, war bereits im Dezember 1965 in die westdeutschen Kinos gekommen. Zum großen Erfolg wird »Der Spion, der aus der Kälte kam« von Martin Ritt, nach dem Roman von John le Carré, mit dem Schauplatz Ostberlin und herausragenden Schauspielern: Richard Burton, Claire Bloom, Oskar Werner. Auch Alfred Hitchcock begibt sich auf dieses Terrain. Sein Film »Der zerrissene Vorhang« erzählt von der Spionagetätigkeit eines amerikanischen Wissenschaftlers (Paul Newman), der
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mit seiner Verlobten (Julie Andrews) in Ostberlin und Leipzig fehlende Formeln für ein Raketenabwehrsystem auskundschaftet und am Ende in einer waghalsigen Flucht nach Schweden entkommt. Es ist Alfred Hitchcocks 50. Film. Große Qualitäten hat »Finale in Berlin« von Guy Hamilton mit Michael Caine nach einem Roman von Len Deighton, das Mittelstück der Trilogie um den britischen Agenten Harry Palmer. Auch hier sind Westund Ostberlin die Dreh- und Angelpunkte einer spannenden Geschichte. Eine Überraschung ist »Modesty Blaise – die tödliche Lady« von Joseph Losey mit Monica Vitti in der Titelrolle. Der Film verortet seine Story nicht im Kalten Krieg, sondern im Mittelmeer, es geht um Öl, einen Scheich und den Gangster Gabriel (Dirk Bogarde), von dem man am Ende nicht weiß, ob er überlebt. Losey bezeichnete seinen Film als »fun picture«. Er ist im Kontext seines Gesamtwerks eher ungewöhnlich.
TRUFFAUT, SCHLESINGER, ANTONIONI – UND »DR. SCHIWAGO« Das englische Kino hatte in den 1960er-Jahren eine besonders produktive Zeit. François Truffaut drehte 1966 in den Pinewood Studios den Science-Fiction-Film »Fahrenheit 451« nach einem Roman von Ray Bradbury: die Vision eines Lebens ohne Bücher in einem Polizeistaat der Zukunft und das Porträt des aufsässigen Feuerwehrmanns Montag (Oskar Werner), der eine persönliche Utopie realisiert. »Darling« von John Schlesinger zeigt den Egotrip eines Playgirls (Julie Christie), bei dem mehrere attraktive Männer (darunter Laurence Harvey und Dirk Bogarde) auf der Strecke bleiben. Ein Antiheld steht im Mittelpunkt von »Der Verführer lässt schön grüßen« von Lewis Gilbert mit Michael Caine als Vorstadt-Casanova Alfie (so auch der Originaltitel), der mit vielen Frauen Verhältnisse eingeht, aber am Ende einsam zurückbleibt. Das London der »Swinging Sixties« ist der Hintergrund zahlreicher englischer Filme jener Jahre. 1966 dreht Michelangelo Antonioni dort »Blow Up«.
KRiTiKEn nEuE FILME
Carey Mulligan kämpft für das Frauenwahlrecht in England Unlängst befasste sich der Film »Selma« mit dem Kampf der schwarzen Bevölkerung Amerikas um die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Jetzt ist es »Suffragette«, der das Thema des Frauenwahl rechts in England aufgreift. Beide Filme beruhen auf historischen Ereignissen, beide siedeln ihre Handlung vorwiegend unter der arbeitenden Bevölkerung an und beide sind von Frauen gemacht. »Selma« ist deutlicher in ideologischer Auseinandersetzung begründet; aber auch »Suffragette« bemüht sich um genügend gesellschaftlichen Hintergrund, der die erzählte Story hinreichend unterfüttert. Gemeinsam ist beiden Filmen, dass sie Entwicklungen beschreiben, die mit dem Schluss des Films nicht zu Ende sind. Das sichert den Filmen erhöhte Aufmerksamkeit und setzt in den Köpfen der Zuschauer Parallelen zu gegenwärtigen Befindlichkeiten frei, die bei »Suffragette« zwar weniger mit dem Frauenwahlrecht im engeren Sinne, wohl aber mit der Stellung der Frau im heutigen öffentlichen Leben zu tun haben.
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Historische Gestalten wie Martin Luther King in »Selma« und die Frauenrechtsaktivistin Emmeline Pankhurst in »Suffragette« spielen darin zwar eine wichtige Rolle, doch die Handlung wird von gewöhnlichen Menschen getragen, in diesem Fall von der Wäscherin Maud, die eher zufällig mit der Suffragette-Bewegung in Berührung kommt. Ihr weiteres Leben wird dadurch aufgewühlt und verändert. Die Story spielt im Jahr 1912, also 16 Jahre, bevor das Frauenwahlrecht in England uneingeschränkt Realität wurde, aber zu einem Zeitpunkt, als Demonstrationen an der Tagesordnung waren und im Parlament schon Anhörungen zu dem Thema stattfanden. Maud arbeitet für geringen Lohn in einer industriell betriebenen Großwäscherei, unter unwürdigen Bedingungen und den Launen ihrer männlichen Vorgesetzten ausgeliefert. Tagtäglich bekommt sie am eigenen Leib die Unterwerfung zu spüren, die Frauen damals überall abverlangt wurde, bei der Arbeit, zu Hause und im gesellschaftlichen Leben. Politisches Engagement ist Maud zunächst noch fremd,
aber ihre Bekanntschaft mit einer Arbeitskollegin und mit einer der Bewegung nahestehenden Apothekerin baut ihre inneren Barrieren ab. Es bedarf kaum noch der Aufmunterung durch Mrs. Pankhurst, der geistigen Anführerin der Frauen, um Maud an den Protestaktionen teilnehmen zu lassen, die gelegentlich auch in gewalttätigen Vandalismus ausarten. Die filmische Nacherzählung der Ereignisse, festgemacht an einer genreüblichen fiktiven Figur, hätte leicht in ein revolutionäres Melodram ausarten können (und tut es in einigen Szenen auch). Was den Film davor bewahrt, ist vor allem die vielleicht durch das geringe Budget aufgezwungene, vielleicht aber auch bewusste Entscheidung der Regisseurin Sarah Gavron, den gesamten Film mit Handkameras aufnehmen zu lassen. Die von ähnlichen Filmen gewohnten Massenszenen werden durch deren gekonnten Einsatz immer sogleich ins Individuelle zurückgeführt. Dadurch gelingt es Gavron, die notwendigen Dramatisierungen mehr als Kulisse denn als Kernstück der Handlung zu benutzen und den Sinn des
BEWERTUnG DER FiLmKommiSSion
Die mit historischen Ereignissen unterfütterte Geschichte einer Londoner Wäscherin, die 1912 mit der Bewegung zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts in Berührung kommt. Das politische Engagement der Suffragetten bildet den Kern des überzeugend gespielten Films, der inszenatorisch geschickt die Auswirkungen der gesellschaftlichen Benachteiligung wie des militanten Aktivismus auf Individualität und Privatleben der unterdrückten Frauen in den Mittelpunkt rückt. – Sehenswert ab 12.
SUFFRAGETTE. Scope. GB 2015 Regie: Sarah Gavron Darsteller: Carey Mulligan (Maud Watts), Helena Bonham Carter, Brendan Gleeson, Anne-Marie Duff, Ben Whishaw Länge: 107 Min. | Kinostart: 4.2.2016 Verleih: Concorde | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 43 669
Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe
Suffragette – Taten statt Worte
Publikums für die ungerechten Konsequenzen zu schärfen, die jede der Frauen zu ertragen hat. »Suffragette« entgeht damit auch der naheliegenden Gefahr, zum Pamphlet zu werden. Die Protestszenen und Polizeiaktionen nehmen mehr das Aussehen einer expressionistischen Collage an, in der sich die Kamera sogleich wieder auf die Gesichter der Frauen konzentriert und die Auswirkungen der ihnen auferlegten Restriktionen umso deutlicher spürbar werden. Gute schauspielerische Leistungen, unter anderem von Carey Mulligan und Meryl Streep, sind dabei hilfreich. Wenn es Gavrons Absicht war, den historischen Augenblick einzufangen, an dem die unterdrückten Frauen vom friedlichen Protest zum militanten Aktivismus übergingen, dann ist ihr das bemerkenswert gut gelungen. Franz Everschor
kritiken Auf DVD/BLu-RAy
Bertrand Bonello porträtiert den legendären Designer Yves Saint Laurent hat Post bekommen. Von Andy Warhol. »Dear Yves, I love the tuxedo, I love the Mondrian dress ...«. Andy wünscht sich so sehr ein Dosensuppenkleid. Seine hohe, drucklose Stimme tönt aus dem Off, während Saint Laurent in seiner wunderschön leuchtrot ausgekleideten Rive-Gauche-Boutique umhergeht wie in einem prachtvollen Märchenwald, an den Schaufensterpuppen seine von Marlene Dietrich inspirierten Damenanzüge, cool und elegant. Später wird er in seinem Apartment bei Kaviar am Tisch sitzen, seine Bulldogge Moujik neben ihm, an der Wand ein Warhol-Siebdruck mit seinem Porträt. Doch für Alltagsdinge wie Suppendosen hat der Couturier, der weder in einen Supermarkt geht noch eine Glühbirne auswechseln kann, längst den Blick
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verloren. 1976 präsentiert er seine von den Ballets Russes inspirierte Kollektion, die durch ihre Schönheit und Maßlosigkeit in die Modegeschichte eingeht – zur Außenwelt ist der Kontakt zu diesem Zeitpunkt längst abgerissen. Das Verhältnis von Mode und Leben bringt Bertrand Bonello in seinem formidablen »unautorisierten« Biopic »Saint Laurent« auf ganz verschiedene Weise in Stellung – der fast zeitgleich entstandene »Yves Saint Laurent«, mit dem Segen des ehemaligen Lebensgefährten, Geschäftsführer und Nachlassverwalter Pierre Bergé entstanden, sieht daneben schrecklich provinziell aus. Einmal konfrontiert der Film mittels Split Screen Nachrichtenbilder von Demonstrationen und militantem Aktivismus mit Bildern von Models, die im feinsten Tuch eine
SAINT LAuRENT frankreich 2014 regie: Bertrand Bonello Darsteller: Gaspard ulliel, Jérémie Renier, Louis Garrel, Léa Seydoux, Amira Casar Länge: 150 Min. | FSk: ab 12 Anbieter: universum | FD-kritik: 43 689
Fotos: Jeweilige Anbieter
Saint Laurent
Treppe herabsteigen. Kollektion Frühjahr/ Sommer, Herbst/Winter, 1968, 1969... groß kommen die Zahlen ins Bild, verbinden und trennen Zeitgeschichtliches gleichermaßen. Die konventionellen Biopic-Dramaturgien lässt Bonello links liegen. Kein Hetzen von Station zu Station, kein Verstreichen von Zeit durch die Aneinanderreihung von Höhepunkten und Tiefschlägen. Stattdessen schafft Bonello richtungsoffene Erzählräume. Und er nimmt sich dafür alle Zeit der Welt: für die delirierenden Drogenexzesse und schwulen Orgien mit dem so anziehenden wie verdorbenen DandyGeliebten Jacques de Bascher, für den verhätschelten Moujik, für die Näherinnen, die über einem komplizierten Schnittmuster auch schon mal in Tränen ausbrechen. Oder für eine lange, zweisprachige Geschäftskonferenz mit internationalen Partnern. »Souvenirs de la maison close« – so war Bonellos Bordell-Film »L’Apollonide« untertitelt. Auch »Saint Laurent« beschreibt im Grunde eine geschlossene Welt. Der Film spielt fast nur in Innenräumen, im künstlichen Licht, Saint Laurent zieht sich immer mehr zurück, in seinem Apartment schafft er sich seine Fantasiewelt – Spiegel an Wänden und Decke, eine goldene Buddha-Statue, Marmortische, gehalten von drei Cobras aus Bronze, er träumt von einem Matisse, einem Mondrian. Einmal, der fragile Meister droht gänzlich in die Selbstzerstörung abzudriften, wird er von Bergé zu Hause eingesperrt. Er muss funktionieren, Bergé schiebt ihm den frisch gespitzten Bleistift hin, die Näherinnen warten auf die Entwürfe. Plötzlich ist der alte, gebrechliche Helmut Berger der alte, gebrechliche Saint Laurent. Er verabschiedet sich von der Modewelt, doch es ist nicht der Schlusspunkt einer Biographie. Der Film springt zurück, springt zwischen den Zeiten, ein ewiger Kreislauf. Maria Callas wird noch viele Jahre in Saint Laurents Reich singen. Gegen Ende hängt ein Mondrian an der Wand. – Sehenswert ab 14. Esther Buss
KritiKEN FERNSEH-TIPPS
20.15 – 23.10 das Erste der Fall Barschel R: Kilian Riedhof Politthriller um den ungeklärten Tod des Ministerpräsidenten GB 2000 Sehenswert ab 14 20.15 – 21.45 einsfestival angsthasen R: Franziska Buch Phobiker ändert Leben nach Krebsdiagnose Deutschland 2007 Ab 14 20.15 – 22.45 Servus tV Herr der Gezeiten R: Barbra Streisand Ex-Lehrer verliebt sich in Therapeutin seiner Schwester USA 1991 Ab 14 22.45 – 00.35 Servus tV die Möbius-affäre R: Eric Rochant Abgebrühte Traderin treibt doppeltes Spiel Frankreich/Belgien 2013 Ab 16 23.35 – 01.45 rbb Fernsehen Bevor es Nacht wird R: Julian Schnabel Homosexueller Dichter leidet in Castros Kuba USA 2000 Sehenswert
6. Februar, 20.15 – 22.45
Herr der Gezeiten
SAMSTAG 06. FEBrUar 00.05 – 01.45 rbb Fernsehen Fair Game R: Doug Liman Drama um eine CIA-Agentin USA 2010 Ab 14 00.35 – 01.55 Sightseers R: Ben Wheatley Pärchen geht rabiat mit Störenfrieden um Großbritannien 2012
Servus tV
Ab 16
01.45 – 03.30 rbb Fernsehen Schmetterling und taucherglocke R: Julian Schnabel Journalist kommuniziert nach Schlaganfall mit Augenlid F/USA 2007 Sehenswert ab 16 02.00 – 03.40 zdf_neo Grenzpatrouille R: Tony Richardson Drama mit Jack Nicholson & Harvey Keitel USA 1980 Ab 16 02.20 – 04.40 ZdF der Schakal R: Fred Zinnemann Spannender Thriller über geplantes Attentat auf de Gaulle Großbritannien 1973 Ab 16
Servus TV
Sein tough-Guy-image hat der US-Schauspieler Nick Nolte in den vergangenen Jahren mit Komödien wie »Picknick mit Bären« oder »Hateship loveship« weitgehend abgelegt, ebenso wie von der einstmals athletischen Figur des früheren Football-Spielers und Models nicht viel übrig geblieben ist. Beides lässt sich jedoch passend zum 75. Geburtstag Noltes am 8.2. mit einer seiner besten Filmrollen noch einmal rekapitulieren: In Barbra Streisands »Herr der Gezeiten« muss er sich als arbeitsloser Lehrer mit verdrängten Ereignissen aus seiner Kindheit auseinandersetzen, als seine ebenfalls traumatisierte Schwester einen Selbstmordversuch unternimmt. Der Kontakt zu deren Therapeutin (Streisand) setzt nicht nur eine seelische Heilung in Gang, sondern führt auch zu einer Liebesaffäre. Psychologisch einfühlsam macht Nolte dabei die Wandlung eines kommunikationsunfähigen Einzelgängers zum gelösten Mann glaubwürdig.
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ErStaUSStraHlUNG: 6. Februar, 20.15 – 23.10
Das Erste
der Fall Barschel + Barschel – das rätsel
Um die fiebrigen Erregungskurven zu verstehen, die Kilian riedhofs dreistündige Erkundung des »Falls Barschel« durcheilt, muss man sich das schockierende Bild vor augen halten, das 1987 um die Welt ging: der tote Uwe Barschel in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers. Dem »unheimlichen Sog dieses Bildes« spürt Riedhof nach und findet dabei zu seinem packend ausgeformten Rhythmus von manisch-depressivem Auf-und-Ab, der seine Protagonisten und die Epoche charakterisiert. So gelingt ihm ein atemberaubender Politthriller und ein atmosphärisch dichtes Zeitbild der 1980er-Jahre. Die bis heute ungeklärte Frage, ob Barschel Selbstmord verübte oder einem Mord zum Opfer fiel, lässt Riedhof offen, aber er spielt, »basierend auf plausiblen Thesen und Indizien«, beide Deutungsszenarien durch. Er erfindet zwei junge, ehrgeizige Investigativ-Journalisten, die zuerst - ähnlich wie Woodward & Bernstein bei der Watergate-Affäre – dem CDU-Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins Uwe Barschel nachweisen, dass er seinen Wahlkampfgegner ausspionieren ließ, und ihn zum Rücktritt zwingen. Am 11. Oktober 1987 dann der mysteriöse Tod Barschels in Genf. Die Wege der Journalisten trennen sich: Olaf (Fabian Hinrichs) folgt der amtlich favorisierten Selbstmord-These. David (Alexander Fehling) aber begibt sich auf die Suche nach Mord-Indizien. Er gerät in ein Labyrinth von illegalen Waffengeschäften und Geheimdienst-Machenschaften, die bis in die Iran-Contra-Affäre hineinreichen. Er recherchiert mit der Verbissenheit eines einsamen Wolfs und verliert seinen inneren Halt. Ein Politthriller, der die skandalösen und unheimlichen Dimension des »Falls Barschel« in noch nie gezeigter Ausführlichkeit auffächert. Ein »Trip in den Abgrund« (Riedhof), der durch Fehlings brillantes Spiel zum Ereignis wird. rainer Gansera + 23.10–23.40: Doku: Barschel – Das Rätsel 6. Februar, 22.45 – 00.35
Servus TV
die Möbius-affäre
Eine abgebrühte, extrem selbstbewusste traderin (Cècile de France), auf deren Konto die Mitverantwortung für den spektakulären Zusammenbruch der investmentbank lehman Brothers gehen soll, hat sich in ihrem Exil in Monaco die Bank eines russischen Oligarchen (Tim Roth) als neuen Arbeitgeber ausgesucht. Während sie ihm noch anbietet, ihm bei seiner Geldwäsche behilflich zu sein, treibt sie aber längst ein doppeltes Spiel. Darin verstrickt ist nicht zuletzt der äußerst attraktive, aber ebenfalls ziemlich undurchsichtige FSBAgent Grégory Lioubov (Jean Dujardin). Der in der Hauptrolle bewundernswert wandlungsfähig gespielte Genrefilm verknotet die Handlung intelligent zu einem fintenreichen internationalen Machtkampf. Ganz in der Tradition von Hitchcock, beherrscht Regisseur Eric Rochant souverän seine Partitur aus Lügen und Geheimnissen ohne Knalleffekte.
Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.
Sa