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film dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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scham im kino ist das kino ein ort der schamlosigkeit? kleine Phänomenologie eines peinlichen Gefühls.

weißer rauch! die branche atmet auf: die filmförderung ist verfassungskonform. doch hilft das der filmkultur?

ein halbes Jahrhundert die Cinephilie-maschine: das Österreichische filmmuseum schärft den blick fürs wesentliche im kino.

lars von trier die filme des dänischen regisseurs erregen verlässlich die Gemüter. doch der tabubruch ist stets auch teil seiner künstlerischen strategie.

13. februar 2014 € 4,50 67. Jahrgang

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Kino

sCham im kino In der Dunkelheit des Kinosaals geht es ums Sehen, nicht ums Gesehenwerden. Tatsächlich aber gibt es Momente, wo man sich als Zuschauer in seiner Reaktion auf das Geschehen auf der Leinwand peinlich bloßgestellt fühlt. Ein Essay. Von Julian Hanich

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festiVals

alle Filme im tV vom 15.2. bis 28.2. das extraheft

Das Festival „Max Ophüls Preis“ in Saarbrücken würdigte auch 2014 improvisationsfreudige Arbeiten, während sich auf den Solothurner Filmtagen das Schweizer Kino so stark wie selten zeigte. Von Wolfgang M. Hamdorf & Irene Genhart

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filmfÖrderunGsGesetZ Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die deutsche Filmförderung läuft weiter wie bisher. Wobei es auch für Kinobetreiber in dieser Sache nicht allein ums Geld geht. Von Petra Rockenfeller

Akteure 20

lars Von trier Wie aktuell mit „Nymph()maniac“ provozieren Lars von Triers drastischen Filme in aller Regel einen Eklat. Der Tabubruch ist jedoch auch Teil seiner künstlerischen Strategie. Ein Porträt des Künstlers als Provokateur. Von Björn Hayer

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Jean duJardin Vom Stand-up-Comedian zum internationalen Star und „Oscar“-Preisträger: Seit Jahren triumphiert der wandlungsfähige französische Darsteller gleichermaßen in Komödien wie in Dramen. Von Alexandra Wach

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in memoriam Der ungarische Regisseur Miklós Jancsó verpackte seine Gesellschaftskritik in grandiose Bilder; Kurt Barthel wurde vom DDR-Regime ausgebremst. Zwei Nachrufe.

Revanche 15.2. rbb Fernsehen Looking for Eric 16.2. Das Erste The Wrestler 28.2. 3sat Jean dujardin in „the artist“

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Fotos: TITEL: Concorde. S. 4/5: FD-Archiv, Delphi, Österreichisches Filmmuseum, Real Fiction, Tobis, X Verleih, Camino, Universum.

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schicksalsgemeinschaften im kino: in „american Hustle“ kooperieren betrüger mit dem Fbi; „das finstere tal“ zeigt familiäre Verstrickungen im großen, „lovely louise“ dagegen im kleinen kreis; und die „monuments men“ retten kunst vor den nazis.

Film-Kunst

Neue Filme

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+ alle starttermine

36 American Hustle [13.2.]

filmmuseum wien

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s. ameriCan hustle

Das Österreichische Filmmuseum in Wien wird 50 Jahre alt. Das „OFM“ vermittelt Filmkultur ausschließlich über anspruchsvolle Reihen. Eine Nahaufnahme. Von Stefan Grissemann

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PhiliP seYmour hoffman

Kinotipp

Fotos: TITEL: Concorde. S. 4/5: FD-Archiv, Delphi, Österreichisches Filmmuseum, Real Fiction, Tobis, X Verleih, Camino, Universum.

Chamäleongleich interpretierte er seine Rollen und begeisterte mit seinem doppelbödigen Spiel. Ein Nachruf auf einen zu früh gestorbenen Meister seiner Zunft. Von Felicitas Kleiner

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dVd-Perlen Während zwei Filme über Richard Wagner den Komponisten in rauschenden Bildern feiern, nutzt eine Beethoven-Biografie die Kinoform zur Kritik an der DDR. Von Ralf Schenk

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maGisChe momente Ingmar Bergman erzählt in „Wilde Erdbeeren“ von der Reise eines alten Professors zur Leichtigkeit des Seins. Von Rainer Gansera

der katholischen Filmkritik

46 Charlie Mariano - Last Visits

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Dokumentation von Axel Engstfeld

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Cilgin Dersane 3 [23.1.] DeAD [13.2.] Eyyvah Eyvah 3 [30.1.] Das finstere Tal [13.2.] Killing Time [20.2.] Lovely Louise [13.2.] Madame empfiehlt sich [13.2.] Monuments Men [20.2.] Nymphomaniac 1 [20.2.] RoboCop [6.2.] Stromberg - Der Film [20.2.] Tarzan 3D [20.2.] Und morgen Mittag bin ich tot [13.2.] 42 Vaterfreuden [6.2.] 37 Winter’s Tale [13.2.]

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die amerikanische Filmakademie, die bei der Auswahl für die „Oscars“ jene Filme bevorzugt, die ihnen von Produzenten und Verleihern mundgerecht serviert werden. S. 27.

kein ‚oscar‘ für robert redford Kritiken und Anregungen?

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s. das finstere tal

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s. loVelY louise

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s. monuments men

rubriken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Scham im Kino kleine PhänomenoloGie eines PeinliChen GefÜhls

Anblick de wer ans kino denkt, denkt nicht an scham. die emotionsmaschine „kino“ rührt das Publikum zu tränen, versetzt es in angst und schrecken oder zwingt es zum lachen. Zuschauer reagieren wütend, erfreut, angeekelt, sie staunen und bewundern. Vielleicht sind sie sogar heimlich in Cary Grant oder Claudia Cardinale, elyas m’barek oder Jennifer lawrence verliebt. aber scham? seit den anfängen der filmgeschichte vermuten die wächter von sitte und moral, dass in der dunkelheit des saals die schamlosesten dinge ablaufen – und wohl nicht immer ganz zu unrecht. Zugleich kommt es im kino immer wieder zu peinvollen momenten der scham. Von Julian Hanich

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kino

„sCham“ / „sChämen“ Geht über mhd. scham(e), ahd. scama auf germ. skamo „Schande, Beschämung“ zurück; nur im Deutschen entwickelte sich die Bedeutung „Schamgefühl“ und das Verständnis des Begriffs als verhüllende Bezeichnung für die Geschlechtsteile; die genaue Herkunft ist nicht sicher geklärt; die Bildungen schamlos und unverschämt bedeuten beide „ohne Schamgefühl“ und stammen aus mittelhochdeutscher Zeit. (Duden)

der Medusa Wer je als einziger ins eisige Schweigen eines Kinosaals hineingelacht hat (und das auch noch auf besonders forcierte Weise), der weiß, wie sich Scham im Kino anfühlt. Unerbittlich schießt die Schamesröte ins Gesicht, weil man sich in der sicheren Gemeinschaft der Mitlachenden glaubte – und plötzlich feststellen muss, dass man die Szene ganz allein lustig fand. Entblößt vor der stummen Mehrheit, möchte man sich am liebsten in Luft auflösen. Ganz ähnlich geht es jenem männlichen Zuschauer, der sich durch einen Schockmoment im Horrorfilm bis ins Mark erschreckt fühlt und dabei einen spitzen Schrei ausstößt. Vor seiner ruhig gebliebenen weiblichen Begleitung schämt er sich dafür schon im nächsten Augenblick in Grund und Boden. Um die schamvolle Scharte auszuwetzen, lacht er peinlich berührt über seinen eigenen Aufschrei – was das Ganze noch schlimmer macht. Doch es gibt im Kino auch Scham-Episoden, die nicht von den eigenen lautstarken Reaktionen herrühren, sondern direkt durch das Geschehen auf der Leinwand ausgelöst sind: durch Szenen unerwartet expliziter Erotik oder drastischer Pornografie. Um sich das Scham-Phänomen prägnant vor Auge zu führen, von dem hier die Rede sein soll, genügt möglicherweise ein kurzes Abschweifen der Erinne-

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„Die Scham löst mich aus der Gruppe und entblößt mich scheinbar vor ihr.“ rung in die Kindheit: Waren es nicht peinvolle Sekunden, die sich wie elendlange Minuten anfühlten, wenn man mit den Eltern im Kino oder vor dem Fernseher saß und plötzlich eine Kuss- oder gar eine Bettszene zu sehen war? Mit einem Mal verwandelte sich die gemeinschaftliche Erfahrung in eine unangenehm imaginäre Konfrontation: dort die Eltern, hier man selbst; dort der mutmaßlich vorwurfsvolle Blick, hier die eigene Scham; dort die vermeintliche Abgeklärtheit, hier die peinliche Erregung. Von Sigmund Freud stammt der Begriff der Urszene: Er beschreibt den Moment, in dem ein Kind seine Eltern zum ersten Mal beim Sex erwischt. In launiger Anlehnung an diesen Begriff könnte man den Moment, in dem das Kind eine Kuss- oder Sex-Szene mit den Eltern ansieht, als „Urszene der kollektiven Filmerfahrung“ bezeichnen. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass sich an diese Urszene erinnert, wer demnächst in Lars von Triers „Nymphomaniac“ sitzt: Der neue Film des dänischen Regisseurs enthält derart freizügige Szenen, dass manche Zuschauer noch mit Scham reagieren werden, wenn andere schon Empörung in sich aufsteigen fühlen. Ähnliches gilt für Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“: ein Film, in dem mehrfach zwei junge nackte Frauenkörper zu sehen sind, die minutenlang ekstatischen Sex miteinander haben. Oder für „Paradies: Liebe“ von Ulrich Seidl: Darin hat eine Gruppe nicht mehr ganz junger Österreicherinnen Sex mit einem durchaus noch jungen Kenianer. Seidl spielt dabei offen mit dem Mysterium, das sich um den erigierten Penis des afrikanischen Mannes rankt – ein Spiel, auf das sich auch Lars von Trier in „Nymphomaniac“ mit sichtbarer Provokationslust einlässt. Momente expliziter Sex-Darstellung wie diese können den Kinozuschauer in eine

prekäre Lage stürzen. Natürlich empfindet nicht jeder diese Szenen in gleicher Weise schamvoll. Die Stärke der Emotion hängt von verschiedenen Faktoren ab. Doch einige wiederkehrende Merkmale dürften auch weitgehend schamresistenten Zuschauern bekannt vorkommen. Dazu gehört, dass sich das Verhältnis zur Leinwand und zum restlichen Publikum verschiebt. War der Zuschauer zuvor in die Welt des Films eingetaucht, katapultiert ihn der Schammoment zurück in den Kinosaal. Plötzlich sind die Mitzuschauer auf unangenehme Weise nah. Man wähnt sich beobachtet, im schlimmsten Fall von tausend Augen umstellt. Mit der Scham verändern sich die Blickvektoren: Einerseits fühlt man, wie die Blicke anderer Zuschauer einen geradezu durchdringen (weshalb die letzte Reihe schon deshalb ein bevorzugter Ort vieler Zuschauer ist, weil sie dort keine Blicke im Rücken spüren). Andererseits geht Scham mit dem Drang einher, den eigenen Blick zu senken (wobei gleichzeitig das erotische Treiben auf der Leinwand den Blick weiter magisch anzieht). Anders als beim gemeinsamen Lachen oder auch beim kollektiven Gruseln entsteht in Schammomenten also kein Gemeinschaftsgefühl: Schäme ich mich, fühle ich mich den anderen Zuschauern emotional alles andere als nah. Vielmehr entsteht ein eigenartiger Antagonismus: Die Scham löst mich aus der Gruppe und entblößt mich scheinbar vor ihr. Aber Schamepisoden ziehen die Aufmerksamkeit nicht nur auf die anderen Personen im Publikum – sie lassen auch den eigenen Körper auf unangenehme Weise bemerkbar werden. Fühlt sich der Zuschauer von der Scham überflutet, läuft sein Gesicht heiß an, und er möchte im Boden versinken. Nicht selten geht mit pornografischen Szenen im Kinosaal auch eine durch Schamangst

befeuerte Selbstdisziplinierung des Körpers einher: Weder die Atmung noch die Sitzposition soll irgendeine körperliche Erregung verraten; eine körperliche Reaktion, die angesichts der pornografischen Bilder nicht leicht zu unterdrücken ist. Als hätte ihn der Blick der Medusa getroffen, sitzt der Zuschauer wie versteinert im Kinosessel: erregt und doch möglichst ungerührt. Doch woher rührt die Scham? In ihrer beeindruckend detaillierten Studie „Scham und Macht“ hat die Philosophin Hilge Landweer die Bedeutung der Normverletzung für das Gefühl der Scham hervorgehoben. Wer schamvoll auf explizite Sex-Szenen reagiert, ist bewusst oder unbewusst davon überzeugt, eine Norm übertreten zu haben. Zum einen mag das Gefühl von der Vorstellung herrühren, dem Betrachten pornografischer Bilder hafte etwas „Anrüchiges“, für manche sogar „Schmutziges“ an. Hier dürften, abhängig von der persönlichen Haltung zur Pornografie, erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Zuschauern bestehen. Denken wir an eine Szene aus „Taxi Driver“ von Martin Scorsese: Bei ihrer ersten Verabredung nimmt der von Robert De Niro gespielte Vietnam-Veteran Travis Bickle seine Begleitung Betsy (Cybill Shepherd) mit ins Pornokino. Während Travis den Film sichtlich genießt und sich keiner Normverletzung bewusst ist, sieht man Betsy beschämt und mit großem Unbehagen im Kino sitzen. Doch hängt die Scham sicher auch damit zusammen, dass durch die pornografischen Bilder im quasi-öffentlichen Raum des Kinos eine höchst intime Körperreaktion stimuliert wird: Wer sich als Zuschauer vor anderen erregt fühlt, mag dies als Verletzung einer verinnerlichten Norm empfinden. Damit wären wir bei einem weiteren Katalysator für die Scham im Kino: die

„Wer sich schämt, wird sich seiner selbst in Bezug auf andere bewusst.“ 12

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Anwesenheit anderer Zuschauer. Das kollektive Erleben des Kinos, ein in der Geschichte der Filmtheorie weitgehend vernachlässigtes Phänomen, hat einen erheblichen Einfluss auf die Emotionen. Manche Gefühle werden im Kino gedämpft. Andere Emotionen hingegen befeuert die Gegenwart von Mitzuschauern. Seit Platon haben Philosophen immer wieder die soziale Verwurzelung der Scham hervorgehoben: Wer sich schämt, wird sich seiner selbst meist in Bezug auf andere bewusst. Erstaunlicherweise hat die Filmtheorie den Zuschauer lange als einsamen Voyeur beschrieben: Das Publikum beobachte die Figuren und Schauspieler des Films, so das Argument, aus einer sicheren, da unsichtbaren Position heraus. So schreibt etwa die Filmwissenschaftlerin Linda Williams in ihrem Standardwerk „Hard Core: Macht, Lust und die Traditionen des pornografischen Films“: Die Kinomagie ermögliche es dem Zuschauer, „alles zu sehen und zu hören, ohne selbst gesehen zu werden“. Das mag in gewisser Weise für Zuschauer plausibel sein, die sich einen Film allein auf DVD, im Fernsehen oder auf dem Laptop anschauen. Gleiches gilt für die Pornokabinen, die Isabelle Huppert in Michael Hanekes „Die Klavierspielerin“ aufsucht. Im Kino sehen wir Filme jedoch immer mit anderen

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Zuschauern, die vor, neben oder hinter uns sitzen. Dieses Wissen um die Anwesenheit anderer verändert die Situation – und zwar grundlegend. Weil dies so ist, verwundert es kaum, dass heterosexuelle Pornokinos weitgehend aus den Städten verschwunden sind. Wer Pornografie konsumiert, tut das heute meist im Privaten. Und auch die expliziten Szenen aus Arthouse-Filmen wie „Romance“, „Baise-moi“, „Der Pornograph“, „Intimacy“, „The Brown Bunny“, „9 Songs“, „Battle in Heaven“, „Shortbus“ oder „Holy Motors“ verlieren ihr Schampotenzial für denjenigen, der sie alleine sieht. Andererseits kann das schamvolle Unbehagen in der Gegenwart bestimmter Personen weiter zunehmen – siehe die oben beschriebene Urszene. Man stelle sich vor: In der Spätvorstellung von „Nymphomaniac“ sitzt hinter einem der eigene Chef. Die Wahrscheinlichkeit, sich während der Sex-Szenen von hinten beobachtet zu fühlen, dürfte ziemlich hoch sein. Oder wie reagiert man angesichts eines unerwarteten pornografischen Akts, wenn man die eigenen Großeltern zum Kinobesuch überredet hat? Auch hier sind die Chancen groß, dass man sich ob der eigenen Filmauswahl beschämt im Kinosessel windet. Es ist paradox. Wer sich angesichts pornografischer Szenen schämt, fühlt sich von den anderen Zuschauern bei einer

Fotos: fd, Concorde, Alamode, Constantin, Filmlichter, Neue Visionen, Senator.

Filme, die das schamgefühl des Publikums ausloten: Während in den 1960er-Jahren eine angedeutete masturbationsszene in „das schweigen“ (oben mitte) für aufruhr sorgte, lassen mittlerweile meist nur noch explizite stoffe erröten, etwa „Feuchtgebiete“ (o.l.), „the brownian movement“ (o.r.), „Paradies: liebe“ (u.l.), „shortbus“ (u.r.).

Normübertretung ertappt, obwohl diese auch auf den erotisierenden Akt geblickt haben. Man wähnt sich als einzelner vor der Menge entblößt, wo doch alle anderen ebenfalls Grund zur Scham hätten. Und man glaubt sich beobachtet, obwohl der Rest des Publikums nach vorne auf die Leinwand starrt, möglicherweise ähnlich verlegen. Das Gefühl der Scham im Kino? Merkwürdig. Im doppelten Sinn des Wortes. Julian Hanich lehrt Filmwissenschaft an der Universität Groningen. Er hat Aufsätze über Angst, Ekel, Wut und das Lachen im Kino geschrieben. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die kollektive Kinoerfahrung.

Zur Rolle des Schamgefühls

nach Norbert Elias

In seiner Studie „Über den Prozess der Zivilisation“ (1939) hat der Soziologe Norbert Elias die Rolle des Schamgefühls bei der Genese der europäischen Gesellschaften analysiert. Das „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle“ seit dem Ende des Mittelalters stellt für Elias ein wesentliches Element auf dem Weg der Individualisierung dar, weil es die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge begünstigt. Elias veranschaulichte diese Entwicklung am Beispiel konkreter Verhaltensänderungen, etwa beim Essen und Trinken, beim Umgang mit Messer und Gabel oder bei der Einstellung zum Schneuzen und Spucken in der Öffentlichkeit. Lit: Über den Prozess der Zivilisation. Von Norbert Elias. Suhrkamp wissenschaft, Frankfurt 2010. 502 S.

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8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e das finstere tal Ein eisiger Western

[start 13.2.]

film killing time

Auf den Spuren von Tarantino

[start 20.2.]

dienst neue filme im kino SO WERTET FILMDIENST

HandWerk

Die Qualität von Regie, Schnitt, Kamera, Musik.

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Thema und Gehalt der erzählten Geschichte.

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Die Leistungen der Schauspieler.

Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte

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Clooney & die Beutekunst

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Gauner & Ganoven

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lovely louise von Bettina Oberli [stARt 13.2.] und morgen mittag bin ich tot von Frederik Steiner stromberg - der film von Arne Feldhusen [stARt 20.2.]

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len sich im Soundtrack von Matthias Weber durch ein Klagemotiv nach dem anderen, unterbrochen höchstens vom wummernden Bass der Gefahr. Ganz zurechtgefunden hat sich die Regie also nicht zwischen Wucht und Verspieltheit, zwischen Zeitlosigkeit und Modernisierung. Aber so fremd, so atmosphärisch erstickend wie hier hat das Leben in den Bergen noch selten ausgesehen. Tim Slagman

beWertung der Filmkommission

Das finstere tal [13.2.]

germano-Western Andreas Prochaska importiert stilvoll Western-Elemente in die bayerischen Berge Ein „Sinner Man“ reitet alleine durch die bayerischen Berge. Regisseur Andreas Prochaska begrüßt seine Hauptfigur mit diesem Spiritual, einem AußenseiterSong, tief verwurzelt in der amerikanischen Kultur. Dieser Sünder ist also ein Fremder hier, einer, der die Erfahrung der Weite gemacht haben muss, in Übersee, und der nun über Fels und Schlucht in eine Welt reist, die eng ist – eng im Land und eng in den Köpfen. Nun ist diese Musik heute natürlich längst Pop. Und vermutlich spielte keinem der Leser, die Thomas Willmanns unerbittliche Romanvorlage verschlungen haben, dabei Pop in den Ohren. Wohl aber der Sound des Schweigens, der Rache und der Vergeltung, eine grimmige Stille, durchbrochen nur ab und an vom Knallen der Gewehre. Greider, der Fremde, macht nicht viele Worte, als er an seinem Ziel angekommen ist, einem abgelegenen Bergdorf. Der Empfang ist

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frostig wie der nahende Winter, der die Bewohner einschließen wird, bis der Frühling das Tauwetter mit sich bringt. Aber Greider hat ein Säckchen Gold dabei und einen Fotoapparat, einen „Spiegel mit Gedächtnis“, ungesehen bei den Hinterwäldlern Ende des 19. Jahrhunderts. Greider darf bleiben, das beschließen die Brenners, die eine unheimliche Macht über den Ort auszuüben scheinen. Und dann, als der Schnee das Tal vom Rest der Welt abgeschnitten hat, gibt es den ersten Toten. Die Berge sind bei Prochaska eben kein Ort der Kontemplation oder Überwältigung, sondern sie schützen und erdrücken zugleich, sie bergen Ruhe vor der sich rasch modernisierenden Welt da draußen, aber sie bergen auch Gefahr. Die Inszenierung verkneift sich schwelgerische Kamerafahrten über vom Schnee gezuckerte Gipfel oder weite Felder. Das Weiß bedeutet hier primär Kälte und

Mühsal. Auch in den Stuben, in denen eher Blicke als Worte getauscht werden, scheinen die Menschen zu ächzen, in der Dunkelheit unter den wuchtigen Holzbalken. Keine Frage: eine mit großem Geschick gezeichnete Welt, in der Unterwerfung und Trauer den Alltag bestimmen. Doch dieser unbedingte Stilwille hat eine Kehrseite: Die Häufigkeit der Zeitlupen, in denen das Sterben und die Qual zerdehnt werden, wirkt bald enervierend. So wie Autor Willmann Sergio Leone zu seinen Motivgebern zählt, so sieht man bei Prochaska die Hommage an Sam Peckinpah nur allzu deutlich, und wenn die Salzburger Band Steaming Satellites „How Dare You“ zum Blutbad singt, dann hört man darin auch etwas vom Pop-Eklektizismus eines Quentin Tarantino. Andererseits: Die Streicher, die Ennio Morricone für Leone in der Hitze des Westens flirren ließ, quä-

Ende des 19. Jahrhunderts kommt ein Fremder in ein abgelegenes Bergdorf in Bayern, in dem er den Winter verbringen muss, als über Nacht heftiger Schneefall den Ort von der Außenwelt abschneidet. Als kurz hintereinander die beiden Söhne des Dorfpatriarchen sterben, wird der Fremde verdächtigt, damit etwas zu tun zu haben. Es machen sich aber auch Vermutungen breit, dass ein altes Dorfgeheimnis etwas damit zu haben könnte. Die Verfilmung eines Romans von Thomas Willmann wirkt in manchen Elementen überstilisiert, zeichnet aber dennoch das atmosphärisch dichte Bild eines Mikrokosmos, in dem Terror und Gewalt herrschen. – Ab 16.

Österreich/Deutschland 2013 regie: Andreas Prochaska buch: Martin Ambrosch, Andreas Prochaska kamera: Thomas W. Kienast musik: Matthias Weber schnitt: Daniel Prochaska darsteller: Sam Riley (Greider), Paula Beer (Luzi), Tobias Moretti (Hans Brenner), Clemens Schick (Luis), Helmuth A. Häusler (Hubert) länge: 115 Min. | Fsk: ab 12; f Verleih: X-Verleih | kinostart: 20.2.2014 Fd-kritik: 42 202 Handwerk InHalt darsteller

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