Filmdienst 05 2014

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Filmkunst

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

05 2014

www.filmdienst.de

Foto-Impressionen Die »Berlinale«, festgehalten nicht nur in Worten, sondern auch in stimmungsvollen Fotografien eines Medien-Ereignisses.

Spielwütig! Auf keinen trifft dieses Wort besser zu: Jacob Matschenz ist ein eindrucksvoller Schauspieler und ein Workaholic.

Moskau: Kinos & Filmschauplätze Der aktuelle CityGuide lädt zum Spaziergang durch die russische Metropole ein.

»BerlinAle« 05

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27. Februar 2014 € 4,50 67. Jahrgang

Es waren zehn lange Tage und Nächte mit mehr als 400 Filmen. Eine Rückschau auf die 64. Internationalen Filmfestspiele in Berlin.

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Akteure

Kino alle filme im tV vom 1.3. bis 14.3. das extraheft 40 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV 80.000 Film-Kriti k e n u n t e r w w w. f i lmdienst.d

ZERRISSENE UMARMUNGEN 3. 3. einsfestival

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Ständige Beilage

FILM

BROKEN FLOWERS 13. 3. 3Sat

IM TV 1.3.–14.3.2014

3 ZIMMER/KÜCHE/BAD 12. 3. arte

DAS HAUSMÄDCHEN 5. 3. arte

FALCO – VERDAMMT, WIR LEBEN NOCH! 1. 3. einsfestival

Die glorreichen Sieben Western-Klassiker auf Kurosawas Spuren Die Zeit, die bleibt Eine intime Studie über die Trauer Der Mond und andere Liebhab er Faszinierende Katharina Thalbach

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Eine Nachlese von Deutschlands wichtigstem Filmfestival: Trends und Themen, Stärken und Schwächen des Berlinale-Jahrgangs 2014. Von Felicitas Kleiner + Ein Interview mit Dietrich und Anna Brüggemann zu „Kreuzweg“ Von Wolfgang Hamdorf + Vergoldet: Das chinesische Kino Von Marius Nobach + Kinderschicksale im Fokus Von Marius Nobach + Caligari-Preis: „Das große Museum“ Von Jens Hinrichsen + Deutsche Filme Von Kathrin Häger + Filmgespräche Von Jörg Gerle

Seit mehr als 30 Jahren produziert und inszeniert Axel Engstfeld Dokumentarfilme. Ein Gespräch über Trugbilder und Reflektionen in seinem Werk. Von Horst Peter Koll

AXEL ENGSTFELD

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JACOB MATSCHENZ Der gefragte junge Schauspieler dreht bis zu sechs Filme im Jahr und hinterlässt bei jedem Auftritt ein Stück seiner markanten Persönlichkeit. Von Alexandra Wach

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Zerrissene Umarmungen 3.3. einsfestival Das Hausmädchen 5.3. arte Broken Flowers 13.3. 3sat

ein wahrhaft „spielwütiger“ schauspieler: Jacob matschenz in „das Lächeln der tiefseefische“.

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Idee einiger Studios, lieber auf eine kleine Anzahl von Filmen zu setzen, die Gewinn bringen, statt teure Flops zu riskieren (S. 27).

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Neue Filme

Film-Kunst 26

MAGISCHE MOMENTE Mit seinem Geniestreich „Die Ferien des Monsieur Hulot“ machte Jacques Tati seine versponnene Figur Hulot zum Inbegriff der Schüchternheit. Von Rainer Gansera

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FD-CITYGUIDE MOSKAU Geschichtsbewusst und weltoffen zugleich: Die russische Metropole übt auf Filmemacher und Cineasten seit jeher besonderen Reiz aus. Ein Streifzug. + Kinoadressen Von Julia Kuniß

+ ALLE STARTTERMINE

44 A Floresta de Jonathas – Im dunklen Grün [6.3.] 41 Die Abenteuer von Mr. Peabody & Sherman [27.2.] 45 Alles inklusive [6.3.] 47 Alles was wir wollen [6.3.] 46 Bibi & Tina – Der Film [6.3.] 36 Grand Budapest Hotel [6.3.] 47 Hêvî - Hoffnung [6.3.] 37 Im August in Osage County [6.3.] 42 Jack Ryan: Shadow Recruit [27.2.] 43 Die Kunst der Fälschung [6.3.] 47 La Deutsche Vita [6.3.]

filme über meister ihrer Zunft: „die Kunst der fälschung“ porträtiert den gemäldefälscher wolfgang Beltracchi, der concierge m. gustave steuert das treiben im „grand Budapest hotel“. und walt disney kämpft in „saving mr. Banks“ um die filmrechte an „mary poppins“.

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s. GRAND BUDAPEST HOTEL

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HITCHCOCK UND DIE NAZIS

Fotos: TITEL: Jasmin Scherer. S. 4/5: Central, Berlinale, FD-Archiv, Universum, Senator, Tweniteth Century Fox, Walt Disney.

Neben seiner jüngst wiederentdeckten KZ-Dokumentation setzte Hitchcock sich auch in seinen Spielfilmen mit dem Nationalsozialismus auseinander Von Jens Hinrichsen

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s. SAVING MR. BANKS

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DVD-PERLEN Zwei Filme vom Ende der Weimarer Republik plädieren für Völkerverständigung, der Propagandafilm „Morgenrot“ weist bereits auf die NS-Zeit voraus. Von Ralf Schenk

Kinotipp der katholischen Filmkritik

s. 39 Philomena [27.2.] Drama von Stephen Frears

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Kritiken und Anregungen?

Like Someone in Love [27.2.] Mitgift [6.3.] Pompeii 3D [27.2.] Saving Mr. Banks [6.3.] Der Tropfen [6.3.] Verbotene Filme [6.3.] Viva la Libertà [27.2.]

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s. DIE KUNST DER FÄLSCHUNG

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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B e r l i Die Temperaturen während der „Berlinale“(6.–16. 2. 2014) waren mild, der Tonfall in den Filmen war oft eher rau: Das Programm stand im Zeichen gewalttätiger Genrefilme. Nicht nur im China-noir „Bai Ri Yan Huo“ von Diao Yinan, dem Gewinner des „Goldenen Bären“, ging es um Mord und Totschlag, um Indizien maroder Gesellschaften. Eine „Tatortbegehung“ entlang des roten Teppichs: Allgemeines zum „Berlinale“-Jahrgang 2014, ein Interview mit Anna und Dietrich Brüggemann, die mit „Kreuzweg“ einen viel diskutierten deutschen Beitrag zum Wettbewerb lieferten, Betrachtungen zu Schwerpunktthemen und Besonderheiten der 64. Festival-Ausgabe. Für die „Monuments Men“, die der „Berlinale“ ihren Glamour-Höhepunkt bescherten, ist die Sache klar: Kunst, so das Fazit des gleichnamigen Films, ist es wert, sein Leben für sie einzusetzen. Womit nicht der Geldwert der abendländischen Kunstschätze gemeint ist, die die Helden-Truppe um George Clooney vor dem Zugriff der Nazis schützt, sondern der ideelle Wert: In den Kunstwerken, so der Film, kondensieren sich Geschichte und Kultur; das Gute, Wahre, Schöne. Das, was den Menschen zum Menschen macht. Lässt man diesen

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humanen Kern der Barbarei anheimfallen, gibt es keine Hoffnung mehr. Für eine solche Botschaft sind die Besucher eines Filmfestivals sehr empfänglich: Dass es sich lohnt, für die (Film-)Kunst zu kämpfen, das müssen auch die Filmfans glauben, die bereit waren, für Filmtickets in endlosen Warteschlangen reichlich Lebenszeit zu investieren. (Mit 330.000 verkauften Tickets gab es in Berlin sogar einen neuen Rekord.) Und natürlich auch all die Akkreditierten, für die das Festival zehn Tage und Nächte lang der Nabel der Welt war. >

Magier im Kino-Hogwarts: „Berlinale“-Direktor Dieter Kosslick in seinem 14. Amtsjahr (Foto: Karol Wysmyk)

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Preise Der ÖKuMeniscHen JurY

Die „Bären“ unD anDere Preise „Goldener Bär“: „Bai ri Yan Huo“ von Diao Yinan Großer Preis der Jury: „The Grand Budapest Hotel“ von Wes anderson alfred-Bauer-Preis: „aimer, boire et chanter“ von alain resnais Beste regie: richard Linklater für „Boyhood“ Beste Darstellerin: Haru Kuroki in „Chiisai Ouchi“ von Yoji Yamada Bester Darsteller: Liao Fan in „Bai ri Yan Huo“ von Diao Yinan Bestes Drehbuch: Dietrich und anna Brüggemann für „Kreuzweg“ Herausragende Künstlerische leistung: Zeng Jian für die Kamera in „Tui na“ FiPreSCi-Preise: „aimer, boire et chanter“ von alain resnais/„Hoje eu quero voltar sozinho“ von Daniel ribeiro/ „Forma“ von ayumi Sakamoto Caligari-Filmpreis: „Das große Museum“ von Johannes Holzhausen

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Nun ist ein Filmfestival immer auch mehr als die Summe seiner Filme. Innerhalb des Programms Bezüge herzustellen, „filmübergreifende“ Geschichten zu entdecken und im besten Fall mit Filmemachern, Veranstaltern und anderen Cineasten übers Kino und seine Bedeutung zu diskutieren, ist ebenso Teil dieses „Gesamtkunstwerks“. So vermittelte beim deutschen Wettbewerbsbeitrag „Zwischen Welten“ über deutsche Soldaten in Afghanistan die Pressekonferenz das politische Anliegen glaubhafter als der Film selbst. Während Regisseurin Feo Aladag, Hauptdarsteller Ronald Zehrfeld, Kamerafrau Judith Kaufmann und die interkulturellen Berater mit Leidenschaft über das Projekt erzählten, schwächte der Film den spannenden Stoff durch ungeschickte Inszenierungsentscheidungen eher ab. Vor allem in Sachen „filmübergreifende Geschichten“ mauserte sich die „Berlinale“ zum lohnenswerten Diskursfeld.

Preis im Wettbewerb: „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann, Deutschland/Frankreich. Begründung: „Die 14-jährige Maria wächst in einer katholisch-fundamentalistischen Gemeinschaft auf und will ihr eigenes leben Gott weihen. 14 an die Kreuzwegstationen angelehnte Tableaus, fast ohne Kamerabewegung oder Musik formal konsequent erzählt, zeigen die destruktiven aspekte jedes Fundamentalismus und nötigen zugleich zur reflexion über angemessene Formen des Glaubens.“ lobende erwähnung im Wettbewerb: „71“ von Yann Demange, Großbritannien. Preis im Panorama: „calvary“ von John Michael McDonagh, Großbritannien/irland. Begründung: „ein irisch-katholischer Priester erfährt während der Beichte, dass er nur noch eine Woche zu leben hat und dann umgebracht werden soll. Wird seine moralische integrität ihn dazu bewegen, die Sünden seiner Kirche auf sich zu nehmen? Der Film behandelt etliche ernsthafte Themen mit schwarzem Humor. Brendan Gleesons denkwürdige Darstellung wird sicher in den Kanon der Filmpriester aufgenommen.“ lobende erwähnung im Panorama: „Triptyque“ von robert lepage und Pedro Pires, Kanada. Preis im Forum: „sto spiti“ von athanasios Karanikolas, Griechenland/Deutschland. Begründung: „Die georgische Migrantin nadja arbeitet ohne soziale absicherung als Hausangestellte in einer griechischen Oberklassefamilie. Seit Jahren lebt sie in der Familie, doch plötzlich erkrankt sie ernsthaft, während zugleich der Familienvater in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Der Film stellt die Würde einer Frau am rand der Gesellschaft in den Mittelpunkt.“

Filmstills: Internationale Filmfestspiele Berlin

Hat sich all die Mühe gelohnt? Was hat uns das Kino in diesen zehn Tagen zurückgegeben? Der Veranstalter antwortet darauf mit harten Fakten einer Erfolgsbilanz: Mehr als 400 Filme aus 72 Ländern, darunter 135 Weltpremieren, wurden gezeigt, und das bei viel internationaler Star-Präsenz: Christian Bale, Moritz Bleibtreu, Jennifer Connelly, Matt Damon, Catherine Deneuve, Jean Dujardin, Ralph Fiennes, Bruno Ganz, Brendan Gleeson, Shia LaBeouf, Viggo Mortensen, Martin Scorsese, Léa Seydoux, Stellan Skarsgård, Tilda Swinton, Forest Whitaker und und und... Solche Statussymbole interessieren Cineasten freilich weniger als die Frage nach Qualität bzw. Relevanz der Filme. Die Antwort fiel nicht so ganz positiv aus: Bis auf die Retrospektive „Licht

und Schatten“, die allerorts mit leuchtenden Augen quittiert wurde, waren die Reaktionen auf die Auswahl der Sektionen verhalten: zu viele mittelmäßige Filme, zu wenig Höhepunkte, zu unklar das Profil. Vor allem die „Königsklasse“, der Wettbewerb, sorgte für Enttäuschungen: Neben Wes Andersons Eröffnungsfilm „The Grand Budapest Hotel“ und der Meisterleistung von Dominik Graf, „Die geliebten Schwestern“, konnte lange kein Film durchweg überzeugen. Bis gegen Ende des Festivals herausragende Beiträge aus China und, vor allem, Richard Linklaters kleines Filmwunder „Boyhood“ für Auftrieb sorgten.

„Die geliebten Schwestern“

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Berlinale

„71“

Eine der „heißen Zonen“ war das internationale Genre-Kino: Formeln der traditionellen Gewalt-Genres (Thriller, Kriegsfilm, Western) wurden vielfach variiert, um abgründige Charakterporträts zu zeichnen und/oder etwas über den Zustand von Gesellschaften zu erzählen. Da stieß dann der deutsche Psychothriller „Stereo“ von Maximilian Erlenwein (im Panorama) auf den irischen Rache-Krimi „Calvary“ von John Michael McDonagh – beides Charakterbilder zweier respektabler Männer, der eine Familienvater, der andere Priester, die gewalttätig von vergangenem Unrecht eingeholt werden; einmal erzählt mit gnadenlosem Ernst, einmal mit trockenem Humor. Oder es kämpft ein bärbeißiger Skandinavier in einer lakonisch-zynischen Krimi-Farce („Kraftidioten“ von Hans Petter Moland) neben einem griechischen Auftragskiller in einer manieristischen Parabel („To mikro psari“ von Yannis Economides) blutig gegen einen moralfreien Gangster-Kapitalismus, der traditionelle Familien- und Wertestrukturen zersetzt (im Wettbewerb). Ein britischer Soldat, der 1971 in Belfast in eine völlig undurchschaubare Krisensituation gerät („71“ von Yann Demange), wird zum imaginären Kameraden des überforderten deutschen ISAF-Soldaten beim Afghanistan-Einsatz („Zwischen Welten“). Wobei die formalen Parameter grundverschieden sind: Während „71“ die Desorientierung der Figur unmittelbar in der Kameraführung spiegelt, sorgt „Zwischen Welten“ didaktisch dafür, dem Zuschauer Orientierung zu geben. Als Zuschauer kann man dann im Vergleich umso besser abwägen, welcher Film effektiver ist bzw. wo die jeweiligen Schwachpunkte und Grenzen der stilistischen Herangehens-

weise liegen. Inszenatorisch souverän und zugleich höchst elegant gelang vor allem zwei chinesischen Filmen die Genre-Hommage: dem Film noir „Bai Ri Yan Huo“ von Diao Yinan, der mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet wurde, sowie dem NeoWestern „Wu Ren Qu“ von Ning Hao (vgl. S. 18). Formale Qualitäten und die spürbare Lust am Spiel mit cineastischen Vorbildern treffen hier harmonisch auf ein seismografisches Gespür für gesellschaftliche Befindlichkeiten. Schuld- und Gewaltverstrickungen präsentierte das Festival aber nicht nur in solchen Genre-Stoffen. Auch in Filmen anderer Spielart war das Klima auf den „Berlinale“-Leinwänden wesentlich rauer als der fast schon frühlingshafte Berliner Winter. Weniger blutige, indirektere, aber dennoch perfide Formen von (sozialer) Gewalt bildeten quer durch die Sektionen eine Konstante. So ging es um Überforderung und/oder Vernachlässigung, die vor allem Kinder betrifft – ein weiterer thematischer Schwerpunkt des Wettbewerbs, z.B. im deutschen Beitrag „Jack“ oder im

FoToGraFiscHe „BerLinaLe“-iMPressionen Mit dem Projekt „Close Up!“ von C/O Berlin und der „Berlinale“ zeigten 13 junge Fotografinnen und Fotografen im alter von 20 bis 25 Jahren auf der 64. „Berlinale“, was sie können – und was sie während des Festivals gesehen haben. ihr jeweils ganz persönlicher Blick auf Festival-Glamour und -alltag vor und hinter den Kulissen zählte. Die Bilder aller teilnehmenden Fotografen waren nach dem Festival in einer Open-air-ausstellung vor der C/O Berlin Galerie im amerika Haus zu sehen. Unsere „Berlinale“-Berichte begleiten stimmungsgeladen drei Fotografinnen und ein Fotograf, die am „Close Up!“-Projekt teilnahmen: Susanne erler (S. 15) Karol Wysmyk (S. 10/11 , S. 16) Sabine Kelka (S. 19) Jasmin Scherer (S. 21 , Titelmotiv)

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argentinischen Film „La tercera orilla“. Oder es ging ums Eingespanntsein in die Maschinerie inhumaner Arbeitswelten, was ein Brennpunktthema des Internationalen Forums des jungen Films darstellte, etwa in „Que ta joie demeure“ von Denis Coté oder in „Free Range“ von Veiko Ounpuu. Auch Aggressionen im Bereich der Sexualität spielten eine nicht unwichtige Rolle, sei es der äußere Druck gegen bestimmte sexuelle Orientierungen (einmal mehr ein großes Thema im Panorama) oder aber der eigene destruktive Umgang damit, dessen sich von Triers Heldin im (gar nicht so skandalösen) Skandalfilm „Nymphomaniac Vol 1“ (Director’s Cut) anklagt. Gerade vor diesem düsteren Hintergrund ist es umso bedauerlicher, dass einer der schönsten und menschenfreundlichsten Filme des Festivals bei der Preisverleihung leer ausging: Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“. Anhand der Dreiecksbeziehung zwischen Friedrich Schiller, seiner Frau Charlotte von Lengefeld und deren Schwester Caroline entwirft der Film ein facettenreich-funkelndes Prisma der Epoche der Weimarer Klassik und des Strebens dreier Menschen nach (Liebes-)Glück sowie künstlerischer und menschlicher Selbstverwirklichung in der Reibung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Graf hat durchaus auch das Scheitern von Idealen an gesellschaftlichen Realitäten, an Zwängen und Gewalt im Blick (etwa wenn es um die Französische Revolution geht), er erzählt aber auch davon, was im Menschen dagegen Widerstand leistet und immer wieder über die gesetzten Grenzen hinausstrebt. Womit wir wieder beim Guten, Wahren, Schönen wären, für das es sich zu kämpfen lohnt: Es ließ sich auch bei der 64. „Berlinale“ entdecken. Felicitas Kleiner Kinostarts von „Berlinale“-Filmen: „Calvary“: 25.9.; „Stereo“: 1.5.; „Die geliebten Schwestern“: 31.7.; „Zwischen Welten“: 27.3.; „Die Schöne und das Biest“: 1.5.; „A Long Way Down“: 3.4.; „Zeit der Kannibalen“: 24.4.

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„3 Zimmer/Küche/Bad“

„42plus“

„Renn, wenn du kannst“

das Lächeln der hundertleben Der Schauspieler Jacob Matschenz „Das Lächeln der Tiefseefische“

„1. Mai – Helden bei der Arbeit“

Von Alexandra Wach

„Bis aufs Blut“

Auf keinen der bisher in unserer Reihe porträtierten jungen SchauspielerInnen trifft das Prädikat „spielwütig“ so gut zu wie auf Jacob Matschenz. Ob Coming-of-Age- oder Historiendrama, Abenteuer- oder Kinderfilm: Matschenz dreht nicht nur viel, sondern hinterlässt in jedem Film immer auch ein Stück seiner markanten Persönlichkeit. 24

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„DreiLeben“

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Jacob Matschenz

Akteure

Fotos: Filmverleihe

Die Liste der absolvierten Produktionen ist beachtlich: Seit 2001 reiht Jacob Matschenz einen Film an den anderen, mitunter schon mal mehr als sechs in einem Jahr. Vielleicht gerade weil der 1984 in Ost-Berlin geborene Autodidakt keine klassische Ausbildung absolviert hat, holt er das Defizit durch exzessive Praxis nach. Ob auf der Mattscheibe oder der großen Leinwand: Seine entwaffnend natürliche Präsenz, der Verzicht auf angestrengte Oberflächeneffekte und der ewige Charme eines unverbrauchten Jungtalents bleiben ihm trotzdem auf wundersame Weise erhalten. Und haben den inzwischen fast 30-Jährigen zu einem Lichtblick in manch einem von Til Schweiger produzierten DesasterAusflug gekürt. Jacob Matschenz schafft es mühelos, vom Dreh eines Kinderfilms wie „Vorstadtkrokodile“ in das vergrübelte Universum von Christian Petzold zu gleiten, auch wenn er in dessen „Dreileben – Etwas Besseres als den Tod“ einmal mehr den Jüngling auf der Schwelle zum Erwachsensein mimte, einen lethargischen Zivildienstleistenden, der sich zwischen zwei Frauen entscheiden muss, bevor er mit einem Medizinstudium die Weichen stellt. Spätestens seit „Das Lächeln der Tiefseefische“ (2005) haftet diese Rollenzuweisung an ihm, kein Wunder, hat er doch die Tragikomödie um einen frustrierten 17-jährigen Schulabbrecher, der alles dafür tut, um seinem vermeintlich idyllischen Heimatort Ahlbeck zu entkommen, gemeinsam mit Alice Dwyer zu einer sommerlich leichten und zugleich zaghaft sozialkritischen Emanzipationsromanze veredelt. In Ingo Haebs Debüt „Neandertal“ bewies er ein Jahr später den Mut zur charakterfachrelevanten Leidensfähig-

© Thomas Goethe

Spielwütig

„... Mittlerweile ist das etwas besser geworden. Es sind ein, zwei Preise gekommen, auf denen drauf steht: ‚Für Schauspielerei‘. Mittlerweile habe ich keine Scham mehr zu sagen, ich bin Schauspieler.“ Jacob Matschenz

keit, als er den Part eines Jugendlichen übernahm, der sich mit der Diagnose Neurodermitis herumschlägt. In der fein dosierten Mischung aus westdeutschem Kleinstadtporträt, 1980er-JahreFlair und brachialem Coming-of-AgeModell lieferte Matschenz mit seiner wütend konstruktiven Handhabung der eigenen emotionalen und physischen Unzulänglichkeiten einen ansteckenden Befreiungsschlag ab, der angesichts der schwer verdaulichen Thematik nachhaltig Respekt einflößt. Nach Nebenrollen in „Die Welle“, „Im Winter ein Jahr“ und der wunderbaren 68erFamilienstudie „Rose“ schloss er sich den Geschwistern Brüggemann an. Ein Glücksfall, war er doch in den Generationsporträts „Renn, wenn du kannst“ und „3 Zimmer/Küche/Bad“ erneut der sensibel-pragmatische Jugendliche

vom Dienst, schien aber in dem familiär wiederkehrenden Ensemble derart gut aufgehoben, dass man ihn in „Kreuzweg“, Dietrich Brüggemanns aktuellem Spielfilm, sogleich schmerzlich vermisste. Bereits in Volker Schlöndorffs französisch-deutschem Widerstandsfilm „Das Meer am Morgen“ (2011), in dem Matschenz einen jungen, in Frankreich stationierten Wehrmachtssoldaten spielte, der im Rahmen einer Strafaktion einem Erschießungskommando zugeteilt wird, kam sein längst noch nicht ausgeschöpftes Potenzial zur Geltung. Aktuell in Edward Bergers „Jack“ (2013) ist er nun an vorderster Front mit von der Partie: In dem BerlinFilm um einen zehnjährigen Jungen, der gegenüber seinem kleinen Bruder in die Rolle des Ersatzvaters schlüpft, weil seine chronisch abwesende Mutter mit der Erziehung überfordert ist, gehört Matschenz zu den Erwachsenen, die dem kindlichen Drama nur wenig abgewinnen können. Das Schicksal, selbst ignoriert zu werden, dürfte ihn nicht mehr ereilen. Jacob Matschenz hat mit seiner Skala von „adoleszent gefährdet“ bis zu „rebellisch unberechenbar“ mindestens noch 100 Filmrollen vor sich.

aKTueLLe FiLMe 2013__________„Jack“, „lenalove“, „Die Pilgerin“, „Großstadtklein“, „Sputnik“ 2012__________„3 Zimmer / Küche / Bad“, „Finn und der Weg zum Himmel“, „Schutzengel“ 2011_____________„Bella Block – Der Fahrgast und das Mädchen“, „laconia“ 2010________________„Das System“, „Dreileben“, „Vorstadtkrokodile 3“

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neue Filme

im Kino

grand Budapest Hotel [6. 3.]

so hätte es gewesen sein können Wes Anderson überführt die Historie in die Möglichkeitsform

Nennt man die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einer Zeit, die man selbst gar nicht erlebt haben kann, sondern die nur aus alten Spielfilmen befeuert wird, eigentlich auch Nostalgie? Oder müsste man nicht eher von Phantomschmerzen sprechen? Der geniale Regisseur Wes Anderson hat sich stets darauf verstanden, seinen Filmen mit spielerischer Leichtigkeit Referenzräume zu eröffnen, die als Ornamente des Erzählens einem emphatischen Verständnis von Pop verpflichtet waren: David-Bowie-Songs auf portugiesisch, Jacques Cousteau, The Kinks, „Schwarze Narzisse“, Jean Renoirs „The River“, The Beach Boys und Evel Knievel, Nouvelle Vague und die early Sixties. Andersons Filme waren dabei so voller visueller Gimmicks und geschmackvoller Insider-Gags, dass man über die fadenscheinigen, nachlässig zusammengeflickten Plots mitunter ganz froh war, da hierfür ohnehin nur noch sehr wenig Aufmerksamkeit übrig gewesen wäre.

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In „Grand Budapest Hotel“ ist das noch immer so und doch ganz anders, denn diesmal scheint das Spiel mit den Referenzen etwas verbindlicher und konzentrierter, auch weniger üppig wuchernd, was mit dem gewählten Sujet zu tun haben könnte. Wobei nicht ganz klar ist, welches Sujet Anderson hier eigentlich gewählt hat. Ein komischer Thriller? Ein barock-labyrinthischer Hotelfilm? Ein verquerer Abenteuerfilm? Ein Road Movie mit allerlei Fortbewegungsmitteln? Ein umständliches Caper-Movie? Ein auf Etikette bedachtes BuddyMovie? Wie auch immer: Andersons Bricolage bleibt so idiosynkratisch wie sein Hinweis auf Stefan Zweig. In dessen (verdeckter) Autobiografie „Die Welt von gestern“ liest man: „Von all meiner Vergangenheit habe ich also nichts mit mir, als was ich hinter meiner Stirne trage. Alles andere ist für mich in diesem Augenblicke unerreichbar oder verloren.“ Eine schöne Vorlage für einen Autorenfilmer par excellence wie Wes

Anderson. Schon das kunstvoll geschachtelte Spiel mit den Zeitebenen, mit dem die Erzählmaschine angeworfen wird, offenbart spielerisch die Mühe, die es kostet, einen Ort zu etablieren, von dem aus das Erzählen wieder möglich wird. Von der Gegenwart geht es stufenweise zurück, in die Jahre 1985, 1968 und 1932. Eine junge Frau liest in einem Park ein Buch eines Autors, der dann höchstselbst erzählt, dass er vor Jahren im Grand Budapest Hotel, gelegen nahe Nebelsdorf in den Bergen der ost-mitteleuropäischen Republik Zubrowka, einen alten Mann namens Zero Moustafa traf, der ihm eines Abends seine Geschichte erzählt. Die unter anderem davon handelt, dass das Grandhotel einst, als der legendäre Concierge M. Gustave noch das Sagen hatte, weitaus bessere Tage gesehen hat. Das war in den frühen 1930er-Jahren, vor dem Nationalsozialismus und all seinen Entartungen und Verbrechen, die allerdings im kleinen Zubrowka schon etwas

früher als anderswo sichtbar wurden. M. Gustave ist ein höchst stilbewusster Dienstleister, der den Gästen seines Hotels und insbesondere den älteren Damen jeden Wunsch mit ausgesuchter Höflichkeit und Professionalität erfüllt. Er ist zugleich ein mit allen Wassern des Pragmatismus gewaschener Filou, der leicht arrogant auf seine humanistische Bildung verweist und dennoch äußerst „streetwise“ ist. Aufgrund seiner zuverlässigen Dienste erbt M. Gustave von seiner (ermordeten) Kundin Madame D ein kostbares Gemälde mit dem Titel „Junge mit Apfel“; ihre raffgierige Verwandtschaft aber ficht das Testament an und hintertreibt es mit mörderischen Mitteln. Ein Miniaturkosmos, der durch die Befolgung bestimmter Regeln am Laufen gehalten wird, und ein MacGuffin namens „Junge mit Apfel“ sind die hinreichenden Voraussetzungen für einen schnurrigen und schnurrenden WesAnderson-Film, der alles hat, was man von einem echten Wes Anderson-Film erwarten darf: eine verschrobene, aber bis ins Kleinste ausgeklügelte Ausstattungsorgie voller visueller Überraschungen, aufreizend geometrisch choreografierte Kamerafahrten, die zweidimensional auf 3D machen, ein lakonischer Humor mit bisweilen vulgären Untiefen, ein Hang zu Kontrolle und Verniedlichung und dazu die legendäre „Stock Company“ mit Darstellern wie Jason Schwartzman, Owen Wilson, Willem Dafoe, Adrien Brody, Bill Murray sowie einigen Neuzugängen wie Ralph Fiennes und Mathieu Amalric. Besonderen Drive bekommt der Film allerdings durch die Tatsache, dass Anderson sein ganz persönliches k.u.k.Mitteleuropa entlang der Filmgeschichte entworfen hat. Man kann in dieser vor Einfällen überbordenden fiktiven Filmwelt an die dunkleren Fantasien eines Guy Maddin („Lawinen über Tölzbad“) denken, andererseits aber auch problemlos Spuren von Hitchcock, Lubitsch, Wilder, Hawks, Sternberg, aber auch von Laurel & Hardy oder den Marx Brothers identifizieren. In den Figuren des eifersüchtigen Erben Dmitri und des Killers Jopling wird zudem deutlich, dass Zubrowka an Transsylvanien grenzen

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im Kino könnte. Man kann sich bei diesen Figuren aber auch an die mysteriösen Dreharbeiten zu Murnaus „Nosferatu“ erinnert fühlen, wie sie in „Shadow of a Vampire“ dokumentiert sind. So entwirft Anderson schwungvoll und leicht melancholisch eine bonbonfarbene Fantasiewelt voller dunkler Einschüsse, die erklären können, warum diese Welt entweder untergegangen ist oder aber nie existierte. Stets bleibt der vollmundig dargereichte Trost des Kinos: So hätte es immerhin gewesen sein können. Ulrich Kriest

Bewertung der fiLmKommission

Die Geschichte eines fiktiven Grand Hotels in einem pittoresk-imaginären Land, erzählt aus der Perspektive eines Pagen, der auf verzwickten Wegen zum Erben des Anwesens wird. Ein kunstvoll verschachteltes Spiel mit verschiedenen Zeitebenen, inszeniert als überquellender Miniaturkosmos, getragen von einer ausgeklügelten Ausstattung, fantasievollen Kamerafahrten, lakonischem Humor, zahlreichen filmischen Anspielungen und glänzenden Darstellern. Die schwungvoll und leicht melancholisch ausgemalte, bonbonfarbene Fantasiewelt voller dunkler Einschüsse irrealisiert die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts und überführt sie zugleich in einen Möglichkeitsraum. sehenswert ab 14.

THE GRAND BUDAPEST HOTEL USA/Deutschland 2014 regie, Buch: Wes Anderson Kamera: Robert D. Yeoman musik: Alexandre Desplat schnitt: Barney Pilling darsteller: Ralph Fiennes (M. Gustave), Tony Revolori (Zero Moustafa jung), F. Murray Abraham (Zero Moustafa alt), Mathieu Amalric (Sege), Adrien Brody (Dmitri), Willem Dafoe (Jopling), Jeff Goldblum (Kovacs), Jude Law, Bill Murray, Edward Norton, Tilda Swinton. Léa Seydoux, Tom Wilkinson Länge: 100 Min. | Kinostart: 6.3.2014 Verleih: Fox | fd-Kritik: 42 220 handwerk

inhalt

darsteller

iM august in osage countY [6. 3.]

eine familie rechnet ab

Bar jeder Selbstironie: Theateradaption mit Star-Besetzung

Man wüsste allzu gerne, was der renommierte Autor Tracy Letts über die „Verfilmung“ seines mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Theaterstückes „August: Osage County“ in sein Tagebuch notiert hat. Ob es ihm gefallen hat, dass die Hauptdarstellerinnen Meryl Streep und Julia Roberts für „Golden Globes“ nominiert wurde? Und dann auch noch in der Kategorie „Comedy or Musical“? Ist sein Drama etwa ein Pastiche aus Tennessee-Williams- und/oder Edward Albee-Versatzstücken, eine schwarze Komödie oder gar eine Parodie? Die dann von der ersten Schauspielerliga Hollywoods auf derart unironische Weise exekutiert wird, dass man sich wieder im Museum der Theaterleichen, Abteilung: Familienhöllen der 1950erJahre, wähnt? Auszuschließen ist das nicht, denn Letts zeichnet auch für das Drehbuch verantwortlich. Aber im Film ist alles so lächerlich „over-acted“, dass es schon fast wieder traurig ist. „August: Osage County“ wird zu einem Fegefeuer der Eitelkeiten, dessen mangelnder Sinn für Selbstironie den Stoff radikal trivialisiert. Alles an diesem Film ruft „Großes Schauspielerkino“, ein entschiedenes „Hier!“, wenn demnächst wieder die „Oscars“ verteilt werden. Pustekuchen!

Für Daily Soaps gibt es glücklicherweise noch keine „Oscars“! In der brütenden Hitze Oklahomas beschließt ein ehedem erfolgreicher Schriftsteller, den eine Jahrzehnte lange Schreibblockade zum schweren Alkoholiker werden ließ, dass Selbstmord eine schöne Alternative zur Ehe mit der verbitterten Violet ist. 40 Jahre Ehehölle sind genug. Zur Beerdigung reist die ganze Familie an, beobachtet von einer Haushältin, die eine Cheyenne-Indianerin ist: eine ganz erstaunliche Akkumulation von Krisen, Lebenslügen und offenen Rechnungen. Es folgt eine furiose Familienaufstellung, bei der sich steif gegenüberstehende Figuren messerscharf formulierte Dialoge aufsagen und dabei Schicht um Schicht die Masken abstreifen, bis man vor einem Abgrund aus Boshaftigkeit, Misanthropie und Inzest steht. Viels bleibt in diesem Film nur Behauptung. Dass es sich bei der unendlichen Weite des Mittleren Westens weniger um eine Landschaft als vielmehr um einen Geisteszustand wie den Blues handelt, wird hier ebenso behauptet wie die Tatsache, dass die Elterngeneration schwere Zeiten durchgemacht hat oder dass die Gegend und ihre Bewohner

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unter einer unerträglichen Hitze leiden, die nicht einmal tropischen Vögeln gut tut. Das mag auf dem Papier ganz gut und pointiert erscheinen, doch ein Film (Regie: John Wells, Kamera: Adriano Goldman) sollte nicht nur auf das gesprochene Wort vertrauen, sondern adäquate Bilder dafür suchen. Ganz zum Schluss, wenn alles gesagt erscheint und die Familie Weston sich wieder in alle Winde verstreut hat, bleibt noch Zeit für ein letztes Gespräch zwischen Mutter und Tochter: Das Böse legt noch einmal nach. Jemand steigt in ein Auto und fährt davon, hält kurz an, denkt nach und fährt dann weiter. Jetzt kommt es auf die Richtung an. Im Drama bleibt das Ende offen, im Film ist die Fahrtrichtung auf triviale Weise falsch: eine Befreiung. Ulrich Kriest Bewertung der fiLmKommission

Ein erfolgreicher, dem Alkohol verfallener Schriftsteller nimmt sich das Leben, auch um seiner Ehefrau zu entkommen. zur Beerdigung reist seine Familie an, im Gepäck eine Anhäufung von Krisen, Lebenslügen und offenen Rechnungen. Ein furioses Familiendrama, bei dem sich steif gegenüberstehende Figuren messerscharf formulierte Dialoge an den Kopf werfen und Schicht um Schicht alle Masken abstreifen, bis man vor einem Abgrund aus Boshaftigkeit, Misanthropie und Inzest steht. – ab 14 AUGUST: OSAGE COUNTY. Scope. USA 2013 regie: John Wells Buch: Tracy Letts Kamera: Adriano Goldman musik: Gustavo Santaolalla schnitt: Stephen Mirrione darsteller: Meryl Streep (Violet Weston), Julia Roberts (Barbara), Ewan McGregor (Bill), Chris Cooper (Charles Aiken), Abigall Breslin (Jean), Benedict Cumberbatch, Juliette Lewis Länge: 121 Min. | fsK: ab 12; f Verleih: Tobis | Kinostart: 6.3.2014 fd-Kritik: 42 221 handwerk

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Filmdienst 5 | 2014

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