FILM Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur
05 2016
www.filmdienst.de
Im Herbst 1944 will ein ungarischer Jude in Auschwitz-Birkenau einen toten Jungen rituell beerdigen. Regisseur László Nemes führt mit äußerster künstlerischer Konsequenz in die Höllenglut der Vernichtungsmaschinerie.
»BeRlinale«
Poliitsch und historisch orientierte Filme prägten die 66. »Berlinale«, die ihm »Recht auf Glück« ihr Oberthema fand.
DALTON TRUMBO
Der Film »Trumbo« erzählt aus dem Leben des politisch verfolgten Schriftstellers und Drehbuchautors (u.a. »Spartacus«).
Anne Franks Tagebuch Hans Steinbichler verfilmte Leben und Sterben der Anne Frank neu. Mit einer großartigen Schauspielerin: Lea van Acken.
Son of Saul 3. März 2016 € 5,50 69. Jahrgang
filmdienst 05 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME Neu im Kino +
Alle Starttermine
49 13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi 3.3. 46 Babai 10.3. 42 Balikbayan #1 - Memories of Overdevelopment Redux III 10.3. 49 Birnenkuchen mit Lavendel 10.3. 44 El Clan 3.3. 52 Francofonia 3.3. 41 Grüße aus Fukushima 10.3. 50 Hail, Caesar! 18.2. 47 Im Strahl der Sonne 10.3. 51 Landstück 3.3. 44 London Has Fallen 10.3. 48 Midnight Special 18.2. 39 No Land’s Song 10.3. 51 Osman Pazarlana 18.2. 49 Results 3.3. 45 Sexarbeiterin 3.3. 38 Son of Saul 10.3. 43 Das Tagebuch der Anne Frank 3.3. 49 The Choice – Bis zum letzten Tag 10.3. 40 Trumbo 10.3. 51 Unsere Wildnis 10.3. 46 Voices of Violence 10.3. 51 Wo willst du hin, Habibi? 10.3. 46 Zoomania 3.3.
39 No Land’s Song
51 Unsere Wildnis
43 das tagebuch der anne frank
38 Son of Saul
Respektvolle Annäherung an die jugendliche Schreiberin aus Amsterdam
fernseh-Tipps 56 Das Fernsehen als Hort der Cinephilie. Zumindest an den Rändern erinnern die Sender an verdiente Filmschaffende, etwa an Jutta Hoffmann (mdr) und Wolfgang Petersen (SWR), die beide 75 Jahre alt werden. Den 85. Geburtstag von Wolfgang Kohlhaase feiert der rbb. Beim Sender aus Berlin-Brandenburg begegnet man auch Zarah Leander und Horst Buchholz.
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50 Hail, Caesar!
41 grüSSe aus Fukushima
Fotos: TITEL: Sony S. 4/5: UPI, Sony, Majestic, Universum, magnolia home entertainment, Berlinale
Kinotipp der katholischen Filmkritik
05 | 2016 DIE ARTIKEL Inhalt Kino
Akteure
FilmKunst
10 Dalton Trumbo
20 Doris Dörrie
28 Berlinale
10 Dalton Trumbo
Der Drehbuchautor war einer der »Hollywood Ten«, die nicht mit dem McCarthyKomitee kooperierten. Ein Rückblick auf eine Zeit, in der die Politik Hollywood vereinnahmen wollte. Am Ende aber hatten die Filmemacher den längeren Atem. Von Ulrich Kriest
16 Der deutsche Film
»Kino machen andere – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert«, betitelte der Verband der deutschen Filmkritik eine Diskussion während der »Berlinale«. Nachbetrachtungen zu Ansichten, Meinungen und Vorträgen. Von Wilfried Reichart
18 lea van acken
Mit 17 Jahren hat sich die Schauspielerin schon zwei Hauptrollen im Kino ergattert und sich in die US-Serie »Homeland« geschmuggelt. »Das Tagebuch der Anne Frank« fordert ihr nun dramatische Qualitäten ab. Ein »Spielwütig«-Porträt. Von Alexandra Wach
20 Doris Dörrie
Japan fasziniert die Münchner Regisseurin seit vielen Jahren, was sich von »Erleuchtung garantiert« (1999) bis »Kirschblüten – Hanami« (2007) auch in ihren Filmen niederschlägt. In »Grüße aus Fukushima« erzählt sie erstmals eine Geschichte aus japanischer Perspektive. Von Margret Köhler
22 Anne Frank & hans Steinbichler
»Das Leben geht doch nur nach vorne«, notierte Anne Frank in ihrer weltbekannten Kladde. Ein Gespräch mit Regisseur Hans Steinbichler über die Zugänglichmachung der Aufzeichungen für die Jetztzeit und das Porträt eines eingesperrten Teenagers in seiner ganzen Zerrissenheit.
27 e-mail aus hollywood
Die »Academy« steht im Kreuzfeuer der Kritik. Zu wenige Filme mit Schwarzen, Frauen, Latinos. Das Problem aber liegt woanders: bei den zumeist weißen Executives der Studios. Von Franz Everschor
28 Berlinale
Das 66. Filmfestival am Potsdamer Platz stand auch im Zeichen aktueller politischer Herausforderungen. In den insgesamt 437 Filmen spiegelte sich jedoch die ganze Vielfalt des weltweiten Filmschaffens. Eine Rückschau in thematischer Perspektive und kleinen Splittern. Von Felicitas Kleiner, Marius Nobach, Jörg Gerle, Kathrin Häger, Rüdiger Suchsland und Margret Köhler
Von Silke Kettelhake
26 in memoriam
Die deutschen Regisseure Alfred Jung raithmayr und Haro Senft sind gestorben. Zwei Nachrufe. Von Thomas Brandlmeier und Horst Peter Koll
S i eg f r
ed kracauer s
tip
endium
Rubriken 3 Editorial 4 Inhalt 6 Magazin 36 DVD-klassik 54 DVD/Blu-ray 56 TV-Tipps 66 P.S. 67 Vorschau / Impressum
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Der Autor Sven von Reden hat 2015 das Siegfried-Kracauer-Stipendium gewonnen. Der FILMDIENST veröffentlicht Texte, die er im Rahmen dieses Stipendiums verfasst. In dieser Ausgabe: seine Kritik zu »Francofonia« (S. 52). Eine Initiative zur Förderung der Filmkritik.
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filmkunst Berlinale
»Die Kunst drückt nur eins aus: Die Freiheit!«
Nachlese: Die »Berlinale« 2016 28
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berlinale filmkunst
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Vor der 66. »Berlinale« hatte ihr Direktor Dieter Kosslick ein »Recht auf Glück« als Oberthema des Programms ausgegeben. Doch wie können Figuren erfolgreich um Glücksvisionen ringen, wenn ihnen Kriege, nationale Traumata, gesellschaftliche Hindernisse oder die unerbittliche Zeit entgegenstehen? Im Rennen um den »Goldenen Bären« 2016 haben vor allem politisch und historisch orientierte Filme vielfältige Antworten auf diese Frage gefunden.
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»Akher Ayam El Medina«
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»Cartas da Guerra«
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»Chang Jiang Tu«
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»Hele Sa Hiwagang Hapis«
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»Inhebbek Hedi«
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»L'avenir«
Ein Filmschaffender leistet Abbitte für seine Sünden. In »Hail, Caesar!« von Joel und Ethan Coen, dem Eröffnungsfilm der »Berlinale« 2016, wird Josh Brolin als Hollywood-Produzent Eddie Mannix tagtäglich beim Priester vorstellig. Die gebeichteten Vergehen fallen allerdings eher in den Bereich der Unterlassung; Mannix treibt die Furcht um, an den drängenden Fragen seiner Zeit vorbei zu leben. Deshalb produziert er Bibelfilme, mit den Mitteln des Unterhaltungs mediums Kino (Stars, Bombast), doch heraus kommt nichts von gesellschaftlicher Relevanz, sondern Kitsch. Die Erlösung aus den Gewissensqualen ist einmal mehr verschoben, doch immerhin erlebt Mannix während des Drehs einen Moment der beruflichen Offenbarung und versöhnt sich mit seinem Metier. Mit dieser munteren Hommage ans Kino der 1950er-Jahre lieferten die Coens der 66. Ausgabe der »Berlinale« den idealen Auftakt. Denn trotz des zeitlichen Abstands zum Geschehen des Films – die Organisatoren der diesjährigen Festival-Ausgabe mussten sich mit ganz ähnlichen Erwägungen herumschlagen: Wie bringt man den Wunsch nach Stars und Unterhaltung unter einen Hut mit dem Anspruch der gesellschaftlichen Relevanz? Und vor allem: Wie positioniert sich ein glamouröses Festival, wenn Flüchtlinge, Verfolgungen, Kriege und andere gewichtige Themen die Gegenwart bestimmen? »Berlinale«-Direktor Dieter Kosslick hatte das Dilemma frühzeitig aufgegriffen und ein »Recht auf Glück« als Devise des Programms ausgelobt. Tatsächlich handelten zahlreiche Beiträge unter den erneut mehr als 400 Filmen von mehr oder minder deutlichen Glücksvisionen und den Schwierigkeiten der Verwirklichung. Insbesondere im Wettbewerb war dies zu bemerken, der den aus den Vorjahren schon gewohnten Spagat versuchte: Mit den konkurrierenden Filmen den Finger auf brennende, politisch relevante Fragen zu legen und zugleich eine Lanze für die Filmkunst zu brechen. In den letzten »Berlinale«-Jahren war das nicht immer ohne weiteres gelungen, und auch 2016 blieben Enttäuschungen nicht ganz aus, etwa über das vordergründige Immigrationsdrama »Soy Nero« des Iraners Rafi Pitts oder die uninspirierte Hans-Fallada-Verfilmung »Jeder stirbt
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und deckt präzise die bleibenden Wunden auf. Im Rahmen eines multiperspektivischen Ensembledramas erweisen sich zudem auch die gegenwärtigen sozialen Zustände in Sarajevo als reichlich brüchig. Ähnlich virtuos präsentierte sich auch der Philippiner Lav Diaz mit seinem AchtStunden-Epos »Hele Sa Hiwagang Hapis«: Kunstvoll verschachtelt der Meister des ausgedehnten Erzählens darin die koloniale Vergangenheit seines Landes mit Mythen und Elementen aus Romanen zu einem faszinierenden Historienpanorama. Nicht zuletzt gerät sein Film auch zur Huldigung an die Kunst. Als ein desillusionierter Dichter erklärt, nicht länger an romantische Ideen über seine Verse zu glauben, widerspricht ihm ein Krieger vehement: »Die Kunst drückt nur eins aus: Die Freiheit!« Filme mögen stilistisch kaum weiter auseinanderliegen als »Hele Sa Hiwagang Hapis« und »Hail, Caesar!«, doch in ihrem geteilten Bekenntnis zur Kunst zeigten sie die gleiche Leidenschaft. Und boten damit letztlich die perfekte Antwort auf die Glücksfrage der »Berlinale«, mit Aussagekraft weit über das Festival hinaus. Marius Nobach 1
PREISE der Internationalen Jury für den Wettbewerb: G o l d e ne r Bä r f ü r d e n B e st e n F i l m : »Fuocoammare« (Italien/Frankreich), Regie: Gianfranco Rosi S i l b e r ne r Bä r ( » G r oSS e r P r e i s d e r J u ry« ) : »Smrt u Sarajevu«/»Death in Sarajevo« (Frankreich/Bosnien-Herzegowina), Regie: Danis Tanovic S i l b e r n e r Bä r ( »A l f r e d - Bau e rPreis« für einen Spielfilm, der neue P e r s p e kt i v e n e r ö ff n e t ) : »Hele Sa Hiwagang Hapis«/»A Lullaby to the Sorrowful Mystery« (Philippinen), Regie: Lav Diaz S i l b e r ne r Bä r f ü r d i e B e st e R eg i e : Mia Hansen-Løve für »L’avenir« (Frankreich/Deutschland) S i l b e r n e r Bä r f ü r d i e B e st e Da r st e l l e r i n: Trine Dyrholm für »Kollektivet«/»Die Kommune« (Dänemark/Schweden/Niederlande) S i l b e r n e r Bä r f ü r d e n B e st e n Da r st e l l e r : Majd Mastoura für »Inhebbek Hedi«/»Hedi« (Tunesien/Frankreich/Belgien) S i l b e r n e r Bä r f ü r das B e st e Drehbuch: Tomasz Wasilewski für »Zjednoczone stany milosci«/»United States of Love« (Polen)
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S i l b e r n e r Bä r f ü r e i ne H e r au s r ag e nd e Kü n st l e r i sc h e L e i st u n g : Mark Lee Ping-Bing für die Kameraführung von »Chang Jiang Tu«/»Crosscurrent« (China) PREISE der Ökumenischen Jury: Wettbewerb: »Fuocoammare« (Italien/Frankreich), Regie: Gianfranco Rosi Pa no r a m a : »LES PREMIERS, LES DERNIERS« (Belgien/Frankreich), Regie: Bouli Lanners
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Fo ru m : »Barakah yoqabil Barakah« (Saudi- Arabien), Regie: Mahmoud Sabbagh und »Les Sauteurs« (Dänemark), Regie: Abou Bakar Sidibé, Estephan Wagner und Moritz Siebert
Fotos S. 28 / 29: Berlinale 2016 / Zero Prod. / Bradley Liew / Frederic Noirhomme © Nomadis Images-Les Films du Fleuve-Tant Films. S.31 / 32: Berlinale 2016 / Asian Shadows
für sich allein« des Schweizers Vincent Perez. Beide beschränken sich auf solide Bebilderungen ihrer Sujets, lassen jedoch filmische Leidenschaft vermissen. Weitaus überzeugender fielen demgegenüber jene Filme aus, die sich auf indirekteren Wegen dunklen Flecken der Historie oder Gegenwart annäherten. Jenseits trockener Geschichtslektionen konnte so zum Beispiel der tunesische Regiedebütant Mohamed Ben Attia mit seiner detailgenauen Sozialstudie »Inhebbek Hedi« glänzen. Nicht nur zeichnet er darin das humorvolle Porträt eines jungen Mannes, der gegen die Bevormundung seiner Mutter rebelliert, auf unaufdringliche Weise spiegelt sich in dieser Emanzipationsgeschichte auch die Katerstimmung nach der verflogenen Revolutionseuphorie in Tunesien. Auch andere Regisseure mit bislang überschaubarer Filmografie erhielten durch die Aufnahme in den diesjährigen Wettbewerb die Chance, sich mit stilistisch eindrucksvollen Werken zu profilieren. Der Portugiese Ivo M. Ferreira etwa findet in »Cartas da Guerra« eine kongeniale Lösung, vom Schrecken eines Kolonialkriegs zu erzählen: Briefe, die der Schriftsteller Antonio Lobo Antunes 1970-72 aus Angola nach Hause schrieb, werden von einer eindringlichen Frauenstimme vorgetragen. Daraus entsteht ein poetischer Klangteppich, der stimmig die mal traumähnlichen, mal realistischen Schwarz-Weiß-Momentaufnahmen aus dem Krieg kontrastiert. Ein ähnliches filmisches Gedicht bot auch der chinesische Wettbewerbsbeitrag »Chang Jiang Tu« von Yang Chao: In ungemein sachte dahingleitenden Bildern schildert er die Reise eines jungen Frachterkapitäns von Shanghai bis zur Mündung des Jangtsekiang, die immer tiefer auch die Vergangenheit Chinas führt. Städte, die für Staudämme überflutet wurden, verlassene buddhistische Tempel und immer neue Verlusterfahrungen der Hauptfigur verbinden sich zu einer klagenden, aber nicht anklagenden Manifestation purer Filmschönheit. Von der zusehends verzweifelten Suche nach Glück kündeten schließlich auch die beiden Wettbewerbsfilme, die sich am weitesten in die Vergangenheit zurückbegaben. In »Smrt u Sarajevu« zieht der Bosnier Danis Tanovic eine Bilanz zur Historie des Balkans von 1914 bis heute
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Fluc ht p u n kt Ki n o Eine Flucht vor der Flucht wollte sie erklärtermaßen nicht sein, die 66. »Berlinale«: keine GlamourAtempause von der tagtäglichen Konfrontation mit der Flüchtlingskrise, sondern eine »Lobby« (so Dieter Kosslick) für die Menschen, die nach Deutschland kommen, um hier Schutz und die Pers pektive auf ein besseres Leben zu finden. Das »Berlinale«-Programm löste diesen Anspruch auf vielfältige Weise ein. 4
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Zum Beispiel mit einer Art von Austausch zwischen den Welten von Politik und Kino: Glamour-Frontmann George Clooney, der in Berlin den Eröffnungsfilm »Hail, Caesar!« vorstellte, traf sich am 12.2. mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, um über das Thema Flüchtlingskrise zu sprechen; Flüchtlinge, die derzeit in Berliner Notunterkünften untergebracht sind, konnten derweil ihre Sorgen für ein Weilchen hinter sich lassen und in Begleitung von »Paten« in den Festivalkinos in verschiedene Filmwelten abtauchen. Einen spannenden Austausch gab es außerdem im Rahmen der Filmprogramme: Man konnte die europäische Perspektive aufs Thema Flüchtlinge relativieren und andere Sichtweisen kennenlernen – z.B. in Filmen aus Nordafrika und dem arabischen Raum. Oder in Filmen, die sich mit Flüchtlingsbewegungen und -schicksalen in ganz anderen Teilen der Welt befassen, z.B. an der Grenze von China und Myanmar (im Forumsbeitrag »Ta’ang« von Wang Bing), in Kanada (in »Tales of Two Who Dreamt« von Nicolás Pereda und Andrea Bussmann, ebenfalls Forum) oder auf der Insel Taiwan (im mit dem »Audi Award« geehrten Kurzfilm »Jin zhi xia mao«). Der aufsehenerregendste Programmbeitrag zum Thema Flüchtlinge lief im Wettbewerb und wurde von der internationalen Jury mit dem »Goldenen Bären« geehrt – es war einfach der richtige Film zur richtigen Zeit: Der Doku-Essay »Fuocoammare« von Gianfranco Rosi spielt auf der italienischen Insel Lampedusa, auf der der Andrang geflohener Menschen aus Afrika und dem arabischen Raum nichts Akutes ist, sondern schon seit über 20 Jahren ein Teil der Lebenswirklichkeit. Rosi hat sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten Dokumentaristen Italiens gemausert; sein Film »Sacro GRA«, ein Porträt der Menschen, die entlang des großen Autobahnrings um die Metropole Rom wohnen, hatte 2013 den »Goldenen Löwen« bei den Filmfestspielen in Venedig gewonnen. Wie dieser Film lebt auch »Fuocoammare« von der Hartnäckigkeit, mit der sich der Regisseur in verschiedene Milieus hineinlebt, sich nicht mit oberflächlichen Eindrücken zufriedengibt. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich Rosi für seine Projekte die Zeit nimmt, die sie brauchen. Eigentlich war sein Projekt über
die Insel Lampedusa nur als 10-minütiger Kurzfilm geplant; als Rosi 2014 mit seinen Recherchen vor Ort begann, erkannte er jedoch bald, dass er in diesem kurzen Format der Komplexität der Zustände, die er auf der Insel vorfand, nicht gerecht werden konnte. Also zog er kurzerhand nach Lampedusa und verbrachte über ein Jahr auf der Insel bzw. auf dem Meer vor der Insel auf den Rettungsschiffen, um Material für einen Langfilm zu drehen. »Es war nötig, über das hinauszugehen, was die Medien normalerweise tun, die nur nach Lampedusa kommen, wenn sich ein Notfall ereignet. Während ich dort lebte, merkte ich, dass der Begriff ›Notfall‹ sinnlos ist. Jeder Tag ist ein Notfall.« Das Resultat dieser Recherche ist ein Film über einen Mikrokosmos, in dem Extremsituation und Normalität ganz nah beieinander sind. Das macht ihn, so ruhig und unaufgeregt er erzählt ist, zu einer emotionalen Achterbahnfahrt: Da amüsiert man sich in einer Szene über die Alltagsabenteuer eines kleinen italienischen Jungen (einen der zentralen Protagonisten des Films), um in einer der nächsten Szenen mit der Fassungslosigkeit zu ringen, wenn Rosis Kamera in den Bauch eines Schiffes blickt, das für die dort eingeschlossenen Flüchtlinge zur Todesfalle wurde. Da lauscht man in einer Szene den Klängen einer italienischen Schnulze, die ein Radiomoderator als Liebesgruß einer Hörerin für deren Mann spielt, und kurz danach einem improvisierten Lied, in dem einer der Flüchtlinge aus Eritrea oder dem Sudan drastisch den Leidensweg beschreibt, den er und seine Gefährten hinter sich haben. Und im Zuge dieses Clashs aus Alltag und Ausnahmesituation dämmert einem, wie ungeheuerlich es ist, dass das wirklich passiert: Jetzt, während wir im Kino sitzen, findet vor unserer Haustür eine humanitäre Katastrophe statt. Wegsehen geht nicht. Felicitas Kleiner
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Die Preisträger Gianfranco Rosi,
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Danis Tanovic …
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und Lav Diaz.
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»Fuocoammare«
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»Ta'ang«
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»Tales of Two Who Dreamt«
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Kritiken neue Filme
Son of Saul
Herbst 1944. Der ungarische Jude Saul Ausländer ist Teil des Sonderkommandos im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, einer Spezialeinheit von Häftlingen, die von den Nazis gezwungen werden, die Massenmorde in den Gaskammern durchzuführen und sich anschließend um die Entsorgung der Leichen zu bekümmern. Für diese Tätigkeit wurden die Mitglieder des Sonderkommandos mit einer vergleichsweise guten Versorgung und einem erfahrungsgemäß etwa viermonatigen Aufschub der eigenen Vernichtung »belohnt«. Am 8. Oktober 1944 kam es zu einem Aufstand des Sonderkommandos, bei dem zumindest ein Krematorium zerstört wurde. Keiner der ungefähr 450 Beteiligten hat den Aufstand überlebt. Davon erzählt »Son of Saul«. Auch, gewissermaßen am Rande. Der Film von László Nemes, der als Assistent von Béla Tarr an »Der Mann aus London« mitwirkte, erzählt auch die Geschichte von Saul Ausländer, der Zeuge wird, wie ein Junge die Gaskammer überlebt, von einem deutschen Arzt eigenhän-
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dig getötet und zur Obduktion geschickt wird. Saul ist von dem Gedanken besessen, diesem Jungen ein rituelles Begräbnis zu verschaffen und beginnt unter den Häftlingen nach einem Rabbi zu suchen, der das Kaddisch beten kann. Das ist die narrative Grundkonstruktion eines filmischen Experiments, das auf der Höhe der aktuellen Diskussion um ethische Fragen der Darstellung der Shoah sich daran abarbeitet, einer mythischen Konzeption von Vergangenheit durch eine »konventionelle« Helden- oder Survival-Geschichte zu entgehen. Die überlieferten Zeugnisse von Mitgliedern des Sonderkommandos böten, so Nemes, Material über die »normalen« industriellen Abläufen eines Vernichtungslagers zwischen der Ankunft der Züge und dem Verstreuen der Asche in der Weichsel. Das Ungeheuerliche dieses Ansatzes sollte unter Verzicht auf jede Form des Melodramatischen durch eine möglichst einfache Geschichte und durch äußerste formale Konsequenz gelingen. So die Absicht, bei der die Idee
der Bestattung des Leichnams des Jungen als eine Art MacGuffin fungiert, um die Figur Saul Ausländer kreuz und quer durchs Lager zu schicken, vorbei an den Gaskammern und Krematorien, den Massenerschießungen im Wald oder am Flußufer der Weichsel. Weil die Kamera sich extrem nah an den Protagonisten hält, dem das Überleben in dieser anarchischen, menschenverachtenden Hölle zur Routine geworden ist, bleibt wenig Platz für spektakuläre, weil immer etwas unscharfe Blicke, aber reichlich Raum für eine meisterhaft komponierte Tonspur voller Geräusche, Gesprächsfetzen und Befehle. Eine sonische Tortur! Durch den störrischen Eigensinn, mit dem Saul Ausländer, glänzend stoisch gespielt von Géza Röhrig, seinen Plan verfolgt, gefährdet er mehr als einmal die parallel sich entwickelnden Pläne des Aufstands. Er scheint bereit, viele Leben für einen Toten zu opfern, wobei das Setting des Vernichtungslagers, in dem die Mitglieder der Sonderkommandos gleichzeitig Täter und Opfer, Zeugen und Todgeweihte sind,
beiden Plänen unter den Bedingungen »absoluter Macht« (Wolfgang Sofsky) genuine Züge des Absurden verleiht. Es mag seltsam klingen, aber durch die singuläre Tat Ausländers wie auch durch den Aufstand im Vernichtungslager gelten die Gedanken des Zuschauers weniger dem Zivilisationsbruch als vielmehr den Strategien der Häftlinge, inmitten der Hölle etwas Sinnvolles zu tun (einen Jungen anständig begraben, ein Foto aus dem Lager schmuggeln, einen Aufstand wagen) und gerade dadurch Humanität zu bezeugen. Wie Georges Didi-Huberman in seiner Studie »Bilder trotz allem«, als dessen Verfilmung man »Son of Saul« durchaus bezeichnen könnte, formuliert: »Diesem allen ein Bild entreißen? Trotz allem? Ja. Es galt, diesem Unvorstellbaren um jeden Preis eine Form zu geben. Die Aussichten, zu fliehen oder sich aufzulehnen, waren in Auschwitz so gering, dass das einfache Aussenden eines Bildes oder einer Information – eines Plans, einiger Ziffern oder Namen – zur größ-
Fotos S. 38-53: Jewelige Filmverleihe
Für den »Oscar« nominiert: Horrortrip ins Grauen von Auschwitz
neue Filme Kritiken ten Dringlichkeit wurde, eine der letzten Gesten der Humanität.« Indem Nemes’ Film einen Gedanken von Primo Levi aufgreift, demzufolge die Arbeit des Sonderkommandos nur zu leisten war, in dem man sie als Arbeit begriff, wäre zu diskutieren, inwieweit die Simplizität der Erzählung von »Son of Saul« aus Komplizen – zum Einsatz in Sonderkommandos meldete man sich – Handlanger macht. Das ist gewissermaßen die Kehrseite der hektischen Aktivitäten vor der Kamera, dass die atemlose Konzentration auf den Moment sich nicht entscheiden muss, den Kontext in den Blick zu nehmen. Das Physische obsiegt das Psychologische. Ulrich Kriest Bewertung der Filmkommission
Im Herbst 1944 will ein ungarischer Jude, Mitglied eines Sonderkommandos, in Auschwitz-Birkenau unter allen Umständen einen toten Jungen rituell beerdigen, womit er die Vorbereitungen eines Aufstands gegen die SS-Wachmannschaften gefährdet. Der ebenso abgründige wie meisterhafte Debütfilm lotet unter Verzicht auf jede Melodramatik die industrielle Auslöschung des europäischen Judentums an der Grenze des Darstellbaren aus. Während man das Ungeheuerliche mehr ahnend erschließt als dass man es sieht, reißt einen die sorgfältig komponierte Tonspur in die Höllenglut der Vernichtungsmaschinerie. Der mit äußerster formaler Konsequenz inszenierte Film lässt in der Absurdität der Situation eine Behauptung des Humanen aufscheinen. – Sehenswert ab 16.
SAUL FIA. Ungarn 2015 Regie: Lászlo Nemes Darsteller: Géza Röhrig (Saul Ausländer), Levente Molnár (Ábrahám), Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsotér Länge: 107 Min. | Kinostart: 10.3.2016 Verleih: Sony | FD-Kritik: 43 729
No Land’s Song
Wie Sara Najafi in Teheran ein Konzert ertrotzte 19. September 2013, abends in Teheran. Sara Najafi, eine junge Frau mit Kopftuch, steht auf einer Konzertbühne: »Ein sehr wichtiger Grund für dieses Projekt ist, dass die weibliche Stimme in Teheran in Vergessenheit geraten ist. Wie möchten sie gerne zurückbringen.« »No Land’s Song« ist ein Film über die Entstehung eines Konzerts, das es eigentlich nicht geben dürfte. Ayat Najafi dokumentiert den Kampf seiner Schwester Sara um einen Auftritt mit weiblichen Stimmen, eine Hommage an die legendäre iranische Sängerin Quamar, die 1924 als erste Frau im Iran vor Publikum aufgetreten ist. Sara ist eine attraktive, selbstbewusste Sängerin, bei der selbst das obligatorische Kopftuch wie ein geschmackvoll ausgewähltes Accessoire wirkt. Sie kämpft dafür, ihre Talente auch im Iran nutzen zu können. Es war nie leicht für Sängerinnen im Iran, aber heute ist es ein Politikum. Seit der islamischen Revolution 1979 ist es für Frauen ausdrücklich verboten, in der Öffentlichkeit zu singen. Was die schiitischen Theologen gegen die weibliche Stimme haben, ist nie wirklich begründet worden. Sara Najafi allerdings will es wissen. Der Religionslehrer Abdolnabi Jafarian erklärt auf ihre Frage salbungsvoll, die weibliche Stimme könne das Gleichgewicht
des Mannes beeinträchtigen. Er habe nichts gegen Frauen, aber die Reize der Musik und der weiblichen Stimme zusammen könnten den Mann sexuell erregen. Ein Stück Käse sei gut, eine Traube auch, aber beides zusammen sei vielleicht zuviel. An der jungen Frau schaut er immer vorbei, als wäre sie nicht im Raum, auch als Sara fragt, was denn der Käse mit der Musik zu tun habe. Diese Szene ist bei aller Ernsthaftigkeit unfreiwillig komisch, ebenso wie die heimlich aufgenommenen Gespräche im Ministerium für Kultur. »Ich will ganz offen sein, das Regime hat ein fundamentales Problem mit der weiblichen Solo-Stimme«, hört man da, auch Ratschläge, wie die junge Frau die Zensur umgehen könne. »No Land’s Song« ist eine sehr direkte, mitunter gar sarkastische Bestandsaufnahme der Graustufen der Diktatur: die Religionslehrer, die Kulturbürokraten mit ihrem großen Verständnis und ihren schnellen Verboten. Sie zeigt eine Gesellschaft, die gelernt hat, mit absurden Verboten zu leben. Fast drei Jahre lang hat Najafi für ihr Projekt gekämpft, und auch der Film ist eine Reise durch die politischen Zäsuren der iranischen Gesellschaft der letzten Jahre: die Niederschlagung der grünen Bewegung im Iran 2007, das Echo des
Arabischen Frühlings 2011, die unerfüllten Hoffnungen, die sich an den Wahlsieg des Reformers Hassan Rohani bei den iranischen Präsidentschaftswahlen 2013 knüpften. »No Land’s Song« ist aber auch die Geschichte eines kulturellen Brückenschlags: Sara nimmt Kontakt zu französischen Musikern auf und integriert zudem die tunesische Sängerin Emel Mathlouthi, die Stimme der tunesischen Revolution, in ihr Projekt. Zwischen ihren Begegnungen über Skype, dann in Paris und schließlich in Teheran, stehen die Künstler stets unter einer andauernden Spannung zwischen Euphorie und bitterer Enttäuschung. Ayat Najafi ist mit seiner Kamera immer dabei, unauffällig, aber mittendrin. »No Land’s Song« ist ein lebendiger, vielschichtiger Dokumentarfilm, niemals belehrend, aber sehr lehrreich. Ein Film, der viel erzählt über die iranische Gesellschaft, über die Stadt Teheran und, vor allem, über ein mitreißendes Engagement für die Freiheit der Musik. Wolfgang Hamdorf Bewertung der Filmkommission
Seit der Islamischen Revolution 1979 ist es Frauen im Iran verboten, öffentlich zu singen, womit sich die Liedermacherin Sara Najafi nicht abfinden will: Zu Ehren der legendären iranischen Sängerin Quamar stellt sie ein Konzert auf die Beine. Der dramaturgisch spannende, lebendige und vielschichtige Dokumentarfilm zeichnet ein sehr direktes, mitunter sarkastisches Bild des Lebens unter der MullahDiktatur. Zugleich erzählt er viel über die iranische Gesellschaft und die Rolle der Musik als Sphäre der Freiheit. – Sehenswert ab 14.
NO LAND’S SONG. Iran/Frankreich 2014 Regie: Ayat Najafi Länge: 91 Min. | Kinostart: 10.3.2016 Verleih: Basis-Film | FD-Kritik: 43 730
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kritiken Auf DVD/BLu-Ray
Der Debütfilm des thailändischen Meisters Apichatpong Weerasethakul erscheint aufwändig restauriert in der Edition Filmmuseum Von »Joe«, wie der thailändische Filmregisseur Apichatpong Weerasethakul von seinen Verehrern genannt wird, ist man seit »Blissfully Yours« (2002) und »Tropical Malady« (2004) einiges gewohnt. Mal taucht der Vorspann erst nach einem Drittel des Films auf, mal bleibt die Leinwand mitten im Film eine kleine Ewigkeit schwarz und startet dann mit einer zweiten, komplett anderen Geschichte, mal verwickeln wie in »Cemetery of Splendour« (2015) zwei leibhaftige Göttinnen den Protagonisten in ein Gespräch, ohne dass man an den stilistischen oder narrativen Sprüngen Anstoß nehmen würde. Ganz im Gegenteil: Brüche, »Fehler«, rätselhafte Wendungen und surreale Perspektiven definieren das Werk des 1970 geborenen »auteur«. Dies unterstreicht eindrucksvoll auch sein Langfilmdebüt »Mysterious Object at Noon« (2000), das vom Österreichischen Filmmuseum Wien aufwändig restauriert wurde und nun in einer vorbildlichen DVD-Edition zugänglich gemacht wird. Eine gewisse Kenntnis von »Joes« eigenwilligem Filmschaffen ist als Vorgriff auf dieses kleine, in grobkörnigem Schwarz-Weiß funkelnde Juwel nützlich: Es exponiert die weerasethakulsche Ästhetik geradezu pur und in nuce
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verdichtet – in Gestalt eines magischmäandernden Road Movie, das am Leitfaden eine vielfach variierten Binnenerzählung quer durchs ländliche Thailand führt. Nach einer Weile kristallisiert sich als eine Art Nukleus die (fiktive) Geschichte um die Lehrerin Dogfahr heraus, die ein behindertes Kind unterrichtet, die dann von Szene zu Szene an andere Menschen weitergereicht und weiterfabuliert wird. Während der dreijährigen Produktionszeit forderte Weerasethakul unterschiedlichste Personen auf, sich Dogfahrs Schicksal auszumalen, wobei sich die Erzähler teilweise auf die Ausgangsgeschichte, teilweise aber auch auf den bis dahin erreichten Stand der Ausschmückungen bezogen. Das daraus entstehende narrative Gespinst fließt mal in diese, mal in jene Richtung bis in Fantasy-Bereiche, wird durch Nachrichtensendungen, historische Einsprengsel aus der Zeit des Pazifikkriegs oder filmsprachliche Eigenwilligkeiten wie Bild-Ton-Verzerrungen, »unlogische« Anschlüsse oder loopartige Strukturen aber immer wieder so justiert, dass der sanfte Erzählfluss an anderer Stelle überraschend weitergeht. Wie virtuos die Inszenierung dabei mit ihren Mitteln umzugehen weiß, enthüllt
Josef Lederle
Hinweis: Die DVD enthält zusätzlich drei mittellange Filme von Weerasethakul (»thirdworld«, 1997, »Worldly Desire«, 2005, »Monsoon«, 2011) sowie im DVD-ROM-Bereich das zwischenzeitlich vergriffene, englischsprachige Buch »Apichatpong Weerasethakul«, hrsg. von James Quandt (Filmmuseum/ Synema, Wien 2009, 256 S., 245 Abb.), mit Beiträgen u.a. von Alexander Horwarth, Karen Newman und Tilda Swinton. DOKFA NAI MEUMAN. Schwarz-weiß. Thailand 2000 Regie: Apichatpong Weerasethakul Länge: 85 Min. Anbieter: Edition Filmmuseum FD-Kritik: 43 752
Fotos: Jeweilige Anbieter
Mysterious Object at Noon
bereits die zehnminütige Eingangs sequenz, die mit einer langen, unge schnittenen Kamerafahrt durch die Straßen von Bangkok, Tonausschnitten aus einer Soap Opera und vielen RadioWerbejingles anhebt, um schließlich bei einer Fischverkäuferin und ihren traumatischen Lebenserinnerungen zu landen, die dann den Bogen zu Dogfahr und deren Erlebnissen schlagen. Man kann dieses »schillernde Dingsbums« (James Quandt) von Film als spielerischen Dokumentarfilm oder als dokumentarischen Spielfilm etikettieren, auf die Verbindungen von thailändischer Pop- und US-amerikanischer Experimentalfilmkultur abheben, das Spiel mit den Genres (von Märchen und Musical bis zu Horror und Science Fiction) auffächern oder der enormen Bandbreite von Tonlagen (abwechselnd traurig, ausgelassen, scherzhaft oder rau) nachspüren, ohne auch nur eine halbwegs brauchbare Anschauung davon zu gewinnen, wie sich die widerstrebende Fülle der Erzählfäden und ihrer Diskurse annähernd auf den Begriff bringen ließen. Der Hinweis auf die Einflüsse von Michael Snow ist so zutreffend wie der auf Brecht und seine Verfremdungstheorie, doch am Ende streckt man die terminologischen Waffen vor einem wundervollen Hybriden, der seinem Titel eines »Mysterious Object« alle Ehre macht. – Sehenswert ab 16.
Kritiken fernseh-Tipps SAMSTAG 05. märz
14.15 – 16.00 WDR Fernsehen Dialog mit meinem Gärtner R: Jean Becker Stimmungsvolles Freundschaftsporträt Frankreich 2007 Sehenswert ab 14
00.35 – 02.15 Servus TV Pesthauch des Dschungels R: Luis Buñuel Zufallsgruppe flieht durch Urwald Mexiko/Frankreich 1956 Ab 16
20.15 – 21.40 BR FERNSEHEN Die Herbstzeitlosen R: Bettina Oberli Lebensbejahende Dorfkomödie Schweiz 2006 Ab 12
00.40 – 02.35 BR FERNSEHEN Tage und Wolken R: Silvio Soldini Manager verliert Job und Orientierung Italien/Schweiz 2007 Ab 14
20.15 – 22.25 Servus TV Der einzige Zeuge R: Peter Weir Polizist taucht bei den Amish-People unter USA 1985 Sehenswert ab 16
01.15 – 02.40 rbb Fernsehen Ein fürsorglicher Sohn R: Werner Herzog Anspielungsreiche Ödipus-Paraphrase USA 2009 Sehenswert ab 16
22.25 – 00.35 Servus TV Brighton Rock R: Rowan Joffe Fesselnde Graham-Greene-Adaption Großbritannien 2010 Ab 16
01.45 – 03.33 Das Erste Bobby R: Emilio Estevez Der letzte Tag von Robert F. Kennedy USA 2006 Ab 16
22.50 – 00.25 arte It Might Get Loud R: Davis Guggenheim Musiker und ihr Verhältnis zur E-Gitarre USA 2008 Ab 14 23.20 – 01.15 rbb Fernsehen Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen R: Werner Herzog Drogenabhängiger Polizist ermittelt in New Orleans USA 2009 Sehenswert ab 16
02.30 – 04.10 ZDF Dracula R: John Badham Märchenhaft opernnahe Adaption des Gruselstoffes USA 1978 Ab 16
5. März, 00.40 – 02.35
03.10 – 05.00 3sat Eine Farm in Montana R: Alan J. Pakula Junge Frau verteidigt Farm gegen Viehbaron und Ölgesellschaft USA 1978 Sehenswert ab 16
BR FERNSEHEN
Tage und Wolken Der Verkauf der kleinen Segeljacht ist nur der Anfang im Niedergang eines gutbürgerlichen Paares aus Genua (Margherita Buy, Antonio Albanese), das über dem Verlust des Arbeitsplatzes die soziale Leiter nach unten rutscht. In Silvio Soldinis präzise beobachtetem Drama stehen allerdings nicht die spektakulären Momente im Vordergrund, vielmehr der Alltag und die zermürbenden Anstrengungen, sich in der Mitte des Lebens erheblich einschränken zu müssen. Wen wundert es, dass die Frau, eine promovierte Kunsthistorikerin, damit schneller zurechtkommt als ihr Mann, der mit Depressionen und zunehmender Verwahrlosung auf die Deklassierung reagiert. Der Einsatz der Handkamera verbürgt dabei ein hohes Maß an Authentizität und Unmittelbarkeit. Der Inszenierung gelingt es auch, neben der Ratlosigkeit und den Entbehrungen auch die ein oder andere Öffnung anzudeuten, die bei aller Malaise einen kleinen Hoffnungsschimmer begründet.
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Filmdienst 05 | 2016
»Ein fürsorglicher Sohn«
5. März, 23.20 – 02.40
rbb Fernsehen
Werner Herzog Ein sinniges Double-Feature präsentiert rbb Fernsehen mit Werner Herzogs Filmen »Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen« (23.20 – 01.15) und »Ein fürsorglicher Sohn« (»My Son, My Son, What Have Ye Done«, 01.15-02.40): Beide Filme liefen 2009 parallel beim Festival in Venedig, was vor Herzog bislang überhaupt nur einem anderen Filmemacher gelungen war. Das passt in seiner ironischen Singularität so sehr zu Herzog wie zu den eigenwillig-verqueren Spätwerken über die Absurdität, aber auch die Schönheit einer unberechenbaren Welt. Wo sich Harvey Keitel in Abel Ferraras Original (1992) als um Erlösung bettelnder Cop durch die Straßen von New York quälte, interessiert sich Herzog kein bisschen für das Innenleben des nun von Nicolas Cage gespielten Polizisten. Dafür gibt es Echsen und Fische als metaphorische Spiegelbilder, die in die Runde glotzen, bevor sie das Weite suchen. Getoppt wird solch exzentrischer Humor noch in der Bricolage über einen angeblichen Muttermörder (Michael Shannon), der in der Rolle des Orest Bühne und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Der subversive Thriller unter gleißender kalifornischer Sonne kombiniert furios die Albträume eines David Lynch mit den ekstatischen »Wahrheiten« des tollkühnen Grenzgängers Werner Herzog. 6. März, 14.05 – 15.30
rbb Fernsehen
Der Eisbärkönig Der Regisseur Ola Solum (1943 – 1996) war einer der großen Filmkünstler Norwegens. Vor allem mit seinem höchst spannenden, vielfach ausgezeichneten Abenteuerfilm »Orion’s Belt« (1985) nimmt er einen Ehrenplatz im Filmschaffen seines Heimatlandes ein. Drei Freunde entdecken einen Lauschposten der Sowjets und werden zum Spielball der Mächte, als die die norwegische Abwehr »übergeordnete Interessen« walten lässt – eine bittere Abrechnung um die Ohnmacht des Einzelnen im schmutzigen Geschäft der Spionage und Gegenspionage. 1991 drehte Solum den nicht minder fesselnden Kinderfilm »Der Eisbärkönig«. Darin erzählt er von der Prinzessin des Winterlandes, die sich in einen jungen König verliebt, den eine böse Hexe in einen Eisbären verwandelt hat. Die Adaption eines norwegischen Volksmärchens lebt von großartigen Landschaftsbildern, die verstehen lassen, warum der König des Winterlandes einmal meint: »Ohne Schnee kann man doch gar nicht leben!« Dabei verzichtet der Film trotz vielerlei Magie fast vollständig auf aufwändige Effekte; der aus Jim Hensons »Werkstatt« stammende Bär wirkt zunächst ein wenig unbeholfen, doch das verstärkt nur die Illusion, einen Menschen in Bärengestalt zu sehen. Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.
SA
fernseh-Tipps Kritiken
SO 6. März,15.05 – 17.00 ZDF
Ein Goldfisch an der Leine »Bandidas« mit Penélope Cruz und Salma Hayek
6. März, 07.50 – 03.30 3sat
»Wilde Western«-Thementag Was für ein Kraut-und-Rüben-Programm, möchte man auf den ersten Blick meinen: Ein ganzer »Thementag« zum Western umfasst zahlreiche Spielarten dieses eigentlich längst ausgestorbenen Genres, verweist auf verschiedene Filmepochen und Produktionszusammenhänge, zeigt trivial »Aufgewärmtes« ebenso wie pure Genreklassiker. Vielleicht kann man Meisterwerke von Anthony Mann (»Meuterei am Schlangenfluss«, 1951) und John Sturges (»Der letzte Zug von Gun Hill«, 1958) tatsächlich erst im (Zerr-)Spiegel von Freddy, Winnetou und Django wirklich genießen. 07.50 – 09.25 09.25 – 11.25 11.25 – 14.20 14.20 – 15.45 15.45 – 17.15 17.15 – 18.40 18.40 – 20.15 20.15 – 22.15 22.15 – 00.20 00.20 – 01.55 01.55 – 03.30
Freddy und das Lied der Prärie Buffalo Bill und die Indianer Winnetous Rückkehr (2 Teile) Bandidas American Outlaws Meuterei am Schlangenfluß Der letzte Zug nach Gun Hill Zwei rechnen ab Tombstone Südwest nach Sonora Gott vergibt – Django nie
Die Filme von Howard Hawks (1896 – 1977) sind zeitlose Klassiker. Komödien wie »Leoparden küsst man nicht«, »Liebling, ich werde jünger« oder »Blondinen bevorzugt« amüsieren bis heute. Auch seine Abenteuerfilme und Western glänzen mit perfekt austarierten Komik-Elementen; man denke nur an die bravourösen Auftritte von Walter Brennan in »Rio Bravo« oder Robert Mitchum in »El Dorado«. Hawks’ späte Komödie »Ein Goldfisch an der Leine« (1964) hat ebenfalls ihre Meriten: Rock Hudson als Erfolgsautor eines Angelsportbuchs gerät in heitere Verwicklungen, als er an einem Angelturnier nehmen soll, ohne den leisesten Schimmer einer praktischen Erfahrung zu haben. Hawks betreibt eine höchst entspannte, dabei ebenso elegante wie lustvoll-alberne Demaskierung vermeintlich männlicher Stärken, wobei es Rock Hudson gleich mit drei großartig »taffen« Hawks-Frauen zu tun bekommt: Charlene Holt, Maria Perschy und, allen voran, Paula Prentiss.
6. März, 20.15 – 00.25 arte
»Gremlins«-Abend Pläne für einen dritten »Gremlins«-Film geistern immer mal wieder durch Hollywood, wo sie gemischte Gefühle hervorrufen. Einerseits scheint die Aussicht auf ein Wiedersehen mit den fiesen Mini-Monstern mit den scharfen Krallen und dem hysterischen Dauerkichern verlockend, andererseits besteht kaum Hoffnung auf eine Beteiligung von Joe Dante an einem Sequel. Wer aber könnte die Klischees amerikanischer Familienunterhaltung ähnlich herrlich aufspießen und zugleich parodistisch überziehen, wie es Dante in seinen beiden »Gremlins«-Filmen von 1983 und 1989 tat? arte zeigt die beiden Horror komödien im Rahmen eines Themenabends, der »kleinen Monstern« gewidmet ist, und mit der Dokumentation »Jenny und ihre Flughunde« (23.40 – 00.25) über ein Flughund-Hospital abschließt. Die australischen Flughunde ähneln den bösartigen Gremlins und ihren knuddeligen Pendants, den Mogwais, sind aber sehr real und befinden sich in einer dramatischen Lage: Die Fledertiere sind von einer unerklärlichen Lähmungskrankheit bedroht.
sonntag 06. märz
12.40 – 14.40 ProSieben Auf die stürmische Art R: Bronwen Hughes Road Movie mit Sandra Bullock USA 1999 Ab 12 14.05 – 15.30 rbb Fernsehen Der Eisbärkönig R: Ola Solum Kindgerechte Märchenverfilmung Norwegen/Schweden. 1991 Ab 8 15.05 – 17.00 ZDF Ein Goldfisch an der Leine R: Howard Hawks Charmante Komödie um einen Sachbuchautor USA 1964 Ab 14 20.15 – 21.55 arte Gremlins – Kleine Monster R: Joe Dante Boshaft-hintersinnige Horrorfarce USA 1983 Ab 16 20.15 – 23.25 SIXX Die Farbe Lila R: Steven Spielberg Whoopi Goldberg kämpft gegen Diskriminierung USA 1986 Ab 14 21.55 – 23.40 arte Gremlins 2 R: Joe Dante Die Rückkehr der kleinen Monster USA 1989 Ab 16 23.00 – 00.20 rbb Fernsehen Kopfgeld – Perrier’s Bounty R: Ian FitzGibbon Schwarzhumoriger Gangsterfilm Großbritannien/Irland 2009 01.10 – 02.48 Das Erste Lost in Translation R: Sofia Coppola Leise Annäherung zweier Verlorener USA/Japan 2003 Sehenswert ab 16
Filmdienst 05 | 2016
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