Filmdienst 06 2014

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

KRIEG IM KINO

Auf dem Schlachtfeld: Was die Umbrüche im Kriegsfilm über unsere Welt erzählen

KINOKOMPETENZ Wie reagieren Jugendliche auf Filme? Was nehmen Heranwachsende im Kino wahr? Eine neue Studie gibt kompetent Auskunft.

WERDE CALIGARI! Frisch restauriert, lädt einer der berühmtesten deutschen Stummfilme zur Wiederentdeckung ein: „Das Cabinet des Dr. Caligari“.

„KREUZWEG“ Dietrich Brüggemanns Film bietet brisante „fundamentale“ Religionskritik, die herausfordert. Jetzt kommt der Film in die Kinos. Die Kritik in dieser Ausgabe. 06 4 194963 604507

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13. März 2014 € 4,50 67. Jahrgang

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Akteure

Kino 10

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Die verzerrten Frontstellungen in aktuellen Kriegen haben auch im neuen Kriegsfilm tiefgreifende Spuren hinterlassen. Das führt aktuell auch das amerikanische Drama „Lone Survivor“ vor Augen. Ein Essay über die Wandlungen im Kriegsfilm-Genre. Von Björn Hayer + Literaturtipp: „Hollywoods Kriege“ Von Rüdiger Suchsland

Der experimentierfreudige Schweizer Dokumentarfilmer erweist sich In zwei neu erschienenen Textbänden auch als philosophierender Essayist. Von Josef Lederle

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Das experimentelle Fernseh-Kammerspiel „Willow Springs“ und der ambitionierte Irrenhaus-Film „Tag der Idioten“ sind erstmals auf DVD erschienen. Von Ralph Eue

KRIEG UND KINO

alle Filme im tV vom 15.3. bis 28.3. Das extraheft 40 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV 80.000 Film-Kritike n u n t e r w w w. f i l m d ienst.de

PETER LIECHTI

JUGENDLICHE MEDIENKOMPETENZ Ist es gut, Filme wie „Die Tribute von Panem“ ab 12 freizugeben? Wie reagieren Jugendliche, wenn sie im Kino mit Gewalt, Drogen oder Sexualität konfrontiert werden? Eine Spurensuche entlang der neuen FSKStudie zu Medienkompetenz und Jugendschutz. Von Arndt Klingelhöfer

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WERNER SCHROETER

36 - TÖDLICHE RIVALEN 22.3. ZDF

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Ständige Beilage

FILM

DIE STADT DER BLINDEN 15.3. einsfestival

KINDERFILME

IM TV

DIE QUEEN 16.3. TELE 5

15.3.–28.3.2014

AM ENDE EINES VIEL ZU KURZEN TAGES 27.3. SRF 1

DER GESCHMACK VON SCHNEE - SNOW CAKE 23.3. 3sat

Ghost Dog - Der Weg des Samurai von Jim Jarmusch Blue Valentine mit Ryan Gosling und Michelle Williams Wie ein wilder Stier von Martin Scorsese

[18.3. 3SAT] [19.3. RBB FERNSEHEN]

Die Stadt der Blinden 15.3. einsfestival

[24.3. ARTE]

Anspruchsvolle Kinderfilme haben es schwer im Kino. Auf Festivals wie der „Berlinale“ lässt sich jedoch erleben, wie sich künstlerisch innovativ und zugleich kindgemäß erzählen lässt. Ein Blick auf herausragende Produktionen. Von Horst Peter Koll + Film- und DVD-Tipps + Regisseur Bernd Sahling erzählt über seine Erfahrungen mit „Kopfüber“

Die Queen 16.3. TELE 5

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IN MEMORIAM

36 - Tödliche Rivalen 22.3. ZDF

„Berlinale“-Trickfilm: „Tante Hilda” (Frankreich)

Als blondgelockter Kinder-Star entzückte Shirley Temple in den 1930er-Jahren das Publikum. DEFA-Regisseur Günter Reisch bereicherte das Kino um Komödien und Historienfilme. Zwei Nachrufe.

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Rückkehr des Bibelfilms, der in den Kalkulationen der Studios überraschenderweise wieder eine Rolle spielt.

Spider-Man, noah & co. Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Film-Kunst

Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

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300: Rise of an Empire [6.3.] Baal [20.3.] Die Bücherdiebin [13.3.] Cerro Torre [13.3.] Die Dinos sind los [20.3.] Eat, Sleep, Die [20.3.] Die Frau des Polizisten [20.3.] Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand [20.3.] 36 In Sarmatien [20.3.] 42 Journey to Jah [20.3.]

Deutsche Dokumentarfilme überschreiten grenzen: „in Sarmatien“ spürt transnationalen Verbindungen in osteuropa nach, „transmitting“ begibt sich mit dem JazzMusikers Joachim Kühn nach afrika, „Die Moskauer Prozesse“ rekonstruieren die juristische willkür in Putins russland.

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s. IN SARMATIEN

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Fotos: TITEL: Majestic. S. 4/5: Berlinale/FD-Archiv/Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung/Camino/Edition Salzgeber/Real Fiction.

DAS CABINET DES DR. CALIGARI Der expressionistische Stummfilmklassiker aus dem Jahr 1919 lässt auch in seiner neu restaurierten Fassung Raum für Legenden. Eine Annäherung an die vielen Gesichter im Film. Von OIaf Brill + Die musikalische Neuerweckung des „Caligari“-Films auf der diesjährigen „Berlinale“ Von Jörg Gerle

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MAGISCHE MOMENTE Pier Paolo Pasolini überhöhte mit seinem Debütfilm „Accattone“ das Leben eines Kleinganoven zur provokantesten Passionsgeschichte des Kinos. Von Rainer Gansera

Kinotipp der katholischen Filmkritik

37 Kreuzweg [20.3.] Drama von Dietrich Brüggemann

47 Liebesbriefe eines Unbekannten [13.3.] 39 Lone Survivor [20.3.] 46 Man of Tai Chi [13.3.] 42 Mittsommernachtstango [13.3.] 44 Die Moskauer Prozesse [20.3.] 42 My Dog Killer [20.3.] 40 Non-Stop [13.3.] 45 Pettersson & Findus [13.3.] 46 Recep Ivedik 4 [20.2.] 46 Die schöne Krista [20.3.] 38 Shanghai Shimen Road [13.3.] 43 Transmitting [13.3.] 42 Vampire Academy [13.3.] 42 Wer ist Thomas Müller? [20.3.]

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s. TRANSMITTING

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s. DIE MOSKAUER PROZESSE

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood DVD-Perlen Vorschau Impressum

Kritiken und Anregungen?

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Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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Gefährdet durch Katniss Everdeen? Was Filme wirklich erzählen: Eine erhellende Studie erforscht die Wahrnehmung von Jugendlichen im Kino

Kinofilme wie die der Serie „Die tribute von Panem“ sind bei jungen Kinogängern höchst erfolgreich – und bereiten eltern oft Kopfzerbrechen: ist ein so spannender Stoff, der von Todesangst und dem Sterben von Kindern erzählt, tatsächlich schon „ab 12 Jahren“ verkraftbar, wie die FSK urteilt? Das Projekt „Medienkompetenz und Jugendschutz“ erforscht, wie Jugendliche zwischen zwölf und 15 auf Filme reagieren, und will Aufschluss darüber geben, was Heranwachsende im Kino wahrnehmen. Dies schließt vor allem auch die Notwendigkeit ein, unvoreingenommen hinzusehen, was die Filme wirklich erzählen, welche Bilder und welche Emotionen sie anbieten. Von Arndt Klingelhöfer

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Jugend & Film Im Wiesbadener „Murnau-Kino“ sitzen zwei Dutzend zwölf- bis 14-jährige Schüler. Noch wissen sie nicht, was auf sie zukommen wird. Angekündigt ist der Film „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“, der erste Teil der Fantasy-Saga nach der populären Jugendroman-Trilogie von Suzanne Collins, in der Kinder und Jugendliche zur Unterhaltung einer privilegierten Oberschicht in tödliche Gladiatorenkämpfe gezwungen werden. Die Schulklasse nimmt an einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Medienkompetenz und Jugendschutz IV“ teil, das die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) mit mehr als 500 Heranwachsenden zwischen

zwölf und 15 Jahren durchgeführt hat. Es soll dabei helfen, sich im direkten Austausch ein fundiertes Bild über die Rezeption von Kindern und Jugendlichen zu machen, über deren Medienkompetenz so viele unterschiedliche Urteile kursieren. Als der erste Teil von „Die Tribute von Panem“ vor zwei Jahren in die Kinos kam, entschied sich die FSK für die Altersfreigabe „ab 12 Jahren“. Worüber sowohl Zuschriften an die FSK als auch diverse seriöse Medien Empörung bekundeten. Angesichts der damals vehementen Kritik müsste einem um die Schüler Angst und Bange werden: Schlagwörter wie „Kinder-Gemetzel“, „Panem sucht den Splatterstar“ und „Ego-Shooter-Optik“ ließen Schlimmstes befürchten, auch wenn auf der anderen Seite wohlwollendere Kritiken den Altruismus der weiblichen Heldin oder die kritischen Anspielungen des Films auf aktuelle Medientrends hervorhoben. Die Debatte um „Die Tribute von Panem“ schließt damit an eine Tendenz an, die sich bereits seit einigen Jahren abzeichnet. Denn die Altersstufe „ab 12 Jahren“ hat sich inzwischen zur lukrativsten Zielgruppe des MainstreamKinos entwickelt, was sich in einem

gestiegenen Anteil entsprechend „freigegebener“ Filme niederschlägt, die vor 20 Jahren von der FSK vermutlich höher eingestuft worden wären. Parallel dazu rückte die Spruchpraxis der FSK in den Fokus des öffentlichen Unverständnisses, wie es in den Filmtests der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in den Jahren 2010 und 2011 einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte.

Körper, Geschlecht, soziale Identität Wie schon im Vorfeld der Veranstaltung füllen die Kinder im „Murnau-Kino“ nach der Filmsichtung einen Fragebogen aus, aus dem sich Rückschlüsse auf ihre Einstellungen, ihren Gemütszustand und ihre Haltungen zum Film ziehen lassen. Der Schwerpunkt des vierten „Medienkompetenz und Jugendschutz“-Studie liegt dabei auf den Themen „Körper, Geschlecht und soziale Identität“ – auf Dingen also, die nicht nur die gängigen Jugendschutz-Motive wie Gewalt, Drogen oder Sexualität erfassen, sondern darüber hinaus das sich verändernde Selbstbild in der labilen Pubertätsphase einbeziehen. Wie zu erwarten, verfehlt „Die Tribute von Panem“ nicht seine Wirkung. Die meisten Kinder sind aufgeregt und beeindruckt. Was sie gesehen haben, beschäftigt sie, und das noch mehr als die anderen Filme des Projekts „Kriegerin“, „Dirty Girl“ und „Chronicle – Wozu bist du fähig?“. Im Gespräch über den Film gilt das Hauptinteresse nicht den Gewaltszenen oder dem erzwungenen Prinzip des „Jeder gegen Jeden“, sondern den emotionalen Schlüsselmomenten, in denen sich das Drama der Figuren im positiven oder negativen Sinne zuspitzt – etwa dem Moment, in dem die anfänglich 16-jährige Heldin Katniss Everdeen eher ungewollt einen Aufstand entfacht – einfach dadurch, dass sie Mitgefühl zeigt und ein getötetes Mädchen voller Trauer unter Blumen begräbt. „Ich finde, man könnte sich auch zusammentun, um diese Situ-

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ation zu verhindern“, sagt ein 13-jähriger Junge, und ist mit seiner Anteilnahme nicht allein. Die „12er“-Freigabe für „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ bekommt bei den Kindern eine viel deutlichere Mehrheit als unter den FSK-Prüfern. Überhaupt offenbaren die Kinder einen Drang, der sich durch die ganze Projektreihe zieht: ein deutliches Bedürfnis nach Gehör, bei Hauptschülern wie bei Gymnasiasten. Zu den Gruppen- und Einzelinterviews melden sich fast immer mehr als nötig, und auch Kinder, die in der Schule zu den Stilleren gehören, zeigen hier weniger Scheu. In der Essenspause tauschen sich die Schüler über die besten und schlechtesten Szenen aus, und manche kündigen sogar lautstark an, was sie im anschließenden Filmgespräch auf jeden Fall sagen würden. Ich kann mich an ein Schulprojekt in den 1980er-Jahren in den Bavaria Filmstudios erinnern, bei dem sich nur die Klassenbesten trauten, vor laufender Kamera den Mund aufzumachen. Der auffällig souveräne Umgang der gegenwärtigen Kinder mit dem Gefilmt-undBefragt-Werden durch fremde Erwachsene legt das Schlagwort der „Digital Natives“ nahe; doch wie sich herausstellt, spielt sich auch bei dieser Generation das Wesentliche im analogen Leben ab: Klassische Werte wie Familie, stabile Verhältnisse und Respekt vor Autoritäten stehen bei den Kindern der „Anything goes“-Generation höher im Kurs als Machtfantasien oder Revolte. Dementsprechend reiben sich die Kinder im Lauf der Filmveranstaltungen besonders an Eltern-Kind-Konflikten, beispielsweise an einer Szene in „Chronicle“, in der der mit Superkräften ausgestattete jugendliche Protagonist seinen Vater zurückschlägt.

Weniger Angst, weniger Aggression Verblüffend ist die Deutlichkeit, mit der sich die Einstellungen unter dem Eindruck von „Die Tribute von Panem“ verändert haben: Die Kinder haben nach

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der Sichtung des Films weniger Vorurteile als zuvor, Jungen sind offener für flexible Geschlechterrollen, und auch starre Zugehörigkeiten zu einer Nationalität, einer Religion oder einem Geschlecht haben an Wert verloren. Gestiegen ist dagegen das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Nach der Auswertung der Fragebögen lassen sich diese Wirkungen mal mehr, mal weniger

ausgeprägt auf alle vier Filme übertragen – lauter Beispiele für Werke, die von den FSK-Gremien lange und kontrovers zwischen 12 und 16 Jahren diskutiert wurden. Und das „Kinder-Gemetzel“? Sowohl die Angst als auch das Aggressionslevel der Kinder ist nach „Die Tribute von Panem“ zurückgegangen, ebenso nach „Kriegerin“ und „Chronicle“, in denen

Das Projekt „Medienkompetenz und Jugendschutz IV – Körper, Geschlecht, soziale Identität“ ist die bislang umfangreichste Studie der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) zum Thema. Sie wurde 2012/13 in Kooperation mit dem Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz im „Murnau-Kino“ Wiesbaden sowie in den Räumlichkeiten der FSK durchgeführt. Mit mehr als 500 Schülern zwischen 12 und 15 Jahren aus unterschiedlichen Schultypen ist es auch international das bislang umfangreichste Forschungsprojekt dieser Art. Vorgeführt wurden die Filme „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ (USA 2012), „Kriegerin“ (Deutschland 2011), „Dirty Girl“ (USA 2010) und „Chronicle – Wozu bist du fähig?“ (USA 2012). An den bislang vier Projekten haben rund 1.700 Mädchen und Jungen zwischen drei und 17 Jahren teilgenommen. Die Studie kann bei der FSK kostenlos bezogen werden.

Fotos: StudioCanal/Fox/Ascot Elite/Senator.

info

ob Figuren wie die Protagonisten in „chronicle“ als Vorbild taugen, wägen jugendliche Zuschauer durchaus kritisch ab, indem sie deren Verhalten mit den eigenen werten abgleichen.

Gewalt eine ähnlich tragende Rolle spielt. Die Filme liefern dafür aber eine wichtige Voraussetzung: Sie zeigen Gewalt weder als taugliche Problemlösung noch selbstzweckhaft als blutrünstiges Spektakel, sondern als abstoßend und mit verheerenden Folgen für die jungen Protagonisten. „Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass Kinofilme nicht nur auf Einstellungen wie Aggression und Angst wirken; sie verändern vielmehr auch die Sicht der Jugendlichen auf sich selbst“, sagt Jürgen Grimm, Professor an der Universität Wien, der das Projekt medienwissenschaftlich ausgewertet hat. Damit ist es amtlich: Unter dem Eindruck von Filmen kann sich das Denken und Fühlen von Kindern verändern, inklusive ihres Selbstbildes. Dass sie sich im Pubertätsalter neu orientieren müssen, heißt aber nicht, dass ihr Gemüt damit wie ein Scheunentor offen steht für Fehlinterpretationen oder für

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Mehr Informationen: www.fsk.de

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Jugend & Film das unreflektierte Übernehmen von Rollen und Verhaltensmustern. Im Gespräch gleichen die Kinder das Agieren der Filmhelden mit ihren eigenen Wertvorstellungen ab, bewerten einzelne Szenen in ihrer Bedeutung für die Figuren – und fühlen sich fast beleidigt, wenn man unterstellt, sie könnten Filmstoffe nicht vom realen Leben unterscheiden.

Sich ein eigenes Bild machen Wie komplex das Verhältnis zwischen Botschaften, Vorbildern und tatsächlicher Wirkung sein kann, wird nach der Sichtung von „Dirty Girl“ deutlich: In diesem tragikomischen Road Movie freundet sich ein sexuell freizügiges Mädchen mit einem schüchternen, dicken Homosexuellen an. Das Plädoyer für Außenseiter und Toleranz wurde von den Kindern nur selektiv angenommen: Sie hatten danach weniger Probleme

mit Dicken, aber gegenüber Homosexuellen waren sie kritischer eingestellt als vor dem Film. Nun wäre es absurd, daraus Rückschlüsse auf die FSK-Praxis zu ziehen und den Film höher zu bewerten, weil seine pädagogischen Ambitionen sich ins Gegenteil verkehren könnten. „Generell müssen wir uns davon verabschieden, die Identitätsbildung auf Vorbildeffekte zu reduzieren“, meint Grimm. Die Reaktionen der Kinder liefern aber Indizien dafür, wie wichtig es für sie ist, sich auf eigene Faust gegenüber Filmstoffen positionieren zu können, gerade auch, wenn es für die Figuren so richtig ernst und kritisch wird. Hier finden sie sich wieder und können sich mit Sinn- und Entscheidungsfragen beschäftigen, mit denen sie sich auch selbst oft herumschlagen müssen. Der Erfolg der „Die Tribute von Panem“Reihe mag auch darin begründet sein, dass hier eine moralische Identifikati-

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onsfigur, intensive Emotionen, aber auch Spielräume für eigenständiges Reflektieren angeboten werden. Den Film als skandalösen Tabubruch zwischen „Kinder-Splatter“ und „Survival of the Fittest“ zu sehen, wird weder dem Film gerecht noch der Rezeptionsweise der Kinder und Jugendlichen – es resultiert allenfalls aus einem voreiligen Bedürfnis nach Empörung. Die nach der Vorführung jeweils veränderten Sichtweisen der Kinder zeigen deutlich, worauf es ihnen im Kino ankommt, und bestätigen die Berechtigung eines verantwortlichen Jugendschutzes. Dieser schließt die Notwendigkeit für medienkompetente Erwachsene ein, unvoreingenommen und ohne Ego-Shooter und PISA-Studie im Hinterkopf hinzusehen, was Filme denn eigentlich erzählen, welche Bilder und welche Emotionen sie anbieten – und zwar nicht über ihr Thema oder ihr Setting, sondern über ihre Figuren und deren Geschichten.

DIE FILME

Die Tribute von Panem – The Hunger Games USA 2012. Regie: Gary Ross. 142 Min. Ein Zukunftsszenario: Der amerikanische Kontinent ist in zwölf Distrikte unterteilt, die jährlich zwei Jugendliche in die Hauptstadt senden müssen, wo sie in einer Art Gladiatorenwettbewerb auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen. Die 16-jährige Katniss (Jennifer Lawrence) ist eine der 24 Todgeweihten. Sie will nicht nur am Leben bleiben, sondern auch ihre Integrität wahren. Wie macht man das, wenn es ums Überleben geht? Überdies fühlt sie sich zu dem Jungen aus ihrem Distrikt hingezogen.

Kriegerin

Dirty Girl

Dt. 2011. Regie: David Wnendt. 106 Min. Marisa (Alina Levshin) aus MecklenburgVorpommern schlägt und tritt sich als NeoNazi durch ihr tristes Dasein. Bis ein junger Flüchtling aus Afghanistan in ihrem Blickfeld auftaucht, der ihr ödes Weltbild durcheinander bringt. Ihr Lover Sandro darf davon aber nichts merken, und auch nicht Svenja, die aus der Enge ihrer bürgerlichen Welt flieht und lieber mit den Glatzen saufen und pöbeln geht. Das stellt die drahtige „Kriegerin“ vor ganz neue Herausforderungen, auf die sie nicht sofort eine Antwort weiß.

USA 2010. Regie: Abe Sylvia. 86 Min. Danielle (Juno Temple) ist als „Schulschlampe“ verschrien. Sie eckt an, provoziert mit vulgären Sprüchen und aufreizenden Klamotten, bis sie in eine Förderklasse abgeschoben wird, wo ihr Clarke (Jeremy Dozier) als Partner zugewiesen wird, ein schüchterner Junge, der für Mädchen nichts übrig hat. Doch die beiden Außenseiter freunden sich an und hauen ab. Quer durch die USA, von Oklahoma bis nach Kalifornien. Er flieht vor seinem Vater, sie sucht ihren Vater. Doch man trägt seine Familie mit sich, ob man will oder nicht.

Chronicle – Wozu bist du fähig USA/UK 2011. Regie: Josh Trank. 84 Min. Davon träumt jedes Kind: einen vergrabenen Schatz zu finden, der überdies magische Kräfte verleiht, mit denen man Gegenstände aus der Ferne bewegen kann. Für Andrew, Steve und Matt ist das die Gelegenheit, es all ihren Peinigern einmal so richtig heimzuzahlen. Allerdings kann Andrew dann gar nicht mehr damit aufhören. Er lehnt sich gegen seinen Vater auf und findet immer mehr Gefallen an seinen Allmachtsfantasien. Bis er sich ins Verderben stürzt.

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Die Frau des Polizisten

Klopfgeräusche aus dem Innenleben einer gestörten Kleinfamilie

„Oh, helft mir doch in meiner Not, den ein paar Platten gehoben, um sonst ist der bitt‘re Frost mein Clara ein taktiles Verhältnis zur Tod!“, singt die kleine Clara direkt Natur zu ermöglichen. Dass es in in die Kamera. Das könnte in kondem Film (auch) um häusliche ventionellen Filmen durchaus Gewalt geht, und wie sie entsteht, etwas bedeuten: Zum Beispiel den wird erst allmählich und dann sehr Horizont der Figur beschreiben überraschend deutlich, als Uwe oder die Handlung kommentieren. „ausrastet“, nachdem seine Frau In Philip Grönings „Die Frau des ohne Gruß den gemeinsamen Polizisten“ jedoch singt das MädAbend vor dem Fernseher beendet chen nur, hochkonzentriert und in hat. Man glaubt Uwe sogar, dass er ihrer kindlichen Anstrengung sie danach „überall gesucht“ habe. bezaubernd. Es wird viel gesunGröning verfolgt keine lineare gen in diesem Film, gemeinsam, Chronologie der Ereignisse im Stil auch als Ausdruck der Nähe und eines konventionellen ProblemWärme. Doch worum es in „Die films, sondern er wählt sehr Frau des Polizisten“ geht, lässt bewusst eine strenge Form, die es sich gar nicht so leicht beschreidem Zuschauer ermöglicht, sich ben. Gewiss, da ist der junge Polivom Erzählfluss distanzierend zu zist Uwe, der irgendwann seine befreien. Die Gewalt ist während Frau Christine zu schlagen beginnt. des ganzen Films präsent, weil sie Vielleicht, weil sein Beruf als Streisich auf dem malträtierten Körper fenpolizist so frustrierend ist, vielder Frau wortwörtlich abzeichnet. leicht aber auch, weil es ihn stört, Aber der Film selbst geht andere dass sich das Kind nachdrücklich Wege, sammelt in 59 Kapiteln und zwischen ihn und seine Frau 179 Minuten Spieldauer Impressigeschoben hat. Gemeinsam spieonen aus dem Alltag der Familie, len die drei zunächst intakte Kleindie noch ganz andere Geschichten familie, nicht gerade wohlhabend, erzählen als „nur“ die der Gewalt. aber glücklich. An Ostern versteckt So versucht die Mutter, trotz allem man fürs Kind Süßigkeiten im das Kind zu schützen, indem sie Wald, im schmalen Hinterhof werihm einen geschützten Raum

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eröffnet, wo Intimität und Zärtlichkeit Vertrauen schafft. Der Vater hingegen wird nach und nach in seiner Überforderung gezeigt, die sich in der Gewalt entlädt. Es ist auch nicht so, dass die Gewalt einen Keil zwischen das Paar treiben würde. Sie reagiert zunächst überrascht auf seine hilflose Wut, schreit erst spät, dass er doch „gut“ sei. „Das Streicheln über die Hand am Morgen nach den Schlägen der Nacht kann dieses Beziehung um Jahre verlängern“, heißt es dazu in geradezu Klugescher Lakonie im Pressetext. Durch die Form der ruhigen Einteilung in Kapitel – die trennenden Einschübe zwischen den einzelnen Kapiteln dauern insgesamt 17 Minuten – und durch den Mut, nicht jedes Kapitel zu einem Beweisstück für eine These zu machen, entfaltet sich der Film als schöne Polyphonie, die eine pädagogische Utopie in sich birgt. Gerade weil der Erzählfluss stockt und nicht auf den Punkt zu bringen ist, muss der Zuschauer wie in einer Kunstausstellung den Raum erst herstellen, in dem sich die divergierenden Kräfte entfalten.

So revolutionär und produktiv die gewählte Form ist, so bekannt sind einzelne Resultate der häuslichen Gewalt, die Gröning auch zeigt, aber wesentlich offener und zugleich genauer, als man es sonst gewohnt ist. Da ist die Scham der Frau, die sich aus dem schützenden Raum des Sozialen zurückzieht, in die Isolation und in eine radikale Hinwendung zu ihrem Kind. Da ist die Einsamkeit des Mannes, der sich selbst ein Rätsel ist. Der von seiner Verrohung überrascht wird und keine Mittel dagegen in der Hand zu haben scheint. Gröning selbst bezeichnet ihn als einen „Verhungerten der Liebe“. So erzählt der Film auf eine in Bann schlagende Weise vom Aufeinanderprallen zweier „Tugenden“, die Gewalt auch dort entstehen lassen, wo Liebe ist. Die Tugend der Liebe und Neugier steht gegen die Tugend der Ordnung und Perfektion. Insofern ist klar, dass die aus Neugier umgedrehten Gartenplatten ihm als Störung ein Dorn im Auge sind. Philip Gröning hat diesen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Film mit kleinem Team und ohne Dreh-

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im Kino buch gedreht. Vielleicht ist seine Genauigkeit gerade diesem Umstand geschuldet. Das allerletzte Bild gehört der Tochter, die mit gerade mal zwei Jahren bereits verstörende Erfahrungen gemacht hat. Sie blickt uns direkt ins Gesicht – ein Bild wie aus einem Horrorfilm. Ulrich Kriest

Bewertung Der FilMKoMMiSSion

Ein junges Paar führt nach außen hin ein harmonisches Familienleben in einer Kleinstadt. Die Frau kümmert sich zuhause um die kleine Tochter, der Mann arbeitet als Streifenpolizist. Doch das Familienglück wird erschüttert, als sich der Mann zur Gewalt gegen seine Frau hinreißen lässt, was die Frau vor der Umwelt verheimlicht und vor sich selbst verharmlost. Ein ohne festes Drehbuch entstandenes Drama, für das eine strenge, distanzierende Form gewählt wurde. Statt einer linearen Chronologie der Ereignisse wird die Geschichte über Impressionen aus dem Alltag der Familie in 59 Kapiteln erzählt, die durch Schwarzblenden voneinander getrennt sind. Der Film verweigert sich einfachen Deutungen, indem er das Entstehen von „häuslicher Gewalt“ im Kontext diverser, widersprüchlicher Auslöser zeigt. Ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Werk. – Sehenswert ab 16.

Deutschland 2013 regie, Buch: Philip Gröning Kamera: Philip Gröning Schnitt: Philip Gröning, Hannes Bruun Darsteller: Alexandra Finder (Christine), David Zimmerschied (Uwe), Pia Kleemann (Clara), Chiara Kleemann (Clara), Horst Rehberg (alter Mann), Lars Rudolph, Katharina Susewind, Fabian Stromberger länge: 179 Min. | FSK: ab 16; f Verleih: 3L | Kinostart: 20.3.2014 FD-Kritik: 42 241

neue Filme

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand Beherzte Komödie: Pippi Langstrumpf fürs Altenheim In den letzten Jahren wird der Kultursektor regelrecht überschwemmt mit Themen, die um alte Menschen kreisen, richtige Alte, keine auf rüstig getrimmten Werbebroschüren-Senioren. Interessanterweise ist das neben dem Terrorismus und dem Cyberspace das dritte große Thema des neuen Jahrtausends. Das hat natürlich damit zu tun, dass dieser Bevölkerungsanteil dramatisch wächst; dass Alzheimer, Parkinson und Diabetes zum Massenphänomen werden und Rollstuhlfahrer rapide zunehmen. Auch der Bestseller von Jonas Jonasson, nach dem dieser Film gedreht ist, nimmt sich des Themas an. Zweifelsohne ist es eine der komischen Varianten und kann ohne allzu quälende Erinnerung an die eigenen Eltern im Pflegeheim auch in der Badewanne gelesen werden. Aber selbst die komischen Varianten leben vom Schuldgefühl über die Kasernierung von Menschen, die sicher lieber kindischen Blödsinn machen würden statt mit pädagogischem Blödsinn traktiert zu werden. Konkret: die lieber mal Geschirr zerschlagen wie Laurel und Hardy statt brav aufzuessen. Der Film von Felix Herngren beginnt im Altersheim. Robert Gustafsson, ein schwedischer Komikerstar, spielt den Hundertjährigen, der an seinem Geburtstag aus dem Fenster steigt, weil ihn Jungs mit ihren Knallfröschen neugierig machen. Er entflieht damit einer ätzenden Geburtstagsfeier, nimmt den nächsten Bus und auch gleich einen Koffer, den ihm ein Rocker kurz zum Halten gegeben hat. Natürlich sind in dem Koffer Geldscheine, und bald wird er von einer ganzen Rockerbande gejagt.

Zwischendrin gibt es immer wieder assoziative Rückblenden in die Lebensgeschichte des Alten, eine abenteuerliche Mischung aus „Zelig“, „Forrest Gump“ und „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“. Durchaus liebevoll und mit erstaunlichem Aufwand für eine schwedisch-europäische Co-Produktion werden vergangene Jahrzehnte visuell zum Leben erweckt. Aber leider kann sich Felix Herngren als Komödienregisseur nicht mit Woody Allen, Robert Zemeckis oder Ben Stiller messen. Seine Adaption ist ein guter Schmunzelfilm, aber Lacher erntet er eher selten. Herngren muss sich mit einer reizvollen, aber auch ziemlich komplexen Konstruktion herumschlagen. Der Stoff arbeitet mit drei parallel geführten Running Gags. Alle wichtigen Dinge in dieser fiktiven Lebensgeschichte sind um die Leidenschaft für Sprengstoff gruppiert. So werden alle Schurken en passant und auf groteske Weise eliminiert. Ein Kriminalkommissar kommt allen Stationen der Flucht des Alten auf die Spur, interpretiert sie aber falsch. Am Ende ist er es jedoch, der der Geschichte zum Happy End verhilft und den glücklichen Alten einen glücklichen Alten sein lässt. Bis dahin hat der Film ein derartiges Füllhorn an skurrilen Übertreibungen und Figuren ausgeleert, wie man es aus dem als eher bodenständig geltenden Schweden nicht unbedingt erwartet hätte. Andererseits: Auch Astrid Lindgren stammte aus Schweden und prägte die Kindheit ihrer Landsleute mit ihren Geschichten. Und dieser Film ist gewissermaßen Pippi Langstrumpf fürs Altersheim. Thomas Brandlmeier

Bewertung Der FilMKoMMiSSion

An seinem 100. Geburtstag beschließt ein rüstiger Mann, der Ödnis des Seniorenheims den Rücken zu kehren. Er klettert aus dem Fenster und greift sich eine herrenlose Tasche, die bis zum Rand mit Geldscheinen gefüllt ist. Darüber gerät er in groteske Abenteuer, die ihn beinahe um den halben Globus führen. Eine liebevoll-beherzte Komödie, die die reizvoll-komplexe Konstruktion aus der Buchvorlage, dem schwedischen Besteller von Jonas Jonasson, angemessen überträgt. Der turbulente Film steckt voller Witz und Anarchie und wurde mit für europäische Verhältnisse erstaunlichem Aufwand inszeniert . – Ab 14.

Schweden 2013 regie: Felix Herngren Buch: Felix Herngren, Hans Ingemansson Kamera: Göran Hallberg Musik: Matti Bye | Schnitt: Henrik Källberg Darsteller: Robert Gustafsson (Allan Karlsson), Iwar Wiklander (Julius Jonsson), David Wiberg (Benny), Mia Skäringer (Gunilla), Jen Hultén, Alan Ford, Ralph Carlsson länge: 114 Min. | Kinostart: 20.3.2014 Verleih: Concorde | FD-Kritik: 42 242

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