film dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur
06 2015
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BENOÎT JACQUOT der französische regisseur erweist sich mit seinem neuen film „3 herzen“ einmal mehr als meister des komplexen gefühlskinos. ein porträt.
ANAÏS DEMOUSTIER die junge schauspielerin ist aktuell in „eine neue freundin“ zu sehen, dem neuen film von françois ozon. sie spielt ihre bisher anspruchsvollste rolle.
K ATHARINA SCH ÜTTLE R sie hat das zeug zu einer deutschen isabelle huppert: ein lob auf die außergewöhnliche film- und theater-schauspielerin im rahmen unserer reihe „spielwütig“.
GERD SCHNEIDER HAT THEOLOGIE STUDIERT, BEVOR ER FILMEMACHER WURDE. IN SEINEM DEBÜTFILM WENDET ER SICH EINDRUCKSVOLL EINEM BRISANTEN THEMA ZU: DEM KINDESMISSBRAUCH DURCH PRIESTER.
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19. märz 2015 € 5,50 68. Jahrgang
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kinotipp
der katholischen Filmkritik
66 aBcinema
Verfehlung der priesterJakob (sebastian blomberg) will den sexuellen missbrauch eines amtsbruders nicht unter den tisch kehren. kritik auf s. 39.
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3 herzen 19.3. a most Violent Year 19.3. Das andere rom - Sacro Gra 26.3. büchner.lenz.leben. 26.3. chappie 5.3. Das ewige leben 19.3. Flowers of Freedom 26.3. Focus 5.3. n – Der Wahn der Vernunft 26.3. eine neue Freundin 26.3. Die räuber 19.3. Die reise zum sichersten ort der erde 19.3. ruined heart 26.3. Scorpions – Forever and a Day 26.3. Shaun das Schaf - Der Film 19.3. Something must break 26.3. the boy next Door 19.3. tod den hippies!! es lebe der Punk 26.3. tristia – Schwarzmeer-odyssee 19.3. Verfehlung 26.3. Viel Gutes erwartet uns 19.3. Von glücklichen Schafen 26.3. zu ende ist alles erst am Schluss 26.3.
49 51 48 50 45 46 47 39 51 51 40
10 Benoît Jacquot
16 gerd schneider
fernseh-tipps 56
nach „nackt unter Wölfen“, dem roman von bruno apitz, drehte frank beyer 1962 einen klassiker des defa-kinos. nun gibt es eine neue Verfilmung: die adaption von philipp kadelbach wird am 1. april im ersten ausgestrahlt. ebenfalls eine premiere: ein biografischer spielfilm über den tierfilmer bernhard grzimek (3.4.).
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20 angelika niescier
fotos: titeL: camino. s. 4/5: camino, fd-archiv, berlinale 2015, alina bader, arne reimer, paul zsolnay Verlag, studio hamburg, twentieth century fox
neu im kino
34 magische momente 11.03.15 15:32
inhalt kino
akteure
filmkunst
10 literatur
22 katharina schüttler
34 „Birdman“ & „oscars“
10 BENOÎT JACQUOT
der französische regisseur hat sich seit seinen ersten filmen in den 1970er-Jahren zu einem solitär in der französischen filmlandschaft entwickelt. auch sein neuer film „3 herzen“ ist hintergründiges gefühlskino und findet für komplexe menschliche innenwelten eine sinnliche filmsprache. ein porträt. Von rüdiger suchsland
16 «VERFEHLUNG»
in seinem ersten spielfilm beschäftigt sich der regisseur gerd schneider mit dem missbrauch von kindern durch katholische geistliche sowie dem umgang der kirche mit tätern und opfern. im interview erzählt er von seinen strategien in der umsetzung des brisanten themas. Von Jochen kürten
19 LITERATUR
neue filmbücher widmen sich den darstellern fritz kortner und marlene dietrich sowie der kunst der filmkomödie.
20 ANGELIKA NIESCIER
was haben Jazz und kino gemein? eine gewisse form der Leidenschaft, erläutert die saxofonistin angelika niescier. Vor allem ist für sie existenziell: der respekt vor dem jeweiligen publikum. Von horst peter koll
22 KATHARINA SCHÜTTLER
27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD
kein wunder, dass die zuschauerzahlen bei der ausstrahlung der „oscar“-zeremonie sinken: die zeremonie repräsentiert kaum mehr hollywood, sondern ist nur ein filmkünstlerisches feigenblatt. Von franz everschor
28 HANNS ECKELKAMP
schon im teenager-alter hat sie mit der schauspielerei begonnen und seitdem souverän den sprung ins erwachsene rollenfach geschafft. aktuell ist sie im biopic „grzimek“ im fernsehen zu sehen. ein porträt aus unserer „spielwütig“-reihe. Von alexandra wach
mit seinem legendären filmverleih atlas erlebte der filmkaufmann, produzent und Verleiher eine atemberaubende bergund talfahrt: erinnerungen an eine fast 70-jährige Leidenschaft für die filmkunst in deutschland. Von rolf giesen
24 ANAÏS DEMOUSTIER
34 MAGISCHE MOMENTE
die französische schauspielerin hat sich ihr handwerk früh von meistern ihrer zunft wie isabelle huppert abschauen können. in françois ozons melodram „eine neue freundin“ spielt sie nun ihre bisher anspruchsvollste filmrolle. Von marius nobach
... gibt es im berühmten filmklassiker „der dritte mann“ viele. regisseur carol reed inszenierte darin das wien der unmittelbaren nachkriegszeit als eine art „Vorhof zur hölle“. Von rainer gansera
26 IN MEMORIAM
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rubriKen editoriaL inhaLt magazin magische momente dVd/bLu-ray dVd-perLen tV-tipps abcinema Vorschau / impressum
nachrufe auf den us-amerikanischen schauspieler Leonard nimoy („mr. spock“) sowie den „direct cinema“-dokumentaristen albert maysles.
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g e r d
s c h n e i d e r
ü b e r
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f i l m
„ v e r f e h l u n g “
„Der zölibat ist keine ursache für Gerd Schneider, Jahrgang 1974, befasst sich in seinem ersten Spielfilm „Verfehlung“ (Kritik in dieser Ausgabe) mit dem sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch einen katholischen Geistlichen. Es geht aber auch um den Umgang der Kirche mit Tätern und Opfern. Der Filmemacher hat katholische Theologie studiert und seelsorgerisch gearbeitet, bevor er sich der Regie zugewandte. Ein Gespräch über seine Motivationen und Strategien bei der Aufarbeitung des skandalösen Themas. Das Gespräch führte Jochen Kürten
Was hat Sie zu „Verfehlung“ inspiriert? Warum haben Sie sich in ihrem ersten Film gerade mit diesem thema beschäftigt? schneider: das ist ja schon eine weile her; zu beginn des Jahrtausends war das thema in deutschland noch nicht so wahnsinnig aktuell. in den usa herrschte damals große aufregung wegen der aufdeckung von missbrauchsfällen in der katholischen kirche, vor allem aber wegen der Vertuschungen. damals haben die deutschen bischöfe noch gelacht. sie wähnten sich sicher und dachten, das das hier nicht passieren kann. 2006 ging es aber plötzlich auch in deutschland damit los. damals war ich bei einer filmproduktion als second-unitregisseur. ich hatte plötzlich diese idee, ein bild von einem gefängnisseelsorger im kopf, der einen kollegen, einen freund, im gefängnis sitzen hat. wie soll er damit umgehen? wie mit bestimmten wahrheiten umgehen? das hat mich gepackt. ich stand vor der wahl: welche geschichte erzähle ich in meinem Langfilmdebüt? das ist für jeden filmemacher das a und o: welche geschichte kann man erzählen, die trägt, die packt? ich wollte etwas mit substanz machen.
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Sie haben ihren Film aus zwei quellen gespeist: aus dem Studium der theologie und aus dem Filmstudium… schneider: das studium der theologie war meine erste Liebe. ich war damals sehr stur. man braucht eine gewisse sturheit, weil der beruf verschiedene einschränkungen mit sich bringt. darüber bin ich mir dann irgendwann klar geworden, dass das nicht mein weg ist. es ist ein sehr schöner beruf, auch wenn er heute anders aussieht als vor 20 Jahren. mittlerweile ist er mehr modernes management als alles andere. ich habe damals gemerkt, dass ich illusionen hatte. dann habe ich überlegt: was mache ich jetzt? ich habe das studium noch beendet, allein um ein bisschen zeit zu gewinnen, um herauszufinden, was ich danach mache. mir war klar, dass ich kein religionslehrer werde. im hinterkopf bewegte mich der gedanke, wenn ich je etwas anderes machen sollte, dann etwas komplett anderes. film hat mich immer fasziniert. ich habe viel herumgesponnen, hatte fixe ideen, mal etwas zu drehen. eine private grille, die man pflegt, wohl wissend, dass sie nie wahr werden würde. aber plötzlich war die möglichkeit da. ich habe praktika gemacht,
beim theater gearbeitet, bei filmproduktionen als „mädchen für alles“. und dann hatte ich das glück, an der filmakademie baden-württemberg in Ludwigsburg angenommen zu werden.
in ihrem Film geht es eher um das thema Vertuschung als um den eigentlichen missbrauch. Warum war ihnen gerade das wichtig? schneider: ich wollte keinen film machen, bei dem man plötzlich entdeckt: huch, hier ist ein „fauler apfel“, was machen wir denn jetzt? das thema ist bekannt, nicht erst seit gestern. ich wollte vielmehr den umgang oder besser: den nicht-umgang oder auch den unterschiedlichen umgang innerhalb der katholischen kirche zeigen. ich wollte keinen film über täter oder opfer oder über den missbrauch an sich. der ist schlimm, ganz klar – aber das passiert, ehrlich gesagt, in familien viel häufiger. auch in geschlossenen systemen wie schule, internat, ob die jetzt christlich geführt sind oder nicht, auch in kasernen, bei sportvereinen, beim fußball. mittlerweile wird gott sei dank viel darüber diskutiert. mich hat die kluft interessiert
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missbrauch“
foto: camino
zwischen dem anspruch der katholischen allen dingen aber auch gegenüber dem kirche an glauben, moral und ethik und der eigenen gewissen. die oberste instanz für erkenntnis, dass so etwas in den eigenen einen gläubigen christen ist das „gebildete reihen stattgefunden hat. dass man meint, gewissen“, nicht der papst. Voraussetzung die christliche botschaft, den glauben ist, dass man sein gewissen bilden schützen zu müssen, indem man konnte. es ist also ein drama im die dinge unter den tisch kehrt: besten sinne, weil es einfach »es ist also ein das ist für mich der aufreger. „der“ gewissenskonflikt ist: drama im besten mir ging es darum, zu zeigen, wie entscheidet man sich? sinne, weil es einfach das eine ist mein Leben, dem dass jemand, der innerhalb des katholischen systems als ‹der› gewissenkonflikt ich Jahre gewidmet habe, priester tätig ist, einer, der ist: Wie entscheidet und das andere ist das Leben eigentlich das moralische rüstvon einem anderen oder sogar man sich?« zeug hat, in die situation gerät, von mehreren personen, die in dass sein enger freund und kollege arge mitleidenschaft gezogen worbetroffen ist. wenn man 15 Jahre im beruf den sind. in dieser frage integer zu sein, ist und plötzlich merkt, dass man nur noch nicht nur dem gesetz nach, sondern loyal in diesen bahnen denken kann, wie bei aldem gewissen und auch dem glauben und len absolutistisch geschlossenen systemen, der botschaft gegenüber, das macht den wo alles hierarchisch strukturiert ist. konflikt aus. damit gehen alle drei hauptcharaktere sehr unterschiedlich um. Was macht die drei im Film dargestellten Priester aus? ist es die Frage, nach welchen leitlinien sie sich ausrichten? schneider: Ja, das kann man grob so umreißen. es ist eine Loyalitätsfrage gegenüber der kirche, gegenüber den freunden, vor
Wie wichtig war es ihnen, die drei charaktere differenziert darzustellen? schneider: ich wollte dieses klischeebild „priester“ etwas entrümpeln. was man diesbezüglich in filmen oder im fernsehen
antrifft, ist uninteressant. entweder ist es die dicke witzfigur, die kriminalfälle löst, oder es ist eine sinistere gestalt, die zu irgendeinem weltenende ein geheimnis aus dem schrank holt. das ist kompletter unsinn. so sieht der moderne priesterberuf nicht aus. deswegen habe ich drei männer genommen, die nichts nerdiges an sich haben.
Was eint die drei Priester, was unterscheidet sie? schneider: alle drei haben eine merkwürdige hemmnis. das ist bei männern so, bei priestern noch mal speziell. ich führe alle drei an einen bestimmten punkt, wo alles auseinanderbricht. wir beobachten Jakob, der an der wahrheit erstickt; oliver, der sehr schnell sagt, dass man das irgendwie regeln muss; dominik hat seine ganz eigene tragik: er hat alle hände voll mit der fassade zu tun, die er vor sich her trägt. es war mir wichtig zu zeigen, dass eine solche figur kein monster ist.
Spiegelt ihr Film auch ein wenig die Gesellschaft wider?
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»verfehlung«: sebastian Blomberg (r.) als priester, dessen freundschaft zu einem kollegen (kai schumann) ihn in loyalitätskonflikte stürzt
schneider: das maße ich mir nicht an, das müssen die Leute sagen, die den film sehen. es wäre schön, wenn dem so wäre. ich wollte keinen film machen, der sich einfach nur empört. den brauchen wir nicht. da weiß am stammtisch doch jeder, was zu tun ist. dazu haben wir auch genügend talkshows. aber so einfach ist es nicht. ich wollte einen film über die ambivalenzen machen, die solche fälle nach sich ziehen. man muss kein priester sein, um in eine solche situation zu geraten. das passiert auch in „nachbars garten“. ich wollte den zuschauer in ein milieu führen, das vielen sehr fremd geworden ist. die katholische kirche ist eine art „kohlensack“, wo sich unglaublich viel abspielt. da kommt vor allem viel weihrauch raus. auf der anderen seite wollte ich zeigen, dass das ganz gewöhnliche menschen sind, die unter ungewöhnlich hohem druck stehen. Jeder reagiert da anders, beziehungsweise es gibt bestimmte muster, nach denen man verfährt. ich wollte auch diese grautöne aufzeigen.
Welche rolle spielt in solchen Fällen der zölibat? schneider: keine. ich sehe ihn zwar äußerst kritisch, weil es eine merkwürdige form ist, mit seiner natur umzugehen, vorausgesetzt man kennt seine natur. es gibt viele religiöse gemeinschaften, die zölibatär leben. das ist schon seit Jahrtausenden so, das ist
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keine katholische erfindung. aber ich werfe geregelt, aber es gibt keinen „Vordruck für der katholischen kirche vor, dass man missbrauch“ bei der kirche. aber dass die bestimmte dinge nicht wissen will, dass Vertuschung teilweise systematische züge sich die Leute damit nicht auseinanderannimmt, das ist ein selbstläufer. also: setzten. der anteil der homosexuellen in dinge werden in gang gesetzt, ohne dass der katholischen kirche ist hoch, signifikant sie beauftragt sind. um einen brutalen höher als im durchschnitt. der anteil Vergleich zu bringen: so hat auch von pädophilen hingegen ist gedas dritte reich funktioniert, »ich wollte den nauso hoch wie in der übrigen der führerbefehl etc. es gibt gesellschaft, wenn nicht sogar auch keinen bischof, der Zuschauer in ein niedriger. der zölibat ist keine milieu entführen, das eine Vertuschung anordnet. ursache für missbrauch. er ist dadurch, dass es keinen vielen sehr fremd ein begünstigender umstand, Vordruck gibt und keine geworden ist.« weil diese Leute oft mit Jublaupause, tun die Leute in gendlichen zu tun haben, in einer der kirche sehr unterschiedliche drucksituation stecken, in sexuell dinge: der eine legt ein angebot aufgeladenen situationen, bei Jugendfreiauf den tisch, das juristisch vollkommen zeiten. da sind junger priester mehr kumpel anfechtbar ist; ein anderer versucht, die als respektsperson. sie erhalten einen Verpresse herauszuhalten. wieder ein anderer trauensvorschuss, sind interessant, auch bei will die staatsanwaltschaft heraushalten, mädchen. das ist aber auch so in schulen, aktiviert eigene anwälte. die wissen zum bei Lehrern oder in ähnlichen zusammenteil sehr gut, wie man Leute unter druck hängen, wo kinder und heranwachsende setzt. oliver sagt das auch im film, in dem betreut werden. er den spieß umdreht. er fragt die mutter des missbrauchsopfers: wollen sie das ihrem sohn wirklich antun – vor gericht ausSie haben gesagt: es gibt kein zusagen? er gibt ihr damit das gefühl, eine System der Vertuschung, aber schlechte mutter zu sein. es gibt verschiedie Vertuschung hat systematische dene möglichkeiten. menschen werden sehr züge. Was genau meinen Sie damit? erfinderisch, wenn sie in die ecke gedrängt schneider: es gibt ja so stammtischmeiwerden. und die katholische kirche wird nungen, die sagen, dass es geheime akten gerne in die ecke gedrängt. die kirche ist gäbe, in denen steht, wie viele kinder ein zwar groß darin, die munition zu verteilen, priester zeugen darf. das ist alles quatsch. mit der sie beschossen wird, sie ist in diees wird sicherlich viel unter der hand sen Dingen aber auch sehr geschult. •
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fulminanter auftritt von nicolas cage: ein cia-agent erkankt an einer seltenen form von demenz und will als letzte mission einen islamistischen terroristen stellen. „dying of the Light“ wurde geschrieben und inszeniert von altmeister paul schrader.
fernsehen „woran glaubst du?“, fragt eine themenwoche bei 3sat. gezeigt werden dokumentationen und spielfilme zum thema, darunter auch Jessica hausners drama „Lourdes“ mit sylvie testud (am 26.3.).
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neu auf dVd
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filme im tV
herausragend, ein meisterwerk sehr gut, ambitioniert, lohnenswert solide und interessant wenig aufregend, mittelmaß verschenkt, enttäuschend ärgerlich, anstößig, eine zumutung
neu im Kino
»eine neue freundin« von françois ozon: eine junge frau (anaïs demoustier) kümmert sich nach dem tod ihrer besten freundin um den trauernden ehemann und entdeckt auf unerwartete weise dessen geheime neigung zum »cross-dressing«.
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kritiken neue filme man sollte den blick schärfen und vor allem etwas Geduld entwickeln, bevor man ein urteil fällt! mit diesem ratschlag beginnt der neue film von françois ozon ganz handfest, indem in nahaufnahmen gezeigt wird, wie eine frau „schön“ gemacht wird, während aus dem off eine erzählerin einsetzt, die die geschichte einer langen freundschaft seit kindertagen zu rekapitulieren. man staunt kurz, wie verschwenderisch ozon in der folge einschlägige biografische stationen skizziert: aus diesem material haben andere mehrteiler gemacht. der gedanke, dass die kinderfreundschaft zwischen der rothaarigen claire und der blonden Laura wohl in Lauras hochzeit mündet, geht allerdings fehl. man erkennt, dass hier Lauras Leichnam für die bestattung präpariert wird. kurz darauf folgt die nächste überraschung, als claire den witwer david besucht, da sie der freundin geschworen hat, sich um den Verzweifelten und dessen kleine tochter Lucie zu kümmern. wenn claire das haus von Laura und david betritt, glaubt man sich kurz in einem remake von hitchcocks „psycho“, doch die auflösung der szene ist noch eine spur überraschender, denn david, ein
eine neue freundin Utopisches »Familien«-Drama von François Ozon
bild von einem mann, bekennt sich dazu, gerne frauenkleider zu tragen. schon immer; Laura habe dafür Verständnis gehabt. claire ist schockiert: ist ihre beste freundin mit einem transvestiten liiert gewesen? ist david schwul? oder ist die Ver-kleidung – durchaus attraktiv, aber kaum überzeugend – trauerarbeit? david versucht zu erklären: das kind sei durch den geruch der bluse der toten mutter beruhigt worden. aber schnell wird klar, dass es keine andere erklärung für davids Verhalten als sein Vergnügen daran gibt. die freude, sich bestimmte kleidung anzuziehen, sich zu schminken, eine passende perücke zu wählen. claire wird neugierig – und der film lädt auch dazu ein, david auf seinem weg zu folgen und nicht nach vorschnellen erklärungen zu suchen. bald wird auch deutlich, dass nicht david, sondern claire die zentrale figur des films ist. während david sich den raum für das ausleben seiner
bedürfnisse nimmt, wandelt sich claire, wird offener, neugieriger, verschworener – und verleiht david schließlich einen „nom de plume“: Virginia. sie habe eine neue freundin, erklärt claire ihrem mann, der claires wandlung längst misstrauisch registriert. nun beginnt ein munteres, cleveres spiel mit den (geschlechter-) identitäten, seh-erwartungen und konventionen, das zwischen Vorabend-soap und melodrama, zwischen „charleys tante“ und „Vertigo“ changiert, bis sich ozon schließlich dazu durchringt, die geschichte unmissverständlich in eine konkrete utopie münden zu lassen. am schluss steht das modell einer neuen familie, die traditionelle rollenmuster obsolet erscheinen lässt. dass der schluss offen märchenhafte züge trägt, zeigt, dass ozon aktuelle gesellschaftliche auseinandersetzungen zu diesem themenkomplex sehr wohl zur kenntnis nimmt, aber die möglichkeiten des films, eine utopie zu entwer-
fen, entschieden nutzt. welch ein erstaunlicher weg hinter den protagonisten liegt, wird deutlich, wenn man sich vom ende her an die klischeehaften, mit der mädchen-freundschaft zwischen Laura und claire verbundenen biografischen skizzen des anfangs erinnert – und diese freundschaft dann mit der so ganz anderen, aufregend unbestimmten und tendenziell mit der fähigkeit zum reflexivreflektierten rollenspiel unterfütterten freundschaft zwischen claire und Virginia vergleicht. gerade in der Verbindung des spielerischen mit dem subversiven liegt der intellektuelle reiz dieses films, der auch deshalb so gut funktioniert, weil man den vorzüglichen darstellern romain duris und anaïs demoustier ihre „Lust am spiel“ geradezu ansieht. Ulrich Kriest Bewertung der filmkommission
nach dem tod ihrer besten freundin will eine junge frau sich um deren kleine tochter sowie den Witwer kümmern. dabei entdeckt sie, dass der ehemann gerne frauenkleidung trägt. nach anfänglichem schock wird sie seine vertraute, steht ihm beim ausleben seiner neigung bei und blüht durch das geheimnis selbst auf. ein ausgezeichnet gespieltes, ebenso munteres wie intelligentes filmisches gedankenspiel über (geschlechter-) identitäten, seherwartungen und konventionen. dabei streift der film aktuelle debatten über familienmodelle, um am ende in eine märchenhafte kino-utopie zu münden. – sehenswert ab 16.
une nouvelle amie. frankreich 2014 regie, Buch: françois ozon darsteller: romain duris (david/virginia), anaïs demoustier (claire), raphael personnaz (gilles), isild le Besco (laura) länge: 108 min. | kinostart: 26.3.2015 verleih: Weltkino | fsk: ab 12; f fd-kritik: 42 961
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neue filme kritiken
a most violent Year Ein Unternehmer will nach oben. Krimidrama von J.C. Chandor Der unternehmer abel morales und ehefrau anna sind sich völlig einig. um ihre prosperierende heizölfirma in ein marktbeherrschendes imperium zu verwandeln, investieren sie ihr ganzes geld in ein industriegelände, das ihnen zu guten konditionen überlassen wird. damit können sie auf dem wasserweg beliefert werden, und sie steigern die Lagerkapazitäten. doch ihre investitionsfreude wird auf eine harte probe gestellt. Von allen seiten sehen sich die beiden in ihrem willen zum wachstum torpediert. so werden die Lastwagen, mit denen sie das öl an die kunden ausliefern, von gangstern entführt. und der gewerkschaft fällt nichts besseres ein, als gleichfalls zu gewaltsamen mitteln zu greifen. die fahrer sollen illegalerweise bewaffnet werden, was der rechtschaffene geschäftsmann morales jedoch rundherum ablehnt. aber offenbar gibt es manches, wovon er nichts weiß. denn ein staatsanwalt, der die branche ins Visier nimmt, bereitet eine anklageschrift wegen betrug und steuerhin-
terziehung vor, aber die bücher kennt nur morales’ ehefrau. als einer der fahrer aus angst wild um sich schießt und der kredit für den kauf des grundstücks gekündigt wird, muss sich abel morales ernsthaft fragen, ob er seinen prinzipien treu bleiben kann. regisseur J.c. chandor hat nach „all is Lost“ wieder ein größeres ensemble versammelt. doch auch hier lässt ihn die idee vom kampf eines individuums mit mächtigen elementen nicht los. erneut gerät ein mensch bei seiner wagemutigen unternehmung in eine äußerst missliche Lage. sie könnte sein untergang sein, doch angesichts der schrecklichsten katastrophe vermag er übermenschliche kräfte zu mobilisieren. ging es in „der große crash – margin call“ um die auswüchse der finanzmärkte, wendet sich chandor nun einem anderen aspekt des kapitalismus zu und lässt seinen protagonisten einen sozialen machtkampf führen: im Jahr 1981 bekommt er es in new york mit einer korrupten, gewalttätigen gesellschaft zu tun, die ihn in eine
moralische zwickmühle zwingt. die welt steht am beginn ihrer neoliberalen neuordnung durch politiker wie ronald reagan und margaret thatcher, die für investitionsfreudigen macher ein förderliches klima schaffen, indem sie steuern senken und die macht der gewerkschaften brechen. chandor lotet anhand von morales’ schicksals aus den spielraum aus, den sich ein individuum erobern kann. muss sich ein aufsteigender unternehmer diesen methoden anpassen, muss er gar korrupt werden, oder darf er seine weltsicht des freien, rein wachstumsorientierten unternehmertums bestätigt sehen? inszenatorisch gerät chandors spannungsdramaturgie hier jedoch an grenzen. der protagonist bekommt es mit einer sozial komplexen gesellschaft und damit auch mit viel psychologischem kalkül zu tun. zudem hat morales nicht nur ein einziges problem zu bewältigen, sondern muss mehrere rollen ausfüllen. er ist unternehmer, familienvater und mann einer frau, die ihn bei seinen geschäften unterstützt; überdies
soll er in diesem geflecht auch noch kontur gewinnen. die inszenierung vermag zwar durchaus zu bannen. doch das zeitkolorit der 1980er-Jahre löst sich von den figuren und überdeckt deren glaubwürdigkeit. es erstarrt zu einer abstrakten idee über die schönheit jener epoche, in welcher der kapitalismus offenbar noch berechenbar war. der film gefällt sich in polierten oberflächen, die szenerie wird von warmem gelbem Licht überschienen. die bildsprache erinnert mitunter an die filme von william friedkin, etwa „Leben und sterben in L.a.“,ohne aber wirklich zum neo noir zu werden. in den ästhetisch durchkomponierten bildern stellen sich die figuren mit ihrer schicken, erlesenen armani-kleidern aus. doch kleider machen nicht immer auch Leute. Heidi Strobel Bewertung der filmkommission
ein neu in die usa eingewanderter unternehmer will anfang der 1980er-Jahre mit einer heizöl-firma in new York das große geschäft machen. dabei legt er sich mit skrupellosen und gewalttätigen konkurrenten an und gerät zunehmend in einen moralischen Zwiespalt, als sich seine firma nicht mehr mit legalen mitteln betreiben lässt. spannendes krimidrama, das sich ambitioniert um eine tiefergehende gesellschafts- und charakterstudie bemüht. dabei bleibt der film mit seinen ästhetisch aufpolierten Bildern sowie den nur wenig glaubwürdigen figuren jedoch stets nur an der oberfläche. – ab 16.
a most violent Year. usa 2014 regie, Buch: J.c. chandor darsteller: oscar isaac (abel morales), Jessica chastain (anna morales), david oyelowo (lawrence), alessandro nivola (peter), albert Brooks (andrew) länge: 125 min. | kinostart: 19.3.2015 verleih: squareone | fd-kritik: 42 962
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