Filmdienst 07 2014

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Filmkunst

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FILM DIeNST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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Sprich mit ihr! Der Dialog zwischen Mensch und Maschine ist im Kino oft gewalttätig. Nicht so in Spike Jonzes „Her“: Computer & Mensch – das Traumpaar 2.0?

Singen im regen Die Filme von Stanley Donen stehen für eleganz, Humor und Musikalität. Nun wird der Meisterregisseur 90. eine Hommage.

„Deutschboden“ Der neue Dokumentarfilm von André Schäfer taucht tief in die ostdeutsche Provinz ein. ein Interview mit dem regisseur. und die aktuelle Filmkritik.

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27. März 2014 € 4,50 67. Jahrgang

feo alaDag Ihr neuer Film „Zwischen Welten“ erzählt vom heiklen einsatz deutscher Truppen in Afghanistan. ein Gespräch mit der regisseurin über ihre Motive und erfahrungen.

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Akteure

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In „Her“ verlieben sich ein Mann und eine Computerstimme ineinander. Ein Meilenstein im Kino­Dialog zwischen Mensch und Maschine, der seit Kubricks „2001“ oft von der Angst vor sprachbe­ gabter Technik geprägt war. Ein Essay. Von Marius Nobach

Sein letzter Film feierte auf der diesjäh­ rigen „Berlinale“ Premiere. Nun ist Alain Resnais im Alter von 91 Jahren gestor­ ben. Ein Nachruf auf den Meisterregis­ seur, der sich bis zuletzt seine Experi­ mentierfreude bewahrte. Von Ulrich Kriest

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MASCHINeNSTIMMeN IM KINo

alle filme im tV vom 29.3. bis 11.4. Das extraheft 40 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV

SPIKe JoNZe

ALAIN reSNAIS

ANDrÉ SCHÄFer Der Dokumentarfilmer begibt sich in „Deutschboden“ in die ostdeutsche Provinz. Ein Gespräch über ambivalente Gefühle, Perspektivlosigkeit und den Wahnsinn der deutschen Realität. Von Heidi Strobel

80.000 Film-Kritike n u n t e r w w w. f i l m d ienst.de

Die unenDliche geschichte 11.4. einsfestival

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Ständige Beilage

FILM

IM TV

Der monD unD anDere lieBhaBer 3.4. mdr

Feo ALADAG sPiDer-man 2 31.3. kabeleins

29.3.– 11.4.2014

Planet Der affen: PreVolution 6.4. ProSieben

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Rio Grande von John Ford Out of Sight mit George Clooney und Jennifer Lopez Vitus mit Bruno Ganz

In seinen Filmen und Musikvideos führt der Regisseur fantastische und reale Welten zusammen. Doch selbst in der größten Künstlichkeit lässt er Raum für menschliche Gefühle. Ein Porträt. Von Kathrin Häger

Mit „Zwischen Welten“ wagt sich die Regisseurin an ein heißes Eisen: Das Verhältnis zwischen deutschen Soldaten und der Bevölkerung in Afghanistan. Ein Gespräch über ihre Dreherfahrungen. Von Margret Köhler

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Bei der „Berlinale“ zeigte sich eine neue Emotionalität des Kurzfilms, bei der Aktion „Deutscher Kurzfilmpreis unter­ wegs“ glänzen vor allem die Altmeister. Eine Bestandsaufnahme. Von Andrea Dittgen

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln rückt Filmemacherinnen aus der Türkei in den Fokus, deren Werke eine Gesell­ schaft im Wandel porträtieren. Ein Überblick über die wichtigsten Filme. Von Bernd Buder

[29.3. RBB FERNSEHEN] [5.4. ZDF] [10.4. 3SAT]

Spider-Man 2 31.3. kabeleins Mammuth 2.4. BR FERNSEHEN Planet der Affen: Prevolution 6.4. ProSieben

KurZFILMe

TÜrKISCHe reGISSeurINNeN

Die Kleinen bleiben auf der strecke Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die „Independent Spirit Awards“, bei denen echte „Independents“ mittlerweile kaum noch eine Chance auf Gewinne haben (S. 27).

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Neue Filme

Film-Kunst 28

STANLeY DoNeN Mit ausgeklügelten Musicals und char­ manten Komödien war der Regisseur in den 1950er­ und 1960er­Jahre ein Groß­ meister des Hollywood­Kinos. Eine Hommage zum 90. Geburtstag. Von Nils Daniel Peiler

+ ALLe STArTTerMINe

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A Long Way Down [3.4.] Antboy [27.3.] Auge um Auge [3.4.] Banklady [27.3.] Bizum Hoca - Unser Hoscha [13.3.] Carne de Perro - Hundefleisch [3.4.] Deine Schönheit ist nichts wert [3.4.] Deutschboden [27.3.] Endless Love [27.3.] Her [27.3.] Love Steaks [27.3.] Molière auf dem Fahrrad [3.4.] My Sweet Pepper Land [27.3.] Need for Speed [20.3.] Noah [3.4.] Nymphomaniac 2 [3.4.] Population Boom [27.3.] Sadece Sen [13.3.] Snowpiercer [3.4.]

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Fotos: TITEL: Majestic. S. 4/5: Warner Bros., FD­Archiv, Fugu, W­Film, barnsteiner, daredo media.

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s. DeuTSCHBoDeN

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MAGISCHe MoMeNTe Als 25­Jähriger porträtierte Orson Welles in seinem grandiosen Debüt „Citizen Kane“ einen egomanen Zei­ tungstycoon. Die Geburtsstunde des modernen Medienrummels. Von Rainer Gansera

unverhoffte Begegnungen stehen in aktuellen Kinofilmen im zentrum: in „Deutschboden“ innerhalb einer ostdeutschen gemeinschaft, in „Deine schönheit ist nichts wert“ zwischen einem jungen Kurden und einer mitschülerin, in „love steaks“ zwischen einem schüchternen Physiotherapeuten und einer burschikosen Köchin.

s. DeINe SCHÖNHeIT IST NICHTS WerT

kinotipp der katholischen Filmkritik

44 Stories We Tell [27.3.] Dokumentarfilm von Sarah Polley

43 Sunny Days [3.4.] 47 Sürgün Inek [6.3.] 38 The Return of the First Avenger [27.3.] 47 Union fürs Leben [3.4.] 47 Veronica Mars [13.3.] 46 Westen [27.3.] 36 Zwischen Welten [27.3.]

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s. LoVe STeAKS

ruBrIKeN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood DVD-Perlen Vorschau Impressum

Kritiken und Anregungen?

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SPRECHENDE MASCHINEN IM KINO: (K)EINE LIEBESGESCHICHTE Der Bordcomputer hal in stanley Kubricks Klassiker „2001 – odyssee im weltraum“ täuschte mit seiner stimme eine menschlichkeit vor, die er als gnadenlos kalkulierende rechenmaschine gar nicht besaß. er und viele andere sprachbegabte apparate der filmgeschichte sind manifestationen der angst vor einer technologie, die den menschen überflügelt und überflüssig macht. spike Jonze weicht in seinem aktuellen film „her“ dagegen die fronten zwischen mensch und technik auf; im lauf des films entwickelt sich eine „unmögliche“ romanze zwischen einem mann und einer computerstimme. über den Dialog von mensch und technik im Kino. 10

Von Marius Nobach

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Maschinenstimmen „20 10

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„Samantha“, das bedeutet: „Die Zuhörende“. Schon der Name ist ein Versprechen. Darauf, dass die warme weibliche Stimme, die über das Smart­ phone oder einen Ohr­Empfänger zu Theodore spricht, dem introver­ tierten Mann helfen wird, seine Gefühle offener formulieren zu gegenüber Frauen offener können. Dass die Beziehung, von der Spike Jonzes skurrile Romanze „Her“ handelt, dabei eine zwischen einem Menschen und einem intelligenten Computerprogramm ist und Theodores Seelenfreundin „nur“ die Stimme einer Frau hat, empfindet dieser eher als Vorteil: Die Körperlosigkeit seiner Gesprächspartnerin lässt ihn selbstsicherer wirken. Seine Gehemmtheit gegenüber Frauen drängt sich einmal nicht in den Vordergrund. Es liegt nahe, „Her“ zuallererst als Zukunftsfantasie zu verste­ hen, mit der die zunehmende Verlagerung des Liebesdialogs in digitale Sphären auf charmante Weise weitergedacht wird. Unterschwellig bietet der Film aber auch eine profunde Aus­ einandersetzung mit der Rolle, die der menschlichen Stimme

im Kino generell zukommt. Wenn der Protagonist durch die Kommunikation mit der Computerstimme seine mentale Krise überwindet, dann vollführt er damit einen Prozess der Orien­ tierung, den auch der Zuschauer wieder und wieder durch­ läuft: Das Auftreten einer oder mehrerer Stimmen erlaubt es ihm, sich in der filmischen Welt zurechtzufinden und ein beruhigendes Gefühl der Vertrautheit zu entwickeln. Dieser nur scheinbar banale Vorgang ist wichtig für die Popu­ larität des „sprechenden“ Kinos. Diese große Bedeutung lässt sich auch daran absehen, dass es im Wesentlichen der Ein­ satz der menschlichen Stimme war, mit dem in den 1920er­ Jahren die Wachablösung vom Stumm­ zum Tonfilm gelang: Der Durchbruch des Tonfilms wird gemeinhin mit „The Jazz Singer“ (1927) verbunden, dessen Attraktion die Gesangs­ künste seines Stars Al Jolson waren. Doch nicht die musika­ lischen Passagen (Vergleichbares hatte es bereits davor gegeben), sondern die wenigen Szenen, in denen die Figuren Dialoge sprechen, verleihen dem Film seinen (film­)histo­ rischen Status. Darunter fällt auch Jolsons berühmtes „Sie haben ja noch gar nichts gehört“, das im Rückblick wie eine Einladung erscheint, das Publikum dezidiert über die Sprache (und nicht über eine Musik­ oder Geräuschkulisse) an die neue Form des Films heranzuführen. >

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„200 1“

DIALOG aus „2001“ Dave Bowman: „Öffne das Gondel-Schleusentor, HAL!“ HAL: „Es tut mir leid, Dave. Aber das kann ich nicht tun.“ Dave: „Wo liegt das Problem?“ HAL: „Ich glaube, du weißt ebenso gut wie ich, wo das Problem liegt.“ Dave: „Wovon redest du überhaupt?“ HAL: „Das Unternehmen ist zu wichtig, als dass ich dir erlauben dürfte, es zu gefährden.“

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Tonfilm ist damit von Anfang an „Sprechfilm“, auch wenn die filmische Präsenz von Stimmen zunächst auf Skepsis stieß. Heute hingegen ist es selten, dass ihr Einsatz überhaupt als etwas Besonderes wahrgenommen wird. Am ehesten geschieht dies noch, wenn es sich um die Off­Stimme eines Erzählers handelt, der dem Zuschauer die fiktionale Welt, die er zu sehen bekommt, erklärt oder deutet. Doch auch die Filmcharaktere nehmen mitunter Stimmen wahr, die losgelöst von menschlichen Körpern erscheinen. In solchen Fällen ist ihre orientierende Funktion weniger selbstverständlich. Für die Figuren kann dies im Extremfall sogar den Sturz in angst­ besetzte Gegenwelten nach sich ziehen. Psycho­Thriller und Horrorfilme haben diese Verunsicherungsmechanismen mit dem Motiv des „Stimmenhörens“ ebenso zur Blüte gebracht wie mit der Vermittlung bedrohlicher Botschaften via Telefon oder anderer Tonträger. Einem ähnlichen Phänomen der Figurenverwirrung begegnet man bei Science­Fiction­Filmen, in denen sprachfähige Maschinen vorkommen. Der Blick der Filmfiguren auf diese anthropomorphisierte Technik setzt widersprüchliche Gefühle frei: Einerseits ist da die „entmenschlichte“ Technik, die droht, den Menschen überflüssig zu machen; andererseits verheißt ihr Können eine bessere Zukunft. Wobei die Bedrohung nicht immer sogleich empfunden wird. So haben Androiden und Roboter durch ihre relativ große Menschenähnlichkeit von Vornherein bessere Karten als Computer, die keinen mensch­ lichen Körper besitzen, sondern nur eine Art unbeweglichen Korpus. Nur mit Hilfe der Stimme können sie ihre unheimliche Aura abstreifen – was in der Kinogeschichte aber selten so harmonische Ergebnisse bewirkt hat wie die zarten Bande zwischen Theodore und Samantha in „Her“.

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Stammvater aller eloquenten Computer ist fraglos HAL 9000 aus Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. HAL wird offiziell als sechstes Besatzungsmitglied des Raum­ schiffs „Discovery One“ eingestuft und erweckt durch seine sprachlichen Fähigkeiten den Eindruck, menschliche Emoti­ onen zu besitzen. Das aber erweist sich als gefährliche Täu­ schung, als der Computer Bedenken an der Mission anmeldet und realisiert, dass die Astronauten seine Abschaltung erwä­ gen. HALs Reaktion findet zuerst auf der sprachlichen Ebene statt: Er verlegt sich aufs „Schweigen“ und trifft Maßnahmen, die fast alle Crew­Mitglieder mit dem Leben bezahlen. Dem letzten Überlebenden Dave Bowman gelingt es schließlich, in HALs Gedächtniszentrum einzudringen und seine Speicher­ einheiten zu deaktivieren. Bezeichnenderweise wird auch der Verlust an Lebenskraft als Verlust der Sprache markiert: HAL klingt immer undeutlicher und beherrscht zuletzt nur noch den Text eines Kinderlieds, bevor er ganz verstummt. Intelligente Maschinen müssen nicht böse sein

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Die Schreckensvision eines machtlüsternen Elektronengehirns wird in Kubricks Klassiker gerade noch einmal abgewendet. Die Nachfolgefilme der 1970er­Jahre hingegen übertragen die Paranoia der Ära aus Kaltem Krieg, Terrorismus und Watergate auf die undurchschaubaren Ausgeburten der modernen Technik. So übernehmen in „Colossus“ (1970) ein amerikanischer Supercomputer und sein sowjetisches Pen­ dant die Kontrolle über die Welt. In der filmischen Vergewalti­ gungsfantasie „Des Teufels Saat“ (1977) bringt ein Computer das Haus und die Ehefrau seines abwesenden Meisters in seine Gewalt und schwängert die Frau, um durch das gemein­ same Kind sein Erbgut weiterzugeben. In beiden Fällen macht der gleichmütige, völlig emotionslose Tonfall der hin­

Fotos: Warner Home/Warner Bros./Walt Disney/Universal

Die Technik droht, den Menschen überflüssig zu machen

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„Her“

DIALOG aus „Her“ Samantha: „Hältst du mich für seltsam?“ Theodore: „Ein wenig.“ Samantha: „Warum?“ Theodore: „Nun, du wirkst wie ein Mensch, aber du bist nur eine Stimme in einem Computer.“ Samantha: „Ich kann verstehen, dass die begrenzte Perspektive eines nicht-künstlichen Wesens es so sieht. Du gewöhnst dich dran.“

terhältigen Maschinen ihren Verrat bereits absehbar. Ähnlich unbeeindruckt von menschlichen Schicksalen zeigen sich der Raumschiffcomputer in „Alien“ (1979), der mit autoritärer Stimme jede Kommunikation unterdrückt und von der Besat­ zung nicht umsonst von „MU­TH­UR 6000“ in „Mutter“ umgetauft wird, sowie das Master Control Program in „Tron“ (1982), das im Dialog mit seinem menschlichen Schöpfer die größere kriminelle Energie offenbart. Erst im Laufe der 1980er­Jahre, als man sich allmählich an die neue Technik gewöhnt hatte, wird im Kino eine echte Interak­ tion zwischen Mensch und Computer möglich. Der sprachfä­ hige Computer Joshua (vom Erfinder nach seinem Sohn benannt, ein elektronisches Ersatzkind für den verstorbenen menschlichen Sprössling), der in „War Games“ (1983) bei­ nahe einen weltweiten Atomkrieg auslöst, bricht den geplanten Angriff ab, als ihm das Wissen über die katastro­ phalen Folgen nachgereicht wird. Indem er in der Schluss­ szene offen ausspricht, was er als sinnlose Aktion erkannt hat, löst er die Spannung, die er durch ein langes Schweigen auf­ gebaut hat. Die Aussage des Films, dass intelligente Maschinen nicht böse sein müssen, prägt ihre Kinoauftritte von da an. Und das bis in die heutige Zeit – wenn sie nicht ohnehin dem Guten dienen, wie etwa der treue Computer­Butler Jarvis in „Iron Man“ (2008) oder die Autobots in der „Transformers“-Reihe (ab 2007). In diesen Filmen sprechen Mensch und Maschine tatsächlich die gleiche Sprache und finden dadurch auch einen Weg der kooperativen Koexistenz im Kampf gegen das Verbrechen oder Bedrohungen aus dem Weltraum. Generell zeigt sich in den letzten Jahren im Kino der Trend zum emotionaleren Umgang von Mensch und intelligenter Technik, auch da, wo beide auf unterschiedlichen Seiten ste­ hen. So verfügen die HAL­Ableger Icarus II in „Sunshine“

(2007) oder GERTY in „Moon“ (2009) über wesentlich viel­ seitigere Sprachapparate als ihr Vorbild. GERTY zeigt zudem mit Smileys unterschiedliche Gefühlslagen an. Monoton und verzerrt klingt hingegen das Autopilotensystem in „Wall-E“ (2008), das stur die einmal eingespeiste Linie weiterfährt, auch gegen den ausdrücklichen Befehl der Menschen. Die können sich aber immerhin auf das Roboter­Liebespaar EVE und WALL­E verlassen, das nebenbei demonstriert, dass Stimmen auch Vertrauen erwecken können, wenn nur rudi­ mentäre Sprachkenntnisse vorhanden sind: EVE beherrscht lediglich ein paar Worte, WALL­E sogar nur zwei – seinen eigenen Namen und den seiner Auserkorenen, den er aller­ dings auf erstaunlich vielseitige Weise aussprechen kann. Auch Computer brauchen die menschliche Stimme

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Oft bleibt der Mensch freilich weiterhin auf sich gestellt, wenn die Technik sich zur Bedrohung auswächst: Die Ohnmacht, den Machtbereich der Computer erfassen zu können, ist in Zeiten allgegenwärtiger Überwachung wieder zum filmischen Thema geworden, und damit auch HALs starres rotes Auge mit der gelben Pupille und seine Kommunikationsverweige­ rung: Im Thriller „Eagle Eye“ (2008) mutiert ein Computer zum elektronischen Terroristen, der die amerikanische Regie­ rung stürzen will, und setzt nach Belieben jedes technische Gerät für seine Zwecke ein – seine Anweisungen erteilt er im Pluralis Majestatis. Die Stimme ist hier ausnahmsweise weib­ lich, ebenso wie in der Science­Fiction­Dystopie „Oblivion“ (2012), in der die geschrumpfte Erdbevölkerung von dem Raumschiffcomputer Sally unterdrückt wird, die einen Got­ teskomplex entwickelt hat. Der wird ihr aber gründlich ausge­ trieben, so wie die Menschen fast immer den Sieg über die bösen Maschinen davontragen, wenn diese nicht sogar

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„Her“

SPIKE JONZE über die Idee zu „Her“ „Ich kam durch einen Link auf eine Website, wo ich mit einer künstlichen Intelligenz sprechen konnte. Die ersten 20 Sekunden war es aufregend. Ich sagte ‚Hey, hallo‘ und es antwortete ‚Hey, wie geht’s dir?‘, und ich dachte nur: Das ist schräg. Nach 20 Sekunden fiel es aber recht schnell zusammen, als ich begriff, wie es tatsächlich funktionierte, und alles in allem war es nicht sehr beeindruckend. Aber diese 20 Sekunden lang war es wirklich spannend. Je mehr man zu ihm sprach, umso klüger wurde es.“

Abbitte für ihre Fehlfunktion leisten. Auch der wieder hoch­ gefahrene HAL opfert sich in Peter Hyams’ Fortsetzungsver­ such „2010 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“ (1984) für die Crew, nachdem ihm erklärt worden ist, dass die Mission nur dadurch zu Ende gebracht werden kann. In einer bemerkenswerten Umkehrung der Konstellation aus Kubricks Film erscheint HAL die Stimme des zum körperlosen Wesen mutierten Dave Bowman, die dem Computer Trost zuspricht, als er seine Angst gesteht. Die Vorstellung, dass auch Computer eine menschliche Stimme brauchen, um sich in der Welt orientieren zu können, entmythologisiert die Technik und holt sie von ihrer ange­ maßten Gottgleichheit wieder in die menschliche Sphäre

hal9000 Eigentlich: „heuristically programmed algorithmic computer“. Stanley Kubrick und der Autor Arthur C. Clarke bestritten stets, mit dem dreibuchstabigen Namen auf IBM (die jeweils nächsten Buchstaben im Alphabet!) angespielt zu haben. Das Elektronengehirn gehört zur „Serie 9000“, deren Vertretern noch nie ein Denkfehler unterlaufen ist – HAL bezieht daraus eine enorme Selbstsicherheit. Seine genauen Ausmaße bleiben ungenannt, vieles spricht dafür, dass die Reichweite des Computers deckungsgleich mit dem Raumschiff ist. Stilbildend ist sein Sensor, der wie ein großes rotes Auge wirkt. Gesprochen wird HAL sowohl in „2001“ als auch in „2010“ von dem Kanadier Douglas Rain.

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master control Program (mcP) Der elektronische Schurke aus Steven Lisbergers „Tron“ ist von dem Programmierer Dillinger kreiert worden, hat diesen jedoch sowohl an intellektueller als auch an krimineller Energie überholt. Die Erscheinungsformen des MCP sind ein in geometrische Formen aufgelöstes Pixelgesicht und ein rotglühender Kreisel, zudem hat es sich das eigene Programm „Sark“ als Helfershelfer erschaffen. Machtbesessen und skrupellos setzt es sich über die geltenden Hierarchien hinweg und entführt einen „User“, indem es ihn in seine Bestandteile auflöst und ihn in der Computerwelt neu zusammensetzt. Das MCP, Sark und Dillinger werden alle von dem Briten David Warner verkörpert.

herunter. Auch Spike Jonzes „Her“ operiert mit gegenseitiger Abhängigkeit: Tatsächlich ist es Samantha, die immer tiefere Gefühle entwickelt und zusehends mit einer Beziehung hadert, die über die sprachliche Ebene nicht hinausgelangt. Erst der Gedanke an ihren Verlust, als sie minutenlang nicht reagiert, weckt auch beim schlagartig wieder hilflos wer­ denden Theodore das Bedürfnis nach einer tiefergehenden Bindung. Wirklich zusammen kommen Mensch und Computer aber auch in dieser Utopie nicht: Zuletzt erweist sich eine zwischen­ menschliche Beziehung, bei der die Beteiligten einander vor Augen haben, doch als haltbarer als das unverändert ambi­ valente Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. •

ariia Der Computer, mit vollem Namen „Autonomous Reconnaissance Intelligence Integration Analyst“, wird in „Eagle Eye“ von Julianne Moore gesprochen. ARIIA arbeitet für das Pentagon, ihr gewaltiger Korpus ähnelt einem Bienenstock. Ihre Macht über elektronische Geräte scheint unbegrenzt: Züge, Ampeln und Kräne gehorchen ihrem Willen ebenso wie sie sich in jedes Computer- und Handynetz einklinken kann. Skrupellos bedient sie sich der Menschen, Widerspruch wird unnachgiebig geahndet. Ihre Ziele sind patriotisch: Sie will die herrschende US-Regierung eliminieren, die das Land im Kampf gegen den Terror in Gefahr gebracht hat. Den Fortbestand der menschlichen Herrschaft erkennt sie jedoch an.

sallY In „Oblivion“ agiert die von Melissa Leo verkörperte Oberbefehlshaberin von der Raumstation „Tet“ aus über die wenigen menschlichen Überlebenden, die nach einem Krieg mit Außerirdischen auf der entvölkerten Erde ihren Dienst tun. Sally gibt sich als freundlich-professionelle Vorgesetzte, hat mit einer Armee von Drohnen aber nichts weniger als die Unterjochung der Menschheit im Sinn. Sie erweist sich schließlich als pyramidenartiger Computer, der nur den Namen, die Stimme und das Abbild einer Astronautin verwendet, die er einst absorbiert hat. Ihre Fähigkeiten sind erstaunlich und beinhalten das Erschaffen von menschlichen Klonen, die sich selbst für echte Menschen halten.

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Snowpiercer

Science-Fiction aus Südkorea

[Start 3.4.]

FILM DIeNST

Noah

Biblisches Hollywood-Drama

[Start 3.4.]

Neu IM KINo: FILMKrITIKeN

Auge um Auge

Nymphomaniac - Teil 2

Ein Rachefilm

Eine Lebensbeichte

[Start 3.4.]

[Start 3.4.]

Her von Spike Jonze [start 27.3.] Stories We Tell von Sarah Polley [start 27.3.] Westen von Christian Schwochow [start 27.3.]

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herausragend, ein meisterwerk sehr gut, ambitioniert, lohnenswert solide und interessant wenig aufregend, mittelmaß verschenkt, enttäuschend ärgerlich, anstößig, eine Zumutung

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Noah Die Sintflut als Strafgericht tain“ , überbordende, wilde, mitun­ Bei genauerem Nachdenken verter psychodelische Bilder für innere wundert es, dass die Geschichte Erlebnisse wie in „Requiem for a von Noah bislang noch nie verfilmt Dream“ , ein Held, der seine besten wurde. Im Gedächtnis bleibt nur Tage schon hinter sich hat und ein John Hustons Auftritt im von ihm bisschen aus der Zeit gefallen zu selbst inszenierten episodischen sein scheint wie in „The Wrestler“, Monumentalfilm „Die Bibel“ (1966). eine esoterisch grundierte, sture Die Lücke überrascht, da der bi­ blische Stoff doch nahezu alles Paranoia wie in „Pi“ oder „Black bietet, was das große Publikum Swan“ – eigentlich passt „Noah“ anspricht: Schauwerte, ein apoka­ recht gut zu Aronofsky, der stärker lyptischer Weltuntergang, eine inhaltlich orientiert ist als stilistisch starke Heldenfigur und eine klare und der in seiner Arbeit eine Ernst­ haftigkeit und Detailbesessenheit moralische Botschaft. Einzige Wer­ mutstropfen: Der Ausgang der an den Tag legt, die aktuell in Holly­ wood sehr ungewöhnlich ist. Geschichte ist bekannt, und das Das Ergebnis kann trotz aller An­ Figurenpersonal ist weitaus be­ strengung allenfalls teilweise über­ grenzter als im ähnlich gelagerten zeugen. Die große Stärke von Fall der Geschichte der „Titanic“. Dies mögen auch die Überlegungen „Noah“ liegt in seiner Bilderkraft. Die von Darren Aronofsky gewesen sein, klotzige, in ihrer Form so gar nicht einem Schiff, sondern eher einem der die Geschichte von Noah und Riesencontainer ähnelnde Arche der Arche angeblich schon seit auf einem Ozean ohne Küsten prägt seinem Filmstudium verfilmen sich ebenso ein wie göttliche Wun­ wollte. Auch wenn ein monumen­ der, bei denen eine Wüste in Sekun­ taler Kostümfilm aus vorgeschicht­ den in einen blühenden Regenwald licher Zeit auf den ersten Blick verwandelt wird, oder das viele kaum eine naheliegende Wahl für diesen Regisseur gewesen sein mag, Minuten dauernde Anschwellen der Sintflut. Ohne die Mittel und den fügt sich der fertige Film doch exzessiven Gebrauch modernster überraschend gut in dessen bishe­ riges Werk: Ein zeitloser kosmischer Computertechniken wäre dieser Schöpfungsmythos wie „The Foun­ Film nicht möglich. Damit er nicht

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nach wenigen Minuten vorüber ist, dehnt die Handlung die biblische Vorlage aus und widmet sich aus­ führlich ihrer Vorgeschichte: Noahs Abstammung von Set, dem dritten, besonders gottesfürchtigen Sohn Adam und Evas, wird vergleichswei­ se schnell und konventionell erzählt; wenn die Noah­Figur jedoch psy­ chologisiert und dessen „Urerleb­ nis“, die Ermordung seines Vaters durch die Nachkommen von Kain, geschildert wird, begibt sich das Drehbuch auf unbekanntes, speku­ latives Gelände: Aronofsky erwei­ tert die biblische Handlung, indem er sie modernisiert, interpretiert und umschreibt. So ersinnt er einen über Generationen währenden Grundkonflikt zwischen dem „Stamm Kains“, der sündhaft lebt, was sich vor allem darin zeigt, dass dessen Angehörige Jäger und Fleischesser sind. Die unschuldigen Nachfahren Sets sind hingegen gottesfürchtige Sammler, Pazifisten und Vegetarier. Mehrfach erklärt Noah seinen etwas Überzeugungs­ arbeit brauchenden Söhnen, dass sie die Blumen doch stehen lassen sollen, schließlich seien auch diese Geschöpfe Gottes: „Wir sammeln nur, was wir brauchen.“ Aronofsky grundiert die vorge­ schichtliche Handlung mit überaus aktuellen politischen Botschaften: Vegetarismus und ökologischer

Puritanismus sind die zentralen Gebote des Films. Eine als Liebe zu Natur und zum Ursprünglichen verbrämte Stadtfeindschaft („Vor uns liegen Städte. Davon halten wir uns fern.“) und ein grundsätzlicher Kulturpessimismus durchziehen den Film, der Partei fürs Primitive er­ greift und mit der Sintflut sympathi­ siert, die als moralischer Säube­ rungsakt verstanden wird: Wer sündigt, sagt er echt unverblümt, hat den Tod verdient. Selbst die Technik ist nicht Noahs Sache. Dass er die Arche dennoch bauen und schwimmfähig machen kann, ver­ dankt er der übermenschlichen Hilfe der „Wächter“. Diese Gestalten entlehnt Aronofsky aus den Apo­ kryphen: gefallene Engel, deren Rebellion gegen Gott bestraft wird. Der Gipfel von Aronofskys „Um­ schreibung“ der Noah­Geschichte ist jedoch dessen Plan zur Ausrot­ tung der Menschheit, die in seinen Augen dem Planeten genug Unheil angetan hat. Auch wenn in der Bibel noch von den „Frauen seiner Söhne“ die Rede ist, gibt es deren hier nur eine – die von Noah be­ wusst wegen ihrer Unfruchtbarkeit gewählte Ila. „Wir werden unsere Aufgabe erfüllen, und dann ster­ ben“, lautet Noahs Plan; und als Ila durch eine Art göttliches Wunder Zwillinge gebiert, will er diese töten. Die Achtung vor der Natur paart

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im Kino sich in dieser Filmfigur mit einem gewalttätigen moralischen Rigoris­ mus. Aronofskys „Noah“ ist ein über weite Strecken moralisierender Film, der eine ästhetisch wie ethisch schwer erträgliche Heldenfigur präsentiert: einen Rechthaber, Kon­ trollfreak und harten Übervater, der Frau und Kinder kommandiert, sich in der Art eines Sektenführers in jeden Lebensbereich seiner Mit­ menschen einmischt und dessen Dialogsätze wie eine fundamentali­ stische Predigt klingen: „Die Zeit der Sünde ist vorbei. Nun kommt die Zeit der Bestrafung.“ Unterlegt mit Musik, die ethnopluralistisch und kosmisch klingen soll, entfaltet sich ein gänzlich humorfreier Film erzählt, der, immerhin, eindrucks­ volle Bilder bietet. Rüdiger Suchsland Bewertung Der filmKommission

Noah will im Auftrag Gottes eine Arche bauen, um darauf die Tiere vor einer drohenden Sintflut in Sicherheit zu bringen. Die Menschheit soll hingegen ausgelöscht werden, weil sie der Sünde verfallen ist und den Planeten zerstört. Insbesondere gilt es, die Nachfahren Kains, die alten Feinde von Noahs Sippe, zu eliminieren. Der Film beeindruckt durch seine Bildgewalt, deutet die biblische Geschichte aber psychologisch spekulativ aus, indem er sie mit aktuellen politischen Botschaften wie Vegetarismus sowie einem ökologischen Puritanismus verbindet. Noah erscheint dabei als herrische, schwer erträgliche Heldenfigur. – Ab 14.

USA 2014 regie: Darren Aronofsky Darsteller: Russell Crowe (Noah), Emma Watson (Ila), Jennifer Connelly (Naameh), Anthony Hopkins (Methuselah), Ray Winstone (Tubal Cain), Nick Nolte länge: 138 Min. | fsK: ab 12; f Verleih: Paramount | Kinostart: 3.4.2014 fD-Kritik: 42 269

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Nymphomaniac – Teil 2 Aus dem Leben einer Sex-Süchtigen „Nymphomaniac – Teil 1“ endete mit Joes Feststellung, dass sie beim Sex nichts mehr fühle. Das ist ein clever gesetzter Cliffhanger des in der Ori­ ginalfassung über fünf Stunden lan­ gen Films von Lars von Trier, der nun auf zwei Teile von jeweils rund zwei Stunden zurechtgestutzt ins Kino kommt. Joes Erkenntnis ist der „tur­ ning point“ des Films, dessen ersten Teil kein herber Porno, sondern ein feinfühliges Psychodrama ist. Es ist auch der Wendepunkt in Joes Biografie, die ihr Leben bis dahin als abenteuerlichen Ritt auf den Wellen sexueller Erregung empfand. Mitten im fünften der acht Kapitel endet der erste Teil, just hier setzt „Nyphoma­ niac ­ Teil 2“ wieder ein. Joe liegt nach wie vor im Bett. Seligman sitzt auf einem Stuhl daneben. Ihm hatte Joe ihre Geschichte erzählt, von Kind­ heit und Jugend, ihrer Zuneigung zu ihrem Vater, der Entdeckung von Ge­ schlechtlichkeit und Libido sowie ih­ ren wilden jungen Jahren. Seligman kommentierte diese Äußerungen mit assoziativen Bemerkungen zu Kunst, Literatur, Musik und Religion, womit er ihnen den vermeintlich unmora­ lischen Stachel zog und Joes persön­ liche Geschichte in die große der Menschheit einbettete. Noch einmal blendet „Nymphoma­ niac“ zurück. Während eines Schul­ ausflugs liegt die zwölfjährige Joe abseits ihrer Kameraden auf einer Wiese. Sie staunt zum Himmel hoch und erlebt eine verzückende Vision der Gottesmutter. Die Ärzte aber di­ agnostizieren einen epileptischen Anfall. Für Seligman ist klar, dass Joe nicht die Madonna, sondern Valeria Messalina und die Hure Babylon er­ schienen sind. Wie so oft rückt Selig­ mans Kommentar Joes Erzählung in ein anderes Licht. Diesmal aber irri­ tiert sie dies so sehr, dass sie Selig­ man fragt, warum er auf ihre Erzäh­ lung so erregungslos reagiere. Er sei asexuell, antwortet Seligman. Das

klärt und verkehrt die Positionen der zwei Protagonisten und verpasst ih­ rer Begegnung fortan die Kompo­ nenten des ewigen Kräfteringens von weiblicher Verführung und männ­ lichem Widerstand. Damit ändert sich die Tonalität des Films. Er wird aggressiver, und Joes Erzählung der­ ber. Das hat aber auch mit dem Le­ bensalter der Protagonistin zu tun. Denn fortan ist Joe (nun von Charlot­ te Gainsbourg gespielt) erwachsen. Sie wird Mutter, lässt um ihrer Lust willen aber den Sohn im Stich. Sie habe ihm jahrelang Geld überwiesen, ihn aber nie wiedergesehen, gesteht sie Seligman. Es sind nicht Joes zunehmend per­ verse Sexpraktiken und –erlebnisse, ihre sadomasochistische Beziehung mit K. oder ihr Abrutschen in die Un­ terwelt, sondern der Umstand, dass sie dafür ihre Gefühle sowie Sohn und Gatten verrät, die „Nymphoma­ nic ­ Teil 2“ zum erschütternden Er­ lebnis machen: Joe ist unübersehbar eine Seelenverwandte der dysfunkti­ onalen Mutter aus „Antichrist“ oder der gefühlsgestörten Protagonistin aus „Melancholia“ – und „Nympho­ maniac“ somit der meisterhafte Ab­ schluss der von Trierschen Trilogie zur Depression. Zumindest in der Kinofassung ver­ passt von Trier dem Film mit einer un­ erwarteten Wendung in letzter Se­ kunde ein entsetzliches Ende. Kann sein, dass dies in der ungekürzten Version weniger abrupt ausfällt. Im Gegensatz zum ersten Teil wird man bei der Kinoversion von „Nymphoma­ niac – Teil 2“ den Eindruck nicht los, permanent Wichtiges zu verpassen. Die sich darin andeutenden Lücken sind mehr als schmerzlich bei einem Werk, das man liebend gern in der ungekürzten Länge gesehen und dann vielleicht doch etwas anders be­ urteilen hätte, als dies auf der Grund­ lage dieser Softversion möglich ist. Irene Genhart

Bewertung Der filmKommission

Zweiter Teil der Kinofassung von Lars von Triers weit ausholender Lebensbeichte einer der Sexsucht verfallenden Frau, der eine optisch und sprachlich deutlich härtere Gangart anschlägt. Die Kapitel fünf bis acht kreisen um perversere Sexpraktiken und -erlebnisse und verkehren das interpretierende Zwiegespräch der Protagonistin mit einem älteren Mann in einen erbitterten Zweikampf der Geschlechter. Der meisterhafte Abschluss von Lars von Triers „Trilogie der Depression“ leidet spürbar unter den Kürzungen für die Kinoauswertung, was eine Gesamtwürdigung des monströsen Films schwer macht.

Scope. Dänemark/Deutschland 2013 regie, Buch: Lars von Trier Kamera: Manuel Alberto Claro schnitt: Morten Hojbjerg, M. Stensgaard Darsteller: Charlotte Gainsbourg (Joe), Stellan Skarsgård (Seligman), Stacy Martin (Joe), Willem Dafoe (L), Mia Goth (P), Michael Pas (Jerome), Jean-Marc Barr länge: 124 Min. | fsK: ab 16; f Verleih: Concorde | Kinostart: 3.4.2014 fD-Kritik: 42 270

Filmdienst 7 | 2014

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