Filmdienst 07 2015

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Das Magazin für Kino und Filmkultur

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Höchst bewegend schildert das Drama das Schicksal von Georg elser, dessen Attentat auf Adolf Hitler um Minuten scheiterte. Das fazit von Autor und Produzent fred Breinersdorfer im Interview: »elser hätte die Welt völlig verändert.«

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2. April 2015 € 5,50 68. Jahrgang

DEUT S CH E S G EN REK IN O

e l s e r

Krimi, Horror und Science fiction aus Deutschland? Hierzulande gelten eigene Gesetze und lesarten.

JACQU E S TATI

Hymne auf den französischen Regisseur und Schauspieler, der mit Monsieur Hulot eine Kino-Ikone schuf.

www.filmdienst.de www.fi lmdienst.de

L AU REL & H A R DY

DIenST

Das legendäre Komiker-Duo und die frauen: Ihre amüsanten Meisterstücke sind stets auch Verhaltensstudien einer epoche.

fIlM

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filmdienst 07 | 2015 kinotipp

der katholischen Filmkritik

42 elser

28 laurel & hardy und die frauen

Eindringliches, differenziert entwickeltes Drama über Hitler­Attentäter Georg Elser.

neu im kino

51 42 38 47 46 49 47 43 39 49 37 49 47 51 40 51 50 44 45 49

ALLE STArTTErMInE art girls 9.4. baden-württemberg von oben 26.3. best exotic Marigold hotel 2 2.4. die bestimmung – insurgent 19.3. das blaue Zimmer 2.4. cobain: Montage of heck 9.4. die coopers – schlimmer geht immer 9.4. domino effekt 9.4. elser 9.4. every thing will be fine 2.4. das f-wort - von wegen gute freunde! 9.4. frequencies 9.4. gespensterjäger 2.4. grigris’ glück 9.4. halbe brüder 9.4. home – ein smektakulärer trip 26.3. in meinem kopf ein universum 9.4. der kleine tod. eine komödie über sex 9.4. Mara und der feuerbringer 2.4. der nanny 26.3. die neue wildnis 9.4. nirgendland 2.4. selam: bahara yolculuk 19.3. straub 2.4. szenario 9.4. warte, bis es dunkel wird 9.4. winnetous sohn 9.4.

23 Josef hader

fernseh-tipps 56 ard alpha startet eine reihe mit systemkritischen filmen aus der ddr, die von der SED­Führung als »besonders schäd­ lich« verboten wurden. Zudem gedenken die Sender dem 70. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald. Und ehren den Cineasten Werner Schroeter.

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27 e-mail aus hollywood

Fotos: TITEL: nfp. S. 4/5: nfp, StudioCanal, Majestic, Senator, Salzgeber, Studio Hamburg.

+ 50 51 41 49 36 50 48

16 banlieue-filme 25.03.15 16:56


inhalt kino

akteure

filmkunst

10 deutsches genrekino

24 tom schilling

32 Jacques tati

10 DEUTSCHES GENREKINO

20 FRED BREINERSDORFER

27 E-MAIL AUS HOLLywOOD

Von Marcus Seibert

Von Rüdiger Suchsland

Von Franz Everschor

16 BANLIEUE-FILME

23 jOSEF HADER

28 LAUREL & HARDy UND DIE FRAUEN

Die Debatte um deutsche Genrefilme reißt nicht ab. Schlagworte helfen nur wenig, weil die Grenzen zwischen Genre­ und Arthouse­Filmen oft fließend sind. Die Bestandsaufnahme des aktuell sehr vielfältigen deutschen Genrekinos.

Vor 20 Jahren definierte Mathieu Kassovitz mit »Hass« den Blick des Kinos auf die französischen »Banlieues«. Die ne­ gativsicht hat sich mittlerweile stark ausdifferenziert. Eine Umschau unter aktuellen Beispielen. Von Marguerite Seidel

Der Produzent und Drehbuchautor zeichnet mit der Filmbiografie »Elser« ein differen­ ziertes Porträt des Hitler­Attentäters. Ein Gespräch über die schwierige Entwicklung des Films, Wände des Schweigens und den Abgrund der Möglichkeiten.

In der Wolf­Haas­Verfilmung »Das ewige Leben« spielt der österreichische Darsteller und Kabarettist aktuell zum vierten Mal den Privatdetektiv Brenner. Ein Gespräch über brüchige Helden, kantenlose Politiker und eigene regiepläne.

Das legendäre Komikerduo rieb sich in seinen Filmen nicht allein aneinander auf, sondern war überdies oft mit herrischen Ehefrauen geschlagen. Eine Hommage an Laurel & Hardys »gallige Gattinnen«.

Von Margret Köhler

Von Rainer Dick

24 TOM SCHILLING

32 jACqUES TATI

Von Alexandra Wach

Von Christian Meyer

26 IN MEMORIAM

34 MAGISCHE MOMENTE

Von Ralf Schenk

Von Rainer Gansera

Der Berliner Schauspieler ist mit seinen rollen als Verlierer und labiler Suchen­ der eine Art »Anti­Til­Schweiger«. nach zahlreichen prägnanten Auftritten könnte er nun auch international den Durchbruch schaffen. Ein »Spielwütig«­Porträt.

Mit dem Schauspieler Fred Düren und dem Dokumentarfilmer Peter Voigt sind zwei bedeutende kreative Köpfe des DDr­Kinos gestorben.

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Die amerikanischen Studios werben immer exzessiver mit »wahren Ereignissen« als Grundlage ihrer Kinoproduktionen. Die damit erhobene Behauptung eines besonderen Anspruchs können die Filme allerdings immer seltener einlösen.

Der französische Komiker entwickelte nach amerikanischen Vorbildern eine ureigene Form des Slapsticks und zeichnete sich auch als regie­Perfektionist aus. Eine Hymne aus Anlass einer neuen DVD­ Edition mit reichhaltigem Bonusmaterial.

Andrej Tarkowskij stellte in »Andrej rubljow« die Frage nach der rechtfertigung von Kunst im Angesicht menschlicher Grausamkeit und Verblendung.

rubriken EDITorIAL InHALT MAGAZIn DVD/BLU­rAy DVD­PErLEn TV­TIPPS ABCInEMA VorSCHAU / IMPrESSUM

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kino deutsches genrekino

wa s i m m e r m a n hierzulande unter

deutsches genrekino – fluch oder segen?

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»genrefilm« versteht: Jede lesart gegen den strich ist interessanter als d i e b lo s s e ko p i e einschlägiger us-muster

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deutsches genrekino kino

Die Grenzen zwischen Genre- und Arthouse-Kino sind im deutschen Film fließend: Krimis von Dominik Graf sind kunstvoll verdichtete Meisterwerke, die stillen Dramen von Christian Petzold fußen, artifiziell überhöht, auf vertrauten Krimistrukturen. Doch immer wieder gibt es die Debatte: Haben wir zu wenig Genrekino? Zu viel? Oder die falschen Genres? Eine Bestandsaufnahme zeigt, dass man dem Spektrum der Filme, die sich bei Genrekonventionen bedienen, mit Schlagworten kaum beikommt. Von Marcus Seibert

die diskussion um den neuen deutschen kinofilm kreist im augenblick um den begriff »genrefilm«. Eine junge Filmemacher­riege fordert, dass hierzulande endlich die unterrepräsentierten Genres Science­Fiction, Action, Horror, Thriller und Mystery aufgewertet werden, um den populären »einprägsamen, erfolgreichen« Mustern der US­ amerikanischen Produktionen eigene Filmerzeugnisse entgegenzusetzen. Das Feindbild dieser Gruppe ist vor allem das etablierte Kunstkino. Wobei die neuen deutschen Genrefilme selbst eher als eine Spielart des Arthouse­Kinos wahrgenommen werden. Auch die neuerdings als »German Mumblecore« bezeichnete Strömung junger Filmemacher strebt eine Befreiung von »Traditionen, die um sich selbst kreisen«, an – unter ihnen die Brüder Jakob und Tom Lass (»Love Steaks«), Axel ranisch (»Ich fühl mich Disco«), Hanna Doose (»Staub auf unseren Herzen«), Isabell Šuba (»Männer zeigen Filme und Frauen ihre Brüste«), Aron Lehmann (»Kohlhaas oder Die Verhält­ nismäßigkeit der Mittel«) und nico Sommer (»Fami­ lienfieber«). Durch ein Symposium am Deutschen Filminstitut in Frankfurt im november 2014 wurde diese Strömung als eigenes neues Genre geadelt. Vorwiegend umfasst es die Filme von Absolventen

der HFF Babelsberg, die auf die »authentische Absur­ dität eines Dokumentarfilms«, auf selbstgehäkelte Kettenhemden, aber auch auf die Frische der Impro­ visation, auf eine Befreiung der Schauspieler von den Zwängen von Drehbuch und Bildregie setzen. Die Gruppe ist keineswegs homogen; ranisch etwa setzt auf eine Fortsetzung der »Bettwurst« mit modernen Mitteln, die Lass­Brüder folgen trotz teilweise impro­ visierten Szenen bislang der eher konventionellen Idee der »romantic Comedy« mit absurden doku­ mentarischen Anteilen, zum Beispiel den Auftritten realer Massageausbilder, ähnlich Andreas Dresens Sterbehelfern in »Halt auf freier Strecke«.

einer kam durch

Während die Filmkritik mit Freude neue Genres ent­ deckt und andere das Genre fordern, wird vielen eta­ blierten Filmemachern zunehmend vorgeworfen, in einer Phase internationaler Erfolge zu sehr auf Genres zu setzen. ob Fatih Akıns »The Cut« oder Thomas Arslans »Gold«, Christian Petzolds »Phoenix«, Chris­ toph Hochhäuslers »Lügen der Sieger« oder Andreas Dresens romanadaption »Als wir träumten« – sie alle spielen mit Elementen bekannter Genres. Mehr oder weniger erfolgreich. »The Cut« ist ein epischer Historienfilm über die türkischen Massaker an den

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»the cut«

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drama fürs große Publikum nicht gerecht geworden und im Kalkül, trotz des Themas nicht zu brüskieren, politisch harmloser als nötig. Akins Filme (»Im Juli«, »Gegen die Wand«, »Auf der anderen Seite«) waren nicht selten road Movies mit dem Ziel Türkei. Dort scheint Akın nun selbst als Filmemacher angekommen zu sein: Mit »The Cut« richtet er sich vorwiegend an sein türkisches Publikum, wie die reaktionen auf den Kinostart des Films im Dezember 2014 in Istanbul zeigen: Der Versuch einer schonenden Aufarbeitung der brisanten Thematik wird in der Türkei ganz anders wahrgenommen und disku­ tiert als in Deutschland.

»Phoenix« in dieser Hinsicht keinen Sonderfall dar. »Gold« von Thomas Arslan wiederum versucht sich am Western, folgt aber den Zwangsläufigkeiten der »Eine(r) kam durch«­Erzählung des Trecks nach Westen (in diesem Fall nach norden) zu gradlinig. Die Western­Tradition wird dadurch weniger neu belebt als schlicht erfüllt. Die Forderung, der deutsche Kinofilm solle sein Heil im Genre suchen, ist also mit Vorsicht zu genießen. Sicher sind im deutschen Kino bestimmte beliebte emotionale Wirkungsformen untervertreten: Thriller, Horror, Mystery. Das Anknüpfen an Genre­Traditionen birgt jedoch als offensive Strategie keine Erfolgsgarantie. Das musste zuletzt auch der virtuos überbelichtete Prototyp der Genre­Verteidiger »Hell« von Tim Fehl­ baum erleben, ein Science­Fiction­ und Endzeitdrama, dem mit unter 140.000 Zuschauern der große Erfolg an der deut­ schen Kinokasse verwehrt blieb.

das verlorene paradies

Im Science Fiction spielt die Handlung in der Zukunft, es geht aber immer auch um die Gesellschaft der Gegenwart, die in ihrer Weiterentwicklung gefährdet scheint. Verlässlich ist vor allem die Kata­ strophe, interessant ist immer das Modell, das sie begründet. Die untergegangene Freiheitsstatue am Strand in »Planet der

In einer Veranstaltung in Berlin mit dem französischen Filmemacher Serge Bozon kam unlängst deshalb die Frage auf, ob nicht die bewusste Anknüpfung an die frühen Paradiese eines von filmischen referenzen weniger belasteten Kinos (etwa des frühen Hollywood oder auch des frühen Science­Fiction­Horrorfilms) für heutige Filmemacher zum Problem werden kann: weil sie eben nie wieder in den bewunderten Stand der Unschuld zurückkehren können, in dem es reichte, »das Leben zu beobachten und Filme zu machen«. Die Begeisterung für die Vorgänger erhöht die Bereitschaft zum Pastiche – ein üblicher Vorwurf gegen Genrefilme, genauer gesagt der Vor­ wurf, der mit dem Schmähwort »Das

»hell«

»als wir träumten«

Armeniern im Ersten Weltkrieg. Akın ori­ entiert sich stark an Elia Kazans »Amerika, Amerika« und behandelt die Pogrome und ihre Schrecklichkeiten im rahmen der melodramatischen Suche eines Vaters nach seinen Töchtern. Sicherlich ist der Film seinen eigenen Ansprüchen an ein aufwändig inszeniertes Historien­

Affen« bringt das auf den Punkt. In »Hell« sind die Sonnenstrahlen tödlich geworden. Wer sein Auto verlässt, droht gefressen zu werden. Motor dieser deutschen Zukunfts­ fantasie sind der ökologische Schock über die Klimaerwärmung und die Erkenntnis, dass der Kampf um rohstoffreserven nicht nur an Tankstellen unsere zukünftigen Kriege bestimmen wird. recht abrupt muss die Jetztzeit, die mit nenas »99 Luftballons« durch das Fluchtauto schallt oder mit letzten Ausgaben der »Süddeut­ schen Zeitung« im Kiosk liegt, zu Ende gegangen sein. Und das ist sicher ein Problem des Modells, das wirkt, als hätte sich eine atomare Katastrophe mit der ökologischen verbunden. Eine Unstimmig­ keit der Versuchsanordnung, die aber von der Spannungsdramaturgie wettgemacht wird. Die birgt jedoch eine weitere Gefahr. Die jedem Genrebegriff zugeordneten Vorbilder, die rüdiger Suchsland in seiner durchaus positiven rezension aufgezählt hat, bedrohen stets wie Zombies die ums Überleben kämpfenden heutigen filmi­ schen nachfahren.

Christian Petzolds Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte war immer schon darauf angelegt, Muster des erfolgreichen Hollywood­Films für eigene Stoffe zu ver­ wenden, wo es ihm gefiel. Insofern stellt

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zu empfehlen: Ins Paradies kehrt man nur nach Umrundung des gesamten Welt­ kreises durch den Hintereingang zurück. Direktere Wege sind möglich, aber selten. Und zeigen immer das, was Genrefilm im gelingenden Fall ist: eine Abwei­ chung. »Meek’s Cutoff« zum Beispiel, der spannende Western von Kelly reichardt, kommt ohne Shoot­out und Saloon aus. Der Film ist eine genderkritische Lesart des maskulinen Western­Milieus.

unbehagen an den schatten

Die Befreiungsschläge der Mumblecore­ Aktivisten zeigen das Unbehagen an den langen Schatten, das Unbequeme unserer Position »auf den Schultern von riesen«. Man hält sich in Manifesten von Festlegungen fern und setzt auf schein­ bare neuerfindung der eigenen Position. Die behauptete Unschuld kann aber kaum anders als ironisch durchgehen: Die Idee einer Freisetzung der Schau­

spieler durch Improvisation stand nicht nur beim namensgebenden Mumble­ core, sondern auch bei John Cassavetes’ Erstlingsfilm »Shadows« Pate und ist ständiger Begleiter eines jeden »Kinos der Befreiung«. Klaus Lemke und rosa von Praunheim haben damit in Deutschland ausführlich Erfahrungen gesammelt, aber auch Andreas Dresen (ebenfalls Absolvent der Filmhochschule HFF in Babelsberg) und Sören Voigt in seinem leider unter­ gegangenen Film »Identity Kills«. Immer dient das spontan Erspielte der künstli­ chen Herstellung von Authentizität – ein offener Widerspruch, der sehr produktiv sein kann, sofern man ihn im eigenen Vorgehen erkennt. »Victoria«, Sebastian Schippers Publi­ kumserfolg der diesjährigen »Berlinale«, ist im weiteren Sinne auch einem Mum­ blecore­Konzept verpflichtet. Den Film in einer Einstellung und ohne festes Dialog­ buch zu drehen, erlaubt, die Darsteller wie im Theater ohne Unterbrechung spielen zu lassen. Die dadurch freigesetzte »Energie« der Darstellung ist das Qua­ litätsmerkmal eines solchen Films. Der Verzicht auf Schnitt folgt dem Willen, den Akt der Herstellung durch realismusfor­ meln unsichtbar zu machen. Das cinéma direct verzichtet scheinbar auf Gestal­ tung. Diesen Widerspruch hat Marco

dramatisieren und ein tragisches Ende herbeizuführen. Das Lebensgefühl, das aus Filmen wie »Love Steaks« oder »Victoria« spricht, das Aufbegehren gegen bestehende unterdrückende Strukturen – eines Hotels oder des neuen Berlins –, atmet die Kraft jugendlicher revolten. Doch wofür steht diese revolte? In welchem namen wird sie geführt? Bei Tom Tykwers »Lola rennt«

»wir sind die nacht«

»victoria«

ist Genre« eigentlich gemeint ist. Der fanatische Cineast Eric rohmer hat daraus geschlossen, dass es generell gefährlich für Filmemacher sei, sich selbstreferenziell nur auf Filmvorbilder zu beziehen. Und was ist die Alternative? Man fühlt sich versucht, Strategien wie Kleist in seinem Aufsatz »Über das Marionettentheater«

Abel in einem langen Interview auch bei Andreas Dresen identifiziert. Man wird bei »Victoria« allerdings den Gedanken nicht los, dass an mehreren Stellen eher der Kraftakt der einen Einstellung als die Konsequenz des Geschehens die Protago­ nisten an einem ort zusammenhält. Und der Leerlauf von Übergangsmomenten wird mit Musik überbrückt. Das erzähleri­ sche Konzept zeigt hier seine Schwächen und ist nebenbei auch einem Genre offen verpflichtet: »Victoria« ist ein gradliniges Heist­Movie, das das moderne, gentrifi­ zierte nächtliche Berlin mit seinen liebens­ werten und gefährlichen Seiten inszeniert. Letztere wirken ein wenig bemüht: Der misslingende Banküberfall hat spürbar die Funktion, eine sich allzu normal anbah­ nende Liebesgeschichte von zweien, die eigentlich nicht zusammengehören, zu

»Phoenix«

»kohlhaas«

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gab es zur Liebesgeschichte und dem dreifachen Heist­Movie noch das Spiel das Möglichkeitssinns gegen den Wirk­ lichkeitssinn: Alles könnte sich anders abspielen oder abgespielt haben, alles könnte anders weitergehen. »Victoria« verzichtet auf die Analyse der Möglich­ keiten, der Illusion des Scheins zugunsten einer taumelartigen, manchmal jedoch ziemlich eindimensionalen Wirklichkeitsil­ lusion. Filme wie Christoph Hochhäuslers Politthriller »Die Lügen der Sieger«, in dem ein Berliner Journalist (Florian David Fitz) den Intrigen eines Lobby­Verbands auf den Leim geht, »Gold«, »The Cut« oder Petzolds nachkriegsdrama »Phoenix« mögen nicht die besten Filme ihrer regis­ seure sein – aber sie arbeiten konsequent mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen, deren irritierende reibung zur filmischen Spannung beiträgt. Die internationalen Erfolge deutscher Filmemacher haben in den letzten Jahren das nachdenken über erfolgreiche Muster begünstigt. Auch das Selbstbewusstsein der Jüngeren, der US­amerikanischen Genre­Produktion die Stirn bieten zu wollen, ist ohne diese Erfolge schwer vorstellbar. Es hat sich ein Gefühl für lohnende Wagnisse eingestellt, trotz der immer schwierigen Finanzierungssitua­ tion. Es kommen erfreulich viele verschie­ dene Filme dabei heraus. Die erzähle­ rischen Wagnisse sollten jedoch nicht hinter sportlichen Herausforderungen zurückbleiben oder auf ein Loblied der Improvisation als Authentizitätsbeschaf­ ferin beschränkt bleiben. Improvisation als Prinzip der Schauspielerführung hat immer ein Problem mit der zugespitzten Pointe. Die Kopie US­amerikanischer Genre­Vorbilder schützt ebenfalls nicht vor »Flaws« und Misserfolgen an der Kinokasse. Was immer unter »Genrefilm« begriffen wird, die Lesart gegen den Strich ist doch immer viel interessanter als die Kopie. nichts ist wirklich neu in der Filmgeschichte, was aber jeweils nichts heißt, so lange das neue gut gemacht ist: Die Filmgeschichte ist ein Steinbruch. Was man neues aus den Steinen baut, ist ent­ scheidend. nicht zu vergessen dabei: Viele der heutzutage als Inbegriff von Genres angesehenen Erzeugnisse aus der para­ diesischen Zeit der ersten Filme waren damals einfach nur anders erzählt. 14

ich fühl mich disco Deutschland 2013 / regie: Axel ranisch trotz komischer kapriolen überfordert der film seine schwergewichtigen Protagonisten nicht; er zeigt vielmehr durchaus schmerzhaftes einander-verfehlen und rückschläge. Aber – und dies ist die größte Leistung des Films – er denun­ ziert seine mehr als einmal überforderten Figuren auch nicht, sondern zeichnet ihre allmähliche Annäherung über die Erfah­ rung des Verlustes mit großer Empathie. Der Vater muss lernen, seinen Sohn so zu akzeptieren, wie er ist: mit seinen Schwä­ chen und Träumen. Im Gegenzug darf er

selbst seine Schwäche und Überforderung zeigen. Wenn am Schluss die lebenser­ haltenden Maschinen im Krankenhaus abgestellt werden, können sich Vater und Sohn auf Augenhöhe gegenseitig unter­ stützen. Dass das Leben »nicht immer nur Pommes und Disco« ist, wie Christian Steiffen singt, kann als ausgemacht gelten. Manchmal muss es eine »Flasche Bier« sein, die durchs Leben hilft. »Ich fühl mich Disco« ist einer der schönsten deutschen Filme des Jahres und erinnert, nicht nur aufgrund seiner reflektierten Affinität zur Trivialität des Schlagers, an die unverstellt ehrliche Zärtlichkeit, mit der sich einst rainer Werner Fassbinder dem kleinbür­ gerlichen Milieu näherte. (FD 22/13)

Fotos: daredo media/Piffl Medien/Pandora/Constantin/Paramount/ Bildkraft/missingfilms/Berlinale 2015/Salzgeber

kino deutsches genrekino

german mumblecore Mit »Mumblecore« sind ursprünglich us-amerikanische filme mit geringem budget und hohem improvisations- und selfmade-anteil gemeint, etwa »funny haha« von andrew bujalski. Die rollen werden von Laien gespielt, statt Drehbuch­ dialogen gibt es Improvisation, Kostüme dürfen aussehen wie selbstgemacht, Kulissen wie Kulissen, sofern nicht sowieso alles in der eigenen Wohnung gedreht wird. Wörtlich heißt »mumblecore« in etwa »komplett vernuschelt«. In Deutschland zählen die Filme wie nico Sommers »Silvi«, die Kurzfilme der Brüder Lass und »Love Steaks«, Axel ranischs »Dicke Mädchen«, »Ich fühl mich Disco«, »reuber« sowie Isabelle Subas »Männer zeigen Filme und Frauen ihre Brüste« und Aron Lehmanns »Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel« dazu. Die meisten entstanden ohne Budget und ohne Beteiligung von Sendern oder Filmstiftungen. Die Filmemacher berufen sich auf Slacker­Filme der 1990er­Jahre, auf Filmemacher wie Andy Warhol oder rosa von Praunheim (»Bett­ wurst«) und Klaus Lemke (»rocker«, »Paul«). Marcus Seibert

silvi Deutschland 2013 / regie: nico Sommer Zunächst steht die 47-Jährige etwas ratlos vor den trümmern ihrer bisherigen existenz und beginnt, von sich zu erzählen. Was zunächst ein Lernprozess, ein Staunen ist, denn Silvi hatte bislang nur Michael »gehabt« und muss sich jetzt neu entwerfen. »Junger Tag, ich frage dich / Was ist dein Geschenk an mich? / Bringst du Tränen von gestern zurück / oder neue Liebe und neues Glück?«, singt Gitte Haenning, was den schönen Effekt hat, die Figur der Silvi zu erden: der Qualitätsschlager als Therapeutikum. (…) regisseur nico Sommer (Jhrg. 1983) hat

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deutsches genrekino kino

love steaks Deutschland 2013 / regie: Jakob Lass es beginnt mit einer falschen fährte. In der ersten Einstellung erwacht ein Stein am Ufer des Meeres zum Leben, reckt und streckt sich und enthüllt im Zwie­ licht des anbrechenden Tages, dass er

im Besitz von etwas ist, was später im Film, wenn neugier in Liebe umschlägt, zum Gegenstand einiger Diskussionen wird. Stichwort: Fleisch oder Blut. nach diesem archaischen, fast schon mytho­ logischen Auftakt ändert sich der Tonfall abrupt. regisseur Jakob Lass scheint sich an ein Erfolgsrezept des neuen deutschen Films erinnert zu haben: die

männer zeigen filme und frauen ihre brüste Deutschland 2013 / regie: Isabell Šuba

an der Kunsthochschule Kassel Spiel­ und Dokumentarfilmregie studiert. Diese Kom­ bination erklärt vielleicht, warum ihm mit »Silvi« ein erstaunlicher Hybrid gelungen ist: ein Abenteuerfilm über Geschlech­ terrollen, Identitäten und diesbezügliche Ungleichzeitigkeiten in der Lebensmitte, versetzt mit semi­dokumentarischen Szenen mit hohem improvisatorischen Anteil, mal bestürzend seltsam, zumeist hochgradig komisch, dargeboten von unverbrauchten, frischen Darstellern, denen man auch überraschende Wen­ dungen abnimmt. Man sieht Menschen mittleren Alters mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten bei der Arbeit zu, ihre Glücksvorstellungen miteinander zu synchronisieren. (FD 20/13)

isabell Šuba wurde 2012 mit ihrem kurzfilm »chica XX Mujer« nach cannes eingeladen. Mit ihrem Produzenten David Wendtland besucht sie das Festival, um Kontakte zu pflegen und nach Möglich­ keit ein neues Filmprojekt zu lancieren. Leider steht der gemeinsame Ausflug an die Côte d’Azur unter keinem guten Stern. (…) Erst ganz am Schluss erfährt man lakonisch­unvermittelt, dass Šuba im Film von der Schauspielerin Anne Haug gespielt wurde und Wendtland vom Filmproduzenten Matthias Weiden­ höfer, während die wirkliche Isabell Šuba sich unter einer falschen Identität als

harsche Durchdringung des Fiktiven und des Dokumentarischen, wie man es von Alexander Kluge, Werner Herzog oder auch Klaus Lemke kennt. Er lässt seine Protagonisten innerhalb eines realen Settings mit engagierten Laiendarstellern improvisierend agieren, was dem Film schöne Funken verleiht. Auf ein ausgear­ beitetes Drehbuch wurde verzichtet, es gab lediglich ein dramaturgisches Gerüst und die Charaktere, aber keinen einzigen vorformulierten Dialogsatz, um mit und vor der Kamera flexibel zu bleiben. Für diese optimierung der Arbeitsprozesse haben Lass und sein Team auch gleich einen namen gefunden. »Love Steaks« ist der allererste »Fogma«­Film. »Fogma« sieht sich durchaus auch als Alternative zur formalen Sprödigkeit der »Berliner Schule«­Filme und will die kreative Dynamik von Drehbuchfilm, Improvfilm und Dokumentarfilm bündeln. »Fogma« soll Halt bieten und befreien. (FD 7/14) Berichterstatterin aufs Festival »geschli­ chen« hatte, um dort in Guerilla­Manier an fünf Tagen einen Film zu drehen, bei dem nie ganz klar ist, was gespielt, was improvisiert und was dokumentarisch ist. »Männer zeigen Filme und Frauen ihre Brüste« ist also ein leicht schillerndes Mockumentary übers Filmemachen, Filme feiern und von Filmen träumen, in der manche rollen von Schauspielern übernommen wurden, während andere Figuren sich selbst spielen. Der Film­ titel ist eine Anspielung darauf, dass in Cannes selten Filme von regisseurinnen zu sehen sind. Auf diesen »Skandal« macht Šuba/Haug aufmerksam, ohne auf diesem Ticket selbst reisen zu wollen, da sie Anerkennung als Filmemacherin und nicht als Quotenfrau sucht. (FD 17/14) Alle zitierten FD­Texte: Ulrich Kriest

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kritiken neue filme

das blaue zimmer

Meisterlich kühle Georges-Simenon-Adaption ein schmaler hotelflur. ein bescheiden eingerichteter raum. Autoschlüssel auf einer Kommode. Ein zerwühltes Bett. Ein winziger Blutstropfen, der auf die Laken fällt, nachdem der Mann von seiner Geliebten in die Lippe gebissen wurde. Die ersten Einstellungen des Films rufen Spuren und anscheinend nebensächliche Begleitumstände einer Affäre auf, Augenblicksbilder, die sich ins Gedächtnis der Hauptfigur Julien Gahyde eingebrannt haben. Seit Monaten treffen sich er und seine Geliebte Esther Despierre in dem Hotel­ zimmer mit den blauen Wän­ den und gehen auch in ihrer nacktheit völlig vertraut mitei­ nander um. Dann stellt Esther an einem frühsommerlichen nachmittag eine Frage, die Julien unverfänglich vorkommt und die er ohne nachzudenken mit Ja beantwortet. Eine unbe­ dachte Äußerung, die er bitter bereuen wird und die den Film von den sonnenüberzogenen

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Anfangsmomenten zu abge­ dunkelten, kalten Bildern aus Zellen und Gerichtszimmern wechseln lässt, in denen sich Julien als Mordverdächtiger verantworten muss. »Das blaue Zimmer« handelt im Kern von der Ausführung und Aufdeckung eines Verbrechens. Genau wie die 50 Jahre alte romanvorlage von Georges Simenon ist jedoch auch Mathieu Amalrics Adaption kein Krimi. Fast durchgängig nimmt Amalric in seiner fünften Spiel­ filmregie die Perspektive von Julien ein, der die Auflösung all dessen erlebt, was er in seinem Leben für sicher gehalten hat: Die wenig leidenschaftliche, aber trotz seiner Untreue sta­ bile Ehe mit Delphine, die Beziehung zu seiner kleinen Tochter, das gesicherte Dasein durch den Verkauf landwirt­ schaftlicher Maschinen in seiner selbst aufgebauten, florie­ renden Firma. Amalric zieht damit auch die Querverbindung zu seiner vorletzten regiear­

beit »Tournée«, in deren Zen­ trum ebenfalls die Erkenntnis eines Mannes stand, dass der Erfolg seines Unternehmens wie seine ganze Existenz auf höchst fragilem Grund errichtet ist. Erneut übernimmt Amalric auch selbst die Hauptrolle und zeichnet einen wunderbar undurchdringlichen Charakter: Der verschlossene Julien erscheint mal selbstsüchtig und kaltschnäuzig bis durchtrieben, dann aber wieder als unschul­ diges opfer, das ungläubig und passiv verfolgt, wie die Schlinge sich immer enger um seinen Hals zuzieht. Die Atmosphäre wachsender Verunsicherung bleibt auch deshalb außergewöhnlich stim­ mig, weil Amalric die nicht­ chronologische Erzählweise der Vorlage beibehalten hat. Von den Verhören durch den Unter­ suchungsrichter blendet er immer wieder in die Zeit der Affäre und der nachfolgenden Ereignisse zurück: Juliens Ver­ such, der Geliebten aus dem Weg zu gehen, der plötzliche, wenn auch nicht völlig überra­ schende Tod ihres von Geburt an kranken Ehemanns und in

der Zeit danach immer wieder anonyme nachrichten mit auf­ geklebten Buchstaben, die Julien nahezulegen scheinen, dass er sich nun seiner Frau entledigen solle. Mit den Sprüngen zwischen den unter­ schiedlichen Zeitebenen hält der Film nicht nur die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen offen, er spiegelt zugleich die mentale Weige­ rung seiner Hauptfigur, sich über die eigene Schuld klarzu­ werden. In die verschachtelte narration streut Amalric geschickt Vor­ zeichen auf das kommende Unheil ein: Ein herabfallender Klecks Marmelade, der an den Blutfleck vom Anfang des Films erinnert, ein Zwischenfall beim Familienurlaub, als Julien und Delphine sich gegenseitig neckisch im Meer untertauchen und Julien den richtigen Moment zum Aufhören verpasst. In der Art, wie sich so in vorgeblich harmlose Szenen bedrohliche Untertöne ein­ schleichen, zollt »Das blaue Zimmer« den Werken von Alfred Hitchcock Tribut, denen

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neue filme kritiken Amalric auch mit seiner meis­ terlich unterkühlten Inszenie­ rung nacheifert. Emotionale Identifikationshilfen unterblei­ ben in der ziemlich herme­ tischen Form des auf 76 Minu­ ten konzentrierten Films bewusst, ebenso wie die von Léa Drucker und Stéphanie Cléau präzise verkörperten Parts der Ehefrau und Gelieb­ ten kein Eigenleben gewinnen können – nachvollziehbarer­ weise, da sie ausschließlich aus Juliens Blickwinkel gezeigt werden, der sich selbst die Anteilnahme versagt. Das führt dazu, dass einem die Figuren zwar nicht ans Herz wachsen; trotzdem fesseln sie durchweg die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Marius Nobach

bewertung der filmkommission

Fotos S. 36­51: Jeweilige Filmverleihe

ein familienvater, der mit landmaschinen handelt, lässt sich auf eine affäre ein. eine unbedachte bemerkung gegenüber seiner ebenfalls verheirateten geliebten weckt bei ihr falsche Vorstellungen: wenige wochen darauf stirbt ihr schwerkranker mann, und ihr liebhaber erhält anonyme nachrichten, die ihm nahezulegen scheinen, sich seiner frau zu entledigen. die adaption eines romans von georges simenon ist kein kriminalfilm, sondern eine mit meisterhafter kühle inszenierte, verschachtelt erzählte studie der auflösung eines scheinbar gesicherten daseins. außergewöhnlich stimmig und hervorragend gespielt. – sehenswert ab 16.

la chambre bleue. frankreich 2014 regie: mathieu amalric darsteller: mathieu amalric (Julien gahyde), léa drucker (delphine gahyde), stéphanie cléau (esther despierre), laurent poitrenaux (richter), serge bozon (polizist) länge: 76 min. | kinostart: 2.4.2015 verleih: arsenal | fd-kritik: 42 992

der kleine tod Komödie über Sex

die vorstadt ist ein filmisch verlockender ort, suggerieren die abgezirkelten vorgärten und immer gleichen fassaden doch, dass hinter ihnen alles in wohlgeordneten bahnen verläuft, einem gesellschaftlichen Konsens oder Muster folgt. Doch weit gefehlt! Das konnte man bereits in der amerika­ nischen Serie »Desperate Housewives« lernen. In Josh Lawsons »Der kleine Tod« liegt diese Vorstadt zwar nahe Syd­ ney, doch auch dort sind es ähnlich gehoben­bürgerliche Fassaden, die so notdürftig wie wirksam den Blick auf das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Vorstädter verstellen. Die Kapitel des Episodenfilms sind mit lexikalischen Einträgen zu tendenziell exotisch­sexuel­ len Fetischen überschrieben. Dass »Dacryphilie« die »sexu­ elle Erregung durch Beobach­ tung einer weinenden Person« bedeutet, zählt dabei zwar nicht zur Allgemeinbildung, die Betitelung der ersten Episode über »sexuellen Masochismus« dagegen schon eher. Der australische Schauspieler Josh Lawson, der für regie und Drehbuch seines Debütfilms verantwortlich zeichnet, über­ nimmt in dieser Episode auch die männliche Hauptrolle. Paul

ist zunächst rechtschaffen ent­ setzt, als Maeve es wagt, ihm ihre Vergewaltigungsfantasien zu gestehen. Doch dann macht er sich, mit unerschütterlichem Eifer, an die perfektionistische Umsetzung derselben. Wie in robert Altmans »Short Cuts« werden die einzelnen Episoden miteinander unter­ schnitten; gelegentlich gibt es lose, dramaturgisch aber weit­ gehend bedeutungslose Ver­ knüpfungen; so sind zwei weibliche Hauptfiguren mit­ einander befreundet. Der Ton entwickelt sich stark komö­ diantisch, ernste Untertöne werden schnell, gelegentlich auch zu schnell, nivelliert. Das wirkt dann, insbesondere weil es um Sex, um geheime Sehnsüchte und Abgründe geht, ein wenig verklemmt: so, als könnte man, wenn man ganz ehrlich wäre, nicht mehr auf ein komisches niveau zurückgelangen. In gewisser Weise wird so das eigene Anliegen verraten; der Vor­ stadtreigen kreist um Tabus, ohne wirklich an sie zu rühren. Aus dem Lachen mit den Figuren, auch aus etwaigen Wiedererkennungseffekten, resultiert durch die nivellie­ rende Übertreibung manches Mal ein Lachen über die Prota­ gonisten. nichtsdestotrotz gibt

es gute Pointen, viel Dialogwitz und situative Komik. Den Schauspielern ist die Lust am Spiel mit den Tabus anzumer­ ken, und in Gestalt eines zwie­ lichtig freundlichen neuen nachbarn weht auch ein Hauch von Suspense durch den Film. In der letzten Episode stimmt plötzlich die Fallhöhe – und zwischen den Figuren die Che­ mie, was sie zu mehr als einem Sketch macht. Vielleicht ist es aber auch gar kein Wunder oder die absolut zeitgemäße Pointe, dass der wahrscheinlich beste – und witzigste – Sex im Film mehrfach vermittelt statt­ findet: virtuell, zwischen einer Dolmetscherin für Gebärden­ sprache, die ihrem Kunden via Skype eine Telefonsexhotline übersetzt – in eindeutigen, nicht jugendfreien Gesten. Julia Teichmann

bewertung der filmkommission

in einer australischen Vorstadt nahe sydney schlagen sich einige menschen mit ihren sexuellen nöten und verborgenen leidenschaften herum. hinter den gehoben bürgerlichen fassaden spürt der komödiantische episodenfilm unterschiedlichen erotischen sehnsüchten und träumen nach, wobei er den einzelnen kapiteln lexikalische fetisch-begriffe überordnet. das gut gespielte spielfilmdebüt kreist eher harmlos, aber mit guten pointen, viel dialogwitz und situativer komik um tabus, ohne freilich an ihnen zu rühren. – ab 16.

the little death. australien/gb 2014 regie: Josh lawson darsteller: Josh lawson (paul), bojana novakovic (maeve), damon herriman (dan), kate malvany (evie), patrick brammall (richard) länge: 96 min. | kinostart: 9.4.2015 verleih: weltkino | fsk: ab 12; f fd-kritik: 42 993

Filmdienst 07 | 2015

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