Filmdienst 07 2017

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FILM

GHOst

DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

07 2017

in tHe

sHell

www.filmdienst.de

»GHOST IN THE SHELL«

Scarlett Johansson spielt die Hauptrolle in diesem neuen Fantasy-Film. Wir erinnern an das Original, einen Meilenstein der Anime-Kunst aus dem Jahr 1995.

DER BLICK ZURÜCK NACH VOR N

Das Kino ist tot, es lebe das Kino! Auftakt zu einer sechsteiligen Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos, gesehen aus wichtigen Epochen seiner Vergangenheit.

JAMES GRAY

Der New Yorker Regisseur inszeniert Genrefilme ganz eigener Prägung. Das gilt auch für sein neues Abenteuerepos »Die versunkene Stadt Z«.


FilmDiensT 07 | 2017 DIE NEUEN KINOFILME neU im kino ALLE STARTTERMINE

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A United Kingdom 30.3. Die andere Seite der Hoffnung 30.3. Attack on Titan 2 28.3. Deli Ask 9.3. Ein deutsches Leben 6.4. Es war einmal in Deutschland ... 6.4. Esteros 6.4. Free Fire 6.4. Gaza Surf Club 30.3. Geschichte einer Liebe – Freya 6.4. Ghost in the Shell 30.3. Herkules 30.3. Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott 6.4. I Am Not Your Negro 30.3. Istanbul Kirmizisi 16.3. Life 23.3. Nichts zu verschenken 6.4. Power Rangers 23.3. Die Schlümpfe – Das verlorene Dorf 6.4. Seashore 30.3. Starting 5 6.4. Sword art online – Ordinal Scale 6.4. Tanna – Eine verbotene Liebe 30.3. The Boss Baby 30.3. Tiger Girl 6.4. Tu nichts Böses 6.4. Ü100 6.4. Una und Ray 30.3. Vaxxed 6.4. Die versunkene Stadt Z 30.3. Von Bananenbäumen träumen 30.3. Wenn der Vorhang fällt 30.3. Zazy 30.3.

38 52 37 51 47 47 47 49 52 45 46 41 51 49 48 51 43 51 49 47

kinoTiPP

41 TIGER GIRL

45 TANNA – EINE VERBOTENE LIEBE

der katholischen Filmkritik

36 DIE ANDERE SEITE DER HOFFNUNG Flüchtling trifft in Helsinki auf hilfsbereite Sonderlinge: Aki Kaurismäkis lakonisches Loblied auf Solidarität

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50 A UNITED KINGDOM

Fotos: TITEL: Paramount; S. 4/5: Pandora, Constantin, Kairos, Alamode, Nipponart, X-Verleih, Ascot Elite, ZDF/Matt Lankes

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07 | 2017 Die ARtiKel inHalT kino

akTeUre

FilmkUnsT

20 »GHOST IN THE SHELL«

22 SAM GARBARSKI

28 DANIELLE DARRIEUX

10 Die ZUKUnft DeS KinoS (1)

DIe Essay-Reihe fragt, was die Zukunft für Film und Kino bereithält. In umgekehrter Chronologie untersucht sie dabei die Filmgeschichte nach möglichen Ansätzen und Forderungen für das Kommende. Zum Auftakt: 2016–2000 – Die Chancen der Digitalisierung. Von Patrick Holzapfel

16 JAmeS GrAY

Der Regisseur wählt für seine stilvollen Genrefilme ungewohnte Milieus, setzt auf emotionale Wahrhaftigkeit statt postmoderne Ironie. In seinem neuen Film »Die versunkene Stadt Z« verlässt er erstmals New York, bleibt sich ansonsten aber bemerkenswert treu. Ein Porträt. Von Esther Buss

20 »GHoSt in tHe SHell«

Die Realverfilmung des japanischen Animationsfilms tritt ein schweres Erbe an. Mamoru Oshiis Film aus dem Jahr 1995 besticht noch immer mit philosophischer Tiefe und bestechender Ästhetik.

22 SAm GArBArSKi

In »Es war einmal in Deutschland ...« wirft der belgisch-deutsche Filmemacher einen tragikomischen Blick auf die Überlebenskunst von Juden in der Nachkriegszeit. Ein Gespräch über Wahrheit und Fiktion und Humor als Überlebensmedizin. Von Margret Köhler

24 rooneY mArA

Die Schauspielerin wirkt fragil und mädchenhaft, streift in ihren Rollen aber das Image der zarten Elfe regelmäßig eindrucksvoll ab. Auch in »Una und Ray« verkörpert sie eine Figur mit Abgründen und Brüchen. Ein Porträt. Von Michael Ranze

27 e-mAil AUS HollYWooD

Neue Untersuchungen enthüllen, dass die US-Filmindustrie nach wie vor eine ungleiche Geschlechterpolitik verfolgt. Trotz aller Proteste hat sich 2016 an der Situation von Frauen nichts verbessert. Von Franz Everschor

28 DAnielle DArrieUX

Die Grande Dame des französischen Kinos wird am 1. Mai 100 Jahre alt. In ihrer Karriere bezauberte sie Publikum wie Regisseure mit Eleganz und Musikalität – und erfand sich immer wieder neu. Eine Verbeugung. Von Martina Müller

32 foKUS tÜrKei (Viii)

Wenige Wochen vor dem Verfassungsreferendum erhebt die Filmbiografie »Reis« den türkischen Präsidenten Erdogan zum geborenen Anführer. Der lupenreine Propandafilm ist in den Kinos ein Flop. Beobachtungen bei einem Kinobesuch. Von Emine Yildirim

Von Jörg Gerle

FernseH-TiPPs 3 4 6 34 54 56 66 67

RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAY TV-TIPPS FILMKLISCHEES VORSCHAU / IMPRESSUM

56 Am Karfreitag zeigen die Sender rund um die Uhr herausragende Spielfilme, wobei neben Altbekanntem wie »Das Gewand« Erstausstrahlungen wie »Boyhood« stehen. 3sat nähert sich in einer Themenwoche dem Phänomen der Angst, arte startet die Reihe »Literatour« mit Nachinszenierungen von Reisen berühmter Literaten von Goethe bis Steinbeck.

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KINO ZUKUNFT DES KINOS

Das Kino als eine Haltung Martin Scorsese beim Dreh zu »Silence«

zur Welt

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»DIE ZUKUNFT DES KINOS« TEIL 1


ZUKUNFT DES KINOS KINO

Für die Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos schaut Autor Patrick Holzapfel in die Vergangenheit, um herauszufinden, was Film und Kino in der Zukunft helfen kann. Dabei bewegt er sich filmgeschichtlich gegenläufig: Beginnend mit den letzten beiden Jahrzehnten, schaut er immer auch in die Filmgeschichte, um für die Zukunft lernen zu können. Filmpraxis, Filmkultur und Filmmarkt stehen dabei zwangsAUFTAKT ZU EINER SECHSTEILIGEN ESSAY-REIHE

VON PATRICK HOLZAPFEL

läufig permanent im Blick, weil ohnehin alle Sparten miteinander in Verbindung stehen.

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KINO ZUKUNFT DES KINOS

»AUS DIESEM GRUND SCHEINT ES MIR SINNVOLL, WENIGER EINEN

Jean-Luc Godard: »Adieu au langage«

DER BLICK ZURÜCK RICHTET SICH IN EINE MÖGLICHE ZUKUNFT

Die Themenstellung »Die Zukunft des Kinos« kann folglich nur als Provokation verstanden werden. Sie gibt in ihrem Titel aber auch einen Optimismus vor, der daraus entsteht, dass man das Gegenteil kaum mehr hören kann. Die Gefahr der Zukunft liegt unter anderem in ihrer Unvorhersehbarkeit und in der Ungenauigkeit dessen, was man unter Kino verstehen könnte. Man diskutiert trotzdem darüber; überall werden Vorhersagen getroffen, Tendenzen analysiert und steile Thesen aufgestellt, von denen sich manche bewahrheiten, andere nicht. Filmemacher, Wissenschaftler, Journalisten und Filmindustrielle arbeiten sich dabei an sehr unterschiedlichen, allesamt unzufriedenen Auffassungen über die Richtung ab, die das Kino eingeschlagen hat. Es ist fast ein wenig wie die Umkehr eines klassischen Slapstick-Gags, wenn zwei Figuren sich so lange über ihrer neueste Eroberung überbieten, bis herauskommt, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Mit dem Kino ist es so, dass alle von dem gleichen Gegenstand zu reden glauben, obwohl es viele verschiedene Ausführungen davon gibt. Die Form einer erwarteten und spürbaren Zeitlichkeit dieser Kinos ist in vielerlei Hinsicht in die Arbeitsweise des filmischen Mediums eingeschrieben. Verfall, Flüchtig-

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keit, aber auch Bewahrung und Erinnerung sind starke Begriffe, die Brücken schlagen zwischen dem, was war, dem weiten Feld der Gegenwart und all den Formen, die sein können. Zudem hängt Film an einem technischen Apparat, der den Gesetzen der Erneuerung und des so genannten Fortschritts wie keine andere Kunst unterworfen ist. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoll, weniger einen vagen Blick in die Zukunft zu werfen, als vielmehr einen Dialog zu öffnen zwischen dem, was am Kino vorüberging, und dem, was es sein könnte. In anderen Worten: Wie der benjaminsche Engel der Geschichte geht der Blick zurück auf den Trümmerhaufen der Filmgeschichte, die nicht einmal ansatzweise zu fassen ist, und richtet sich von dort in eine mögliche Zukunft. Die Essays sollen sich filmgeschichtlich gegenläufig bewegen und dabei Ansätze und Forderungen für eine Zukunft des Kinos herauszuarbeiten. Ein Ausblick, der gleichermaßen ein Rückblick sein soll. Thema dieses ersten Texts ist die Digitalisierung des und der Kinos, die uns im letzten Jahrzehnt sehr beschäftigt hat.

DER OPTIMALE FILM ZEIGT EINE KAMERA IM SPIEGEL

Unlängst haderte die 88-jährige französische Filmemacherin Agnès Varda bei einer Installation mit dem Raumlicht, das den auf den Boden gestreuten Sand nicht genügend beleuchtete. Als ein Mitarbeiter der Galerie ihr erklärte, dass man eineinhalb Stunden bräuchte, um das Licht gemäß ihrer Vorstellungen zu justieren, nahm Agnès Varda ihr iPhone aus der Tasche, schaltete die Taschenlampe ein, richtete sie auf den Sand und erreichte ein

VAGEN BLICK IN DIE ZUKUNFT ZU WERFEN, ALS VIELMEHR EINEN DIALOG ZU ÖFFNEN ZWISCHEN DEM, WAS AM KINO VORÜBERGING, UND DEM, WAS ES SEIN KÖNNTE.« für sie zufriedenstellendes Ergebnis. Es ist nicht das erste Mal, dass Filmemacher, die scheinbar aus einer anderen Zeit stammen, innovativ und frei mit digitalen Technologien umgehen. Man denke an Jean-Luc Godard und seinen Film »Adieu au langage« oder an Martin Scorsese, der in »Silence« wie selbstverständlich das spirituelle Begehren einer untergegangenen Weltwahrnehmung mit artistischer digitaler Technologie verknüpft, während sein nächster Film »The Irishman« von Netflix vertrieben wird. Seit der Einführung digitaler Kameras, Schnitttools und dem DCP-File als Vorführformat hat sich die Kinolandschaft mit Blick auf diese Entwicklungen in zwei Lager gespalten. Die einen bejubeln bis heute das, was sie Innovation nennen; sie machen beim Wettrennen um noch höhere Auflösungen und widerstandslosere Technologien begeistert mit. Filmemacher wie Ang Lee oder James Cameron betreiben eine Ideologisierung des Kinos, bei dem die Schauwerte nicht mehr in dem liegen, was sich vor der Kamera bewegt, und auch nicht darin, wie das, was sich da bewegt, gefilmt wird, sondern bei dem die Hauptattraktion die Kameras selbst sind. Obwohl der Zuseher mit seinen eigenen Augen gar nicht mehr unterscheiden kann, ob das jetzt schärfer ist oder nicht, soll er es staunend abnicken. Womöglich erfüllen sie damit Godards Verdikt, dass der optimale Film eine Kamera im Spiegel zeige. Sie sind die kapitalistischen Pioniere einer Glattheit und Sauberkeit. Lav Diaz: »Hele Sa Hiwagang Hapis«

Die Zukunft könne nur als Gefahr wahrgenommen werden, hat der französische Philosoph Jacques Derrida eine Ohnmacht des Diskurses beschrieben, den man im Bereich des Kinos nur zu gut kennt. Der melancholische Tod der siebten Kunst ist von Susan Sontag, Serge Daney oder Jean-Luc Godard immer wieder und äußerst überzeugend beschworen worden: Das Kino ist tot. Man wird das Gefühl nicht los, dass es seit einiger Zeit zur Aufgabe des Kinos geworden ist, regelmäßig das zu bewahren, was keine Zukunft mehr hat.


Martin Scorsese: »Silence«

ZWEI TENDENZEN IM UMGANG MIT DER DIGITALEN REVOLUTION Auf der anderen Seite stehen die Melancholiker und Ethiker, die Film über sein Material definieren und die Überlegenheit dieses Materials betonen, das in seiner Herstellung deutlich mehr Handwerk und damit Widerstand erfordert und erzeugt. Auch hier gibt es im Mainstream-Kino Vertreter wie Christopher Nolan oder Quentin Tarantino, die einen merkwürdigen Kampf für den Erhalt der analogen Filmherstellung führen. Sie tragen dazu bei, dass ein Bewusstsein für die Materialität des Bewegtbildes weiterexistiert – und eine Firma wie Kodak noch immer für und mit analogem Material arbeiten kann. Andererseits bewegen sich diese Filmemacher komplett jenseits der Realitäten, die für die meisten europäischen Filmemacher gelten. Sie nutzen das Analoge als Luxusgut, nicht als Arbeitsmaterial. Mit dem gegen die totale Umarmung des Digitalen gerichteten Denken geht meist eine Betonung des Kinoerlebnisses als entscheidender Faktor für die Wahrnehmung von Filmen einher. Beide Tendenzen im Umgang mit der digitalen Revolution werden sehr unterschiedlich bewertet. Für Filmemacher stellen sich ganz andere Fragen als für Kuratoren, und für Kuratoren wiederum andere Fragen als für Archivare und so weiter. Die unterschiedlichen Auffassungen führen jedoch häufig zu einer Einschränkung der Möglichkeiten, die solche Widersprüche oft mit sich bringen. Denn statt auszuloten oder wahrzunehmen, was in einer aufregenden Übergangsphase passieren könnte, werden zwei Medien, die in einer Kunstform operieren, häufig gegeneinander gestellt. Das eine schließt das andere aus, trennt es fast ab. So werden analoge Techniken als nostalgisch abgetan und mehr und mehr auf den Kunstmarkt gedrängt. Oder dem

Digitalen wird aufgrund einer materiellen Begriffslogik die Zugehörigkeit zum Film komplett abgesprochen. Dies kann zum schamlosen Umgang mit historischem Material führen, wenn ganze Retrospektiven von Filmen, die analog gedreht wurden, aus Kostengründen nur noch in digitalen Kopien gezeigt werden. Oder es werden digitale Kopien vermieden, weil es sich dabei eben nicht um Kino handle. Vielleicht haben die letzten Jahre gezeigt, dass der Umgang mit der digitalen Revolution im Verhältnis zur Filmgeschichte dann am Fruchtbarsten ist, wenn nach Gemeinsamkeiten gefahndet wird, anstatt beständig auf Unterschiede hinzuweisen. Es geht dabei nicht darum, dass man die Unterschiede in der Art und Weise ignoriert, wie Bilder hergestellt werden und wie sie gezeigt werden. Die Differenzen zeigen sich ja gerade erst im Umgang mit beiden Daseinsformen, nicht im theoretischen Ausschluss eines von beiden. Für das, was man unter Film und Kino versteht, erweist sich eine materielle oder an Orte gebundene Definition als Reduktion. Man müsste wieder zu dem kommen, was Kino als eine Haltung zur Welt, zur Moral und Politik einmal definiert hat. Diese existiert im Digitalen genauso wie und im Analogen. Dass das Digitale eine andere Weltsicht formuliert als das Analoge, muss nicht bedeuten, dass es nicht entgegen dieser Haltung benutzt werden kann.

MAN MUSS DEN MUT HABEN, VOM KINO ETWAS ZU WOLLEN Man könnte das, was digital und analog bei aller Problematik eint, eine Sprache nennen. So offensichtlich es auch erscheint, so wichtig ist es, zu betonen, dass beispielsweise die Filme »Les Salauds – Dreckskerle« und »Der Fremdenlegionär«, beide inszeniert von Claire Denis, trotz ihrer unterschiedlichen Herstellungsweise der gleichen Sprache angehören. In dieser Sprache gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Relationen aufzubauen, etwa zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, zwischen Erwartungen oder Bewegungen. Diese finden in einem vorgegebenen zeitlichen Rahmen statt, der auf nichts außerhalb sich selbst verweist, also auf kein Produkt und keine nächste Folge. Diese Sprache dient auch eher einer Form der Verunklarung als der Aufklärung. Sie zeigt und macht sichtbar, aber sie erklärt nicht, sondern ist Zeuge einer flüchtigen Dazwischenheit, einer Präsenz und filmischen Evidenz. Die Dringlichkeit des Kinos hängt nicht an seinen Oberflächen und Techniken, sondern an der Welt, die diese umgibt. Es scheint heute entschieden wichtiger, die Sprache von Film und Kino gegen jene von Serien, Werbung und Sozialen Medien abzugrenzen, als die Sprache des Kinos in sich zu brechen. Man muss den Mut haben, vom Kino etwas zu wollen: Es muss einen Ausbruch aus der Stagnation von Modellen geben. Es ist beispielsweise erschreckend, mit welcher Penetranz von Filmverleihern an einer Struktur festgehalten wird, die eigentlich nur mit analogen Kopien Sinn macht. Der nicht-physisch existierende Film bräuchte ein neues Vertriebssystem, das die Kunstschaffenden zwar schützt, aber den Kinobetreibern, insbesondere den kleinen, mehr Raum für ein freieres, wilderes und

Pedro Costa: »Horse Money« Filmdienst 07 | 2017

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KINO ZUKUNFT DES KINOS

UNWIRKLICHE BILDER DER WIRKLICHKEIT

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»ZUMINDEST ERMÖGLICHT DAS DIGITALE EINE NEUE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM WESEN VON BILDERN. DIESE IST IN UNSERER ZEIT VON GROSSER WICHTIGKEIT, GANZ EINFACH, WEIL ES Ang Lee: »Die irre Heldentour des Billy Lynn«

Dabei könnte aus der Ohnmacht der Unmöglichkeit dieser Imitation durchaus etwas Spannendes entstehen. Das zeigt sich etwa im Umgang mit Licht in den Werken des portugiesischen Filmemachers Pedro Costa, der das Digitale benutzt, um unwirkliche Bilder der Wirklichkeit herzustellen. Die Verwendung sehr kleiner, unauffälliger Kameras ermöglicht ihm eine besondere Nähe zu den Menschen vor der Kamera. Nicht der einschüchternde Apparat mit dem magischen, aber auch furchterregenden Rattern, sondern die kaum bemerkbare Mini-Kamera, leise wie eine Maus. Der Spanier Albert Serra nutzt die digitalen Kameras, um Einstellungen von einer Länge zu drehen, die mit analogem Film schlicht unmöglich wären. So lässt er die Kamera im Drehprozess manchmal einfach eine Stunde laufen. Ganz generell sind im Digitalen andere Konzepte von Zeit als im Analogen denkbar. Nicht nur durch die Dauer, sondern auch durch die Abstraktion und Mathematik zeitlicher Abläufe,

James Cameron: »Avatar«

unabhängigeres Programmieren gewährt. Auch die aufblühenden Streaming-Dienste müssen darin integriert werden. Es liegt durchaus im Interesse von Zuschauern, dass Filme online veröffentlicht werden, jedoch dürfte und sollte das nicht eine Kinoauswertung stoppen. Dazu wird es auch endlich neue Ansätze zum Thema »Copyright« geben müssen. Insbesondere für die immer wichtiger werdenden Filmmuseen, die den Dialog zwischen der Vergangenheit und der Zukunft der Kunstform am stärksten befördern. Es muss eine Form der rechtlichen Regulierung von Kreativität geben, die die Kreativität nicht einschränkt. Ähnliches gilt auch für das Filmemachen. Dort führen Filmemacher wie Wang Bing, Lav Diaz oder Albert Serra vor Augen, dass das Digitale nicht nur ästhetisch, sondern auch bei den Produktionsverhältnissen neue Freiheiten eröffnet. Die meisten jungen Filmemacher aber orientieren sich, angeleitet durch die Filmhochschulen, an einem Drehmodell aus der Analogzeit, was dazu führt, dass digitale Produktionen niemals billiger sind als analoge, obwohl für das Filmmaterial kaum Kosten anfallen. Man pflegt einen elitären Gestus, eine Professionalität, die nichts mit Wahrnehmung und Haltung zu tun hat, sondern einem »Alexa«- oder »Red«Kamerawahnsinn huldigt. Das Digitale imitiert dann im Regelfall das Analoge. Es kommt zu einem einheitlichen Look.

SO VIELE BILDER GIBT.« die nicht mehr an ein Medium gebunden sind. Spannend sind auch neue narrative Ideen wie im Fall von Martin Scorsese, der in »Silence« in einer furiosen Schlusseinstellung das Digitale und den Bildglauben vereint und damit sehr viel über die Unsicherheit des digitalen Zeitalters erzählt. Der Verfall des Analogen muss wie die Unsicherheit des Digitalen als Grundzustand des Kinos akzeptiert werden. Ihre Moral ist nicht grundverschieden. In beiden Medien ist eine Aufführung etwas Einmaliges und kann von Menschen wie Maschinen beeinflusst werden. Natürlich sollte man versuchen, Filme für die Nachwelt aufzubewahren, und zwar möglichst in dem Format, in dem sie hergestellt wurden. Dennoch staunt man angesichts des Unverständnisses darüber, dass es keine »Rettung« des Filmschaffens auf breiter Form geben kann. Allein die im Jahr 2016 entstandenen unzähligen Stunden an Bewegtbild-Material können unmöglich für alle Zeiten aufbewahrt werden. Weder hilft es, wenn alles auf Festplatten gespeichert wird, noch wenn alles auf Filmrollen kopiert wird. Das Verschwinden von Filmen ist Teil der Filmgeschichte. Im Analogen stirbt ein Film mit jedem Sehen, im Digitalen nagt eine unsichtbare Zeit an Daten. In beiden Fällen muss eine Auswahl getroffen werden, und selbst die ist nicht sicher vor dem Verschwinden. Was man tun kann, ist, so gut es geht dagegen anzukämpfen, und dafür sind die neuen Technologien sehr wertvoll. Sie sollten dafür genutzt werden, nicht zehn Restaurationen des großen Meisterwerks, sondern ein möglichst breites Bild des Filmschaffens zu erhalten. Warum? Weil sich so nicht nur ein Eindruck des Mediums des analogen Films über die Zeit retten lässt, sondern Eindrücke von der Welt. In diesem Zusammenhang ist es genauso wichtig, wer diese Auswahl trifft, wie wer Filme macht.


ZUKUNFT DES KINOS KINO

S I EG F R

FRAGILITÄT UND MANIPULIERBARKEIT MACHT UNS DAS BEWUSSTER.«

Wang Bing: »San Zimei«

ENDIUM

TÄUSCHEN. DAS DIGITALE IN SEINER

TIP

»BILDER KONNTEN SCHON IMMER

die Entwicklungen heute immer inflationärer zu sein. Eine Tendenz, die schon im Analogen begann, etwa mit der Vertriebspolitik von Blockbustern. Könnte ausgerechnet im Digitalen ein Widerstand gegen die Bildinflation entstehen? Zumindest ermöglicht das Digitale eine neue Auseinandersetzung mit dem Wesen von Bildern. Diese ist in unserer Zeit von großer Wichtigkeit, ganz einfach, weil es so viele Bilder gibt. Durch die Manipulierbarkeit des Digitalen kann ein Zweifel etabliert werden, der unabdingbar ist für eine emanzipierte Weltanschauung. Bilder konnten schon immer täuschen. Das Digitale in seiner Fragilität und Manipulierbarkeit macht uns das bewusster. Vergessen werden darf auch nicht, dass das Kino eine Erfahrungswelt permanenter und sinnlicher Erziehung sein kann, nicht nur ein Moment, der als »Event« existiert und präsentiert wird. So absurd es auch klingen mag: Gerade dies ist im Digitalen ohne Objektkult eher möglich als im Analogen. Allerdings sieht die Realität aktuell in vielerlei Hinsicht anders aus. Es wäre am Kino, dagegen anzukämpfen. đ

KRACAUER S

WIR MÜSSEN UNS DARAN ERINNERN, WARUM WIR FILME SEHEN Dies sind einige Forderungen und grobe Ansatzpunkte, die letztlich vor allem eine mögliche Euphorie beschreiben, die zu leicht in Zynismus, Zweifel und Nostalgie erstickt wird. Muss denn Filmgeschichte immer nur von ihrem eigenen Ende erzählen? Jede Veränderung, so auch jene des Digitalen, wird als finaler Unheilsbringer einer geradlinigen Geschichte verstanden. Es geht aber weniger darum, Dinge vorherzusehen, als sie einzufordern. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, warum wir Filme sehen. Will man etwas verstehen, erleben, erfahren? Will man, dass sich Gefühle wiederholen, oder will man lernen, anders zu sehen und zu denken? Gehen wir ins Kino, um zu vergessen? Wollen wir allein sein oder unter Menschen? Es ist wichtig, uns diese Fragen zu stellen, weil ontologische Fragen sich nicht aus theoretischen Strukturen, sondern den tatsächlichen Realitäten einer Kunstform nähren. Vieles deutet derzeit auf eine Aufsplitterung dessen hin, was hier unter dem Begriff des Kinos entfaltet wird. Wenn Filmemacher wie Alejandro González Iñárritu oder David Fincher künftig Serien für Streaming-Dienste drehen und Filme auf Netflix oder Amazon Prime exklusiv gezeigt werden, dann kann man das nur schwer als Kino fassen. Auf der anderen Seite haben viele Filmemacher bereits in den 1950er-Jahren Folgen für Fernsehserien inszeniert. Allerdings scheinen

Lav Diaz: »Ang Babaeng Humayo«

Fotos: Concorde/Wild Bunch/Sony/ Grandfilm/Twentieth Century Fox/Album Prod./Sine Olivia Pilipinas

ED

I

Patrick Holzapfel (geb. 1989 in Augsburg) lebt und arbeitet in Wien. In diesem Jahr erhielt er das »Siegfried-Kracauer-Stipendium«, mit dem der Verband der deutschen Filmkritik gemeinsam mit der MFG Filmförderung Baden-Württemberg und der Filmund Medienstiftung NRW jährlich einen herausragenden Kritiker fördert. In diesem Rahmen entsteht die sechsteilige EssayReihe »Die Zukunft des Kinos«, die im Lauf des Jahres im FILMDIENST erscheint. Die einzelnen Kapitel: 2016–2000: Die Chancen der Digitalisierung (Artikel in dieser Ausgabe) 1999–1977: Distribution und Ideologie 1976–1968: Revolution und Freiheit 1967–1946: Cinephilie und Kultur 1945–1916: Stars und Massen 1915–1895: Erfindergeist und Unschuld Zudem ist auf der Website www.filmdienst.de ein Blog von Patrick Holzapfel nachzulesen. Unter dem Titel »Squirrels to the Nuts« widmet er sich dem politischen Kino und fragt nach Möglichkeiten filmischen Widerstands in politisch aufgeheizten Zeiten.


KiNo Ghost in the shell

Menschen in Maschinen

Ein rEflEkTiErEndES »ich« AuS dEm World WidE WEb

Träumen denn nun Androiden von elektrischen Schafen? Eine der spannendsten Fragen der jüngeren Kulturgeschichte blieb auch nach Ridley Scotts »Blade Runner« (1982) wenig erschöpfend beantwortet. Schlimmer noch: 13 Jahre nach Scotts visionärer Science-FictionAllegorie stellte ein japanisches Anime weit ungeheuerlichere Fragen. Hat die Ziffernfolge von Einsen und Nullen denselben Wert wie das menschliche Gehirn? Sind beide gar gleichberechtigte Träger einer Seele? Und: Ist es das Ziel eines Computerprogramms, Vollkommenheit zu erlangen, indem es sterblich wird? Waren Golem und Co., so Stanisław Lem, »die ›Urroboter‹, diese literarischen Prototypen aus früheren Jahrhunderten, gewöhnlich (nur) böse oder zumindest unheimlich«, sind die ersten mechanischen Roboter der Science-FictionLiteratur bereits mit normativen Regeln gefüttert, die sie dem Menschen zumindest Untertan machen sollen. Die drei Gesetze der Robotik, erfunden von Isaac Asimov, schützen den Menschen vor der Maschine, allerdings die Maschine nicht vor seinen Konstrukteuren und schon gar nicht vor der Software, die in sie eindringt.

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Im Kino der 1980er- und 1990er-Jahre herrschte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz noch der pure Unterhaltungstrash. Roboter-Gesetze, Gewissen oder gar eine Seele spielten kaum eine Rolle, Science Fiction im Sinne von Lem fand

auf wissenschaftlich untermauerter Basis nicht statt. In futuristisches Gewand gekleidete, mehr oder minder gelungene Action-Heroen gewannen die Oberhand: »Robocop«, »Johnny Mnemonic«, »Terminator« oder »Cherry 2000«. Nicht nur die Maschinen, sondern auch der ScienceFiction-Film schien seine Seele – so er denn je eine hatte – verloren zu haben. Einzig Andrew Niccols Film »Gattaca« (1997) bot als Utopie über das moralische Scheitern einer genetisch hochgezüchteten, entmenschlichten Menschheit ein reflektiertes Szenario – und natürlich Ridley Scotts Replikanten-philosophisches Traktat »Blade Runner«.

d i e Vo r g e sc h i c h t e zuM neuen KinofilM: der aniMe-KlassiKer » g h o st i n t h e s h e l l « Eine zum Teil sehr radikale Auseinandersetzung mit dem Mensch in der Maschine fand indes nicht in Hollywood statt, sondern in Japan, und das auf mannigfaltige Weise. Die Mangas und ihre Visualisierungen für die Kinoleinwand und/oder fürs Heimkino leisteten wertvolle Grundlagenarbeit. Im avantgardistischen japanischen Kino gab es wütende Filmexperimente wie »Tetsuo« (1990) von Shinya Tsukamoto, der in seinem Mutationsfilm nicht nur die seelische, sondern auch die rein physische Präsenz des Menschen in Frage stellte und den Sieg des Metalls über das Fleisch konstatierte. Im publikumswirksameren Anime gab es »Ghost in the Shell« (1995), in dem Mamoru Oshii (nicht nur) darüber philosophierte, ob die mit humanoiden Restzellen bestückten Androiden der Zukunft eine Seele haben können, womit er den »Blade Runner«-Diskurs weiterführte. Darüber hinaus stellte Oshii in seiner von MangaAutor Masamune Shirow inspirierten und von Kazunori Itō in ein meisterliches Drehbuch verarbeiteten Vision fest, dass in den Fluten des World Wide Web ein reflektierendes »Ich« entstehen könne, das sich nach einer physischen Materialisierung sehnt. Oshii verstörte sein Publikum (zumindest das westliche) auf vielfache Weise: Als einer der ersten animierten japanischen Kinofilme kombinierte er in »Ghost in the

Shell« traditionelle, handgemalte 2D-Cells mit computeranimierten Hintergründen. Der Film richtete sich mit seiner ruhigen


Ghost in the shell KiNo

1995 entstand der japanische Animationsfilm »Ghost in die Shell«, der zum Klassiker avancierte und als bislang bedeutendstes Beispiel der Manga-Trickfilmgattung gilt. Die Geschichte einer jungen, zur Hälfte aus künstlichen Organen bestehenden Frau und ihres Kampfes gegen den manipulativen »Puppenspieler« fragt, formal bestechend, nach dem Sinn der Existenz in einer zusehends virtuellen Welt. Ein Blick auf die Zusammenhänge anlässlich des Kinostarts der Realverfilmung des Sujets. Von Jörg Gerle Inszenierung, aber auch mit seiner expliziten Gewalt und seiner nicht auf ein Happy End ausgerichteten Erzählweise dezidiert an erwachsene Zuschauer; vor allem im Westen zeigte sich ein jugendliches, eher an Action orientiertes Publikum an der philosophischen Ausrichtung weitgehend desinteressiert. Ein Grund auch dafür, dass »Ghost in the Shell« erst nach seiner Videoauswertung in die Abendvorstellungen einiger deutscher Kinos gelangte. GEborEn im mEEr dEr informATionEn

Fotos: Nipponart, Paramount

Das Anime entwickelte das epische, betont handlungsarme Szenario einer verfallenen Zukunftswelt im Jahr 2029,

getragen von der suggestiven Sakralmusik Kenji Kawas. Zwischen dreckigen Hinterhöfen und Kanji-Werbebannern suchen Menschmaschinen den so genannten Puppet Master, der die Computerhirne der Cyborgs und die Köpfe der immer mehr aufgerüsteten Menschen befällt und kurzschließt. Ist der Puppet Master gar Gott, der den Maschinen einen »Ghost«, eine Seele, einimpft? Mitnichten. Vielmehr ist er das Software-Derivat eines Regierungsprojekts namens 2501, das sich selbstständig einen Körper der Cyborgfirma Megatec erschafft, um in der (menschlichen) Welt unterzukommen. »Als selbsterhaltendes Programm bitte

ich um politisches Asyl«, sagt es unerhört im Film. Und weiter: »Letztendlich ist doch auch die DNA nichts anderes als ein sich selbst erhaltendes Programm«, um mit einem der denkwürdigsten Sätze der Filmgeschichte zu enden: »Ich bin eine eigene Lebensform, die im Meer der Information geboren wurde.« »Ghost in the Shell« war ein bahnbrechendes Anime voller subversiver Gedanken, die im Jahr 1995 vielleicht erahnt wurden, aber erst heute eine ungeheuerliche Dimension erhalten. Jetzt, wo man gerade erst um die Gleichberechtigung des menschlichen und des tierischen Selbsts vor Gericht kämpft, wird schon bald das der Maschine hinzukommen. Im Zwiegespräch der beiden zentralen Protagonisten, den Menschmaschinen Batou und Motoko, sagt Batou: »Woran denkst du?« Motoko antwortet: »Wenn man wie ich ein vollständiger Cyborg ist, dann macht man sich Gedanken über seinen Ursprung. Vielleicht bin ich schon lange tot, und meine jetzige Person ist nur künstlich; eine Scheinperson aus Cyberhirn und Cyberkörper. Oder vielleicht habe ich von Anfang an nie existiert?« Batou: »Aber in deinem Titanschädel findet sich doch immer noch eine ganze Menge menschliche Gehirnzellen!!« Motoko: »Letztlich aber definiere ich mich doch nur über meine Umwelt. Ich glaube lediglich, dass ich existiere. Was, wenn ein Cyberhirn selbst einen ›Ghost‹ erschaffen kann? Er

hat dann eine eigene Seele. Die gesamte menschliche Existenz wäre damit bedeutungslos.« »Ghost in the Shell« endete 1995 mit der Apotheose von der Verschmelzung zweier Gehirne und zweier Seelen, einem quasi menschlichen und einem quasi maschinellen Paar. Ihr Produkt, eine neue Spezies, ist seitdem verschollen im World Wide Web. Auch in Oshiis Fortsetzung »Ghost in the Shell 2 – Innocence« (2004) gab es dazu nur ein vages Intermezzo aus dem Off. Seine »genetischen« Informationen an nachfolgende Generationen weiterzugeben und mithin als sterblicher Teil dem »großen Ganzen« zu dienen – diese Vorstellung ist für den Puppet Master bei Mamoru Oshii die Krönung des Cyber-Daseins. Über Fortpflanzung und Tod wird die Maschine Mensch – was für eine fantastische, aberwitzige, göttliche Vorstellung. »Ghost in the shell« Japan 1995 Regie: Mamoru Oshii 25 Jahre Jubiläums-Edition (Blu-ray, Mediabook) FSK: ab 16 Anbieter: Nipponart Special Features: zwei deutsche Synchronisationen zwölfseitiges Booklet, Making-of

Die US-amerikanische Realverfilmung von »Ghost in the Shell« (Verleih: Paramount) startet am 30. 3. 2017 im Kino (Kritik in dieser Ausgabe)

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KRITIKEN NEUE FILME

Lakonische Utopie über Menschlichkeit von Aki Kaurismäki

»Traurige Menschen bekommen kein Asyl«, weiß Khaleds Freund und rät ihm deshalb, fröhlich auszusehen. Aber das Lächeln ist dem jungen Mann längst vergangen. Seine Familie ist bei einem Bombenangriff umgekommen. Sie saßen gerade am Mittagstisch; nur er und seine Schwester Miriam blieben verschont. Sie gruben in den Trümmern und fanden nur leblose Körper. Von da an hielt die Geschwister nichts mehr in Aleppo. Bei ihrer Odyssee durch Europa wurde Khaled von seiner Schwester getrennt. Durch Zufall landete er schließlich im Hafen von Helsinki und damit in einem Land, das es so nur im Kino gibt. Es ist das Land der mechanischen Schreibmaschinen, der grauen Wählscheibentelefone und der wortkargen Frauen und Männer, aus deren Blick die Melancholie nicht weichen will. Es ist das Finnland von Aki Kaurismäki, eine aus der Zeit gefallene Welt, die in »Die andere Seite der Hoffnung« mit einer hoch politischen Gegenwart konfrontiert wird. Die Szene, in der der Asyl suchende Khaled einer finnischen Beamtin seine Geschichte erzählt und sein Gesicht die ganze Leinwand füllt, gehört zu den stärksten des Films. Auf der diesjährigen »Berlinale« wurde Kaurismäki

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dafür mit einem »Silbernen Bären« geehrt. Khaled aus Syrien reiht sich ein in all die Verlorenen, Außenseiter und Heimatlosen, die der finnische Regisseur in seinem 30-jährigen Filmschaffen immer wieder in den Blick genommen hat, zuletzt in »Le Havre« (2011), in dem der Schuhputzer Marcel in der titelgebenden Hafenstadt einen illegal eingereisten Jungen aus Gabun vor der Polizei versteckt und hilft, zu seiner Mutter nach London zu kommen. Kaurismäki öffnete in diesem Film seinen Kosmos für die sozialpolitischen Nöte der Gegenwart und überraschte durch eine gewisse Zuversicht. Auch Khaled findet in »Die andere Seite der Hoffnung« einen Schutzengel: Der Anzugträger Wikström ist wie der junge Syrer in ein anderes Leben und in eine ungewisse Zukunft aufgebrochen, wenngleich aus anderen Gründen. In der Lebensmitte angekommen, hängt er seinen Job als Handelsvertreter von Oberhemden an den Nagel, verlässt seine trinkende Ehefrau und kauft mit dem Gewinn aus einem Pokerspiel das Restaurant »Zum goldenen Krug« samt Personal. Hier werden Sardinen in der Dose serviert, während der Koch mit Kippe im Mund und Kochlöffel in der Hand stehend schläft. Hier,

neben den Mülltonnen im Hof, findet Wikström Khaled, der vor der Abschiebung flüchtete und diese verborgene Ecke als Schlafplatz auserkoren hat. Ein Faustkampf endet zwar mit blutigen Nasen, aber kurz danach sitzen Khaled und Wikström gemeinsam an einem Tisch. Underdogs halten zusammen. Das ist ein Glück für Khaled, der mit falschen Papieren ausgestattet wird, im Restaurant kleine Jobs übernimmt und sich so auf die Suche nach seiner Schwester machen kann. Kaurismäki entwirft keineswegs ein differenziertes Bild der globalen Flüchtlingskrise. Dazu gibt es bessere Filme. Seine Geschichte, die er in tableauartigen Bildern und mit lakonischem Tonfall erzählt, ist in ihrer Einfachheit geradezu verkürzt. Hier sind die Guten (Wikström und seine Angestellten beispielsweise), dort die Bösen (der herzlose Beamtenapparat, die tumben Schläger der »Liberation Army Finland«). Aber gerade diese Reduktion lenkt den Blick auf das Wesentliche: Wikström sieht in Khaled nicht den Fremden oder gar die Bedrohung, sondern erkennt in ihm seinesgleichen: einen Menschen. Einen Menschen in Not. Deshalb zögert er keine Sekunde, das einzig Richtige zu tun, nämlich zu helfen, wo er nur

BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION

Ein junger Syrer, dessen Familie im Bürgerkrieg fast komplett getötet wurde, kommt nach seiner Flucht quer durch Europa nach Finnland, wo er Asyl beantragt, dann aber untertaucht, als man ihm dies verwehrt. In dem wortkargen Neubesitzer eines schäbigen Restaurants findet er einen unerwarteten Beschützer, der ihn in seine exzentrische Belegschaft aufnimmt. Eine mitunter märchenhaft anmutende Tragikomödie, in der Aki Kaurismäki das mit viel Respekt behandelte Flüchtlingsschicksal meisterhaft mit grandiosen Szenen seines lakonischen Humors verknüpft. In der Zeichnung der politischen Hintergründe erhebt sein Film keine Anklage, spricht sich dafür aber nachdrücklich für Mitgefühl, Solidarität und Humanismus aus. – Sehenswert ab 12.

TOIVON TUOLLA PUOLEN. Finnland/Deutschland 2017 Regie: Aki Kaurismäki Darsteller: Sherwan Haji (Khaled), Sakari Kuosmanen (Wikström), Janne Hyytäinen (Nyrhinen), Ilkka Koivula (Calamnius), Nuppu Koivu, Simon Hussein Al-Bazoon Länge: 98 Min. | Kinostart: 30.3.2017 Verleih: Pandora | FD-Kritik: 44 575

Fotos S. 36–53: Jeweilige Filmverleihe

Die andere Seite der Hoffnung

kann. So ist der Film trotz seines zeitweiligen Abdriftens in den Klamauk, wenn das Restaurant beispielsweise auf Sushi umsattelt und der Koch zentimeterdick Wasabi auf die Fischhappen schichtet, ein ernstgemeinter Hieb gegen Fremdenhass und eine Bürokratie, die Einzelschicksale aus den Augen verliert. Mehr noch: ein drängendes Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität. Das verströmt in der gegenwärtigen Zeit fast schon etwas Utopisches, aber nichts Märchenhaftes. Denn ob es für Khaled ein »glücklich bis in alle Ewigkeit« gibt, ist längst nicht ausgemacht. Sein Lächeln aber hat er am Ende wiedergefunden. Kirsten Taylor


NEUE FILME KRITIKEN

Life

Klaustrophobischer Science-Fiction-Horror Alles fließt an Bord, zuallererst die Kamera von Seamus McGarvey, die in aufreizender Langsamkeit die Gänge der International Raumstation durchfährt, sich kurz an die schwebende Figur eines Crewmitglieds hängt, dann bei einem anderen verweilt und schließlich mit großer Aufmerksamkeit den Trudelflug einer Packung Astronautennahrung beobachtet. Diese Fließbewegung verhält sich sonderbar kontrapunktisch zur Dringlichkeit, die jeder an Bord behauptet, sie setzt das orchestral unterstützte Erhabene gegen die menschliche Technik, gegen das menschliche Wort, womöglich gar gegen das menschliche Gefühl. Was geht da vor sich? Eine Sonde kommt vom Mars mit wertvoller Fracht, sie ist aus der Bahn geraten, droht die Station zu verfehlen. Der Techniker Roy Adams, von Ryan Reynolds mit einer proletarisch-kumpelhaften Kraftmeier-Attitüde gespielt, die so gar nicht zu seinen Kollegen und zum Film generell passen will, bereitet sich auf einen Weltraumspaziergang vor, um das Gerät abzufangen. Die Operation gelingt. An Bord kommt ein Organismus, der erste Beweis für Leben außer-

halb der Erde. Dort gerät über dieser Nachricht alles außer sich, auf dem New Yorker Times Square versammeln sich die Massen, um das Wesen »Calvin« zu taufen. Oben füttert derweil der Biologe Hugh Derry diesen Calvin mit Wärme und Glukose und siehe da: ein zartes Tier mit Extremitäten, die aussehen wie geäderte Blättchen, umtanzt seinen Handschuh mit scheinbarer Zuneigung. Jede Zelle, stellt Derry bewundernd fest, sei Muskelzelle, Hirnzelle und Wahrnehmungsapparat in einem. Für ein zeitgenössisches Publikum scheint es kaum möglich zu sein, auf Calvin zu schauen, ohne an Ridley Scotts »Alien« (1979) zu denken und an all die ähnlichen Stoffe, die davor oder danach kamen – eine Ahnenreihe, in die der Film von Daniel Espinosa sich viel nahtloser einreiht als in die zeitgenössische Science Fiction rund um »Der Marsianer«, den ebenfalls Ridley Scott inszenierte, oder Produktionen wie »Gravity«, »Interstellar« oder »Arrival«. Dennoch fehlt es zunächst an jeder Bedrohlichkeit: Nach ihrem majestätischen Schweben durch die Korridore heftet sich die Kamera nahe, ungewöhnlich

nahe an die Gesichter ihrer Figuren, an das der russischen Kommandantin Ekaterina Golovinka, an den Steuerungsund Kommunikationsexperten Sho Murakami, an die Mediziner Miranda North und David Jordan. Auch wenn das Filmmarketing eifrig die Stars in Stellung bringt, den schönen Reynolds neben Jake Gyllenhaal und Rebecca Ferguson, so handelt es sich in Wahrheit um einen Ensemblefilm. Und auch nachdem Calvin ausgebrochen ist und begonnen hat, eine mörderische Spur in der ISS zu hinterlassen, zeigen die Mitglieder der Besatzung noch im Sterben, welche Bedeutung das Menschliche für die Filmemacher hat. Jeder Tod ist hier ein Todeskampf, qualvoll langsam, dadurch anteilnehmend und kaum spektakulär. Calvin durchbohrt, zerfetzt, enthauptet nicht; er nimmt seine Opfer in eine tödliche Umarmung, er fährt in sie hinein, er quetscht, zerdrückt. Er überführt die Neugier und das Staunen über sein Design in ein Art Empathie für die, die in seinem Weg schweben. Dieser Effekt der Schwerelosigkeit, des nur scheinbar ungehinderten Driftens durch den Raum, verspricht eine Freiheit, die von den klaustro-

phobisch engen Gängen der ISS, nachgebaut von Produktionsdesigner Nigel Phelps, sofort widerlegt wird. Es stimmt schon, dass hier alles hier fließt, aber alles ist auch so wahnsinnig dicht beieinander, eine Dichte, die bei Espinosa geradezu physisch zu spüren ist. Die wuchtigen Metall-Ungetüme, in deren verzweigten Systemen die Monster aus dem All sich sonst so häufig verstecken, ziehen sich hier in funktionaler Komprimierung zusammen. Wer davonkommen will, muss sich von Wand zu Wand stoßen wie im Strömungsbad. Die Greifarme aber sind überall ganz nahe. Tim Slagman

BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION

Eine Forschungssonde bringt vom Mars einen außerirdischen Organismus auf die Internationale Raumstation ISS. Das »Calvin« getaufte Wesen entpuppt sich zunehmend als aggressiv und tödlich. In Anlehnung an vergleichbare »Alien«-Sujets widmet sich der Science-FictionThriller mit großer Sorgfalt den Figuren und ihrem bewegenden Überlebenskampf. Der fast durchgängig in der Schwerelosigkeit spielende Film erzeugt durch die Kombination von Schweben und klaustrophobischer Enge während der Flucht- und Verfolgungssequenzen ein hohes Maß an Spannung. – Sehenswert ab 16.

LIFE. Scope. USA 2017 Regie: Daniel Espinosa Darsteller: Jake Gyllenhaal (David Jordan), Rebecca Ferguson (Miranda Bragg), Ryan Reynolds (Roy Adams), Hiroyuki Sanada (Sho Kendo), Ariyon Bakare (Hugh Derry), Olga Dykhovichnaya Länge: 104 Min. | Kinostart: 23. 3. 2017 Verleih: Sony | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 44 576

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NeUe FilMe Auf DvD / Blu–RAy

Wo die wilden Menschen jagen

Bezaubernder Coming-of-Age-Abenteuerfilm aus Neuseeland

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Aberwitzige Szenen und Dialoge und vor allem eine tiefe Menschlichkeit: das sind die Eckpunkte der Filme von Taika Waititi (»5 Zimmer, Küche, Sarg«, demnächst »Thor: Ragnarök«) seit seinem preisgekrönten Kurzfilm »Two Cars, One Night« über zwei Maori-Kinder, die sich in einem rotzigen verbalen Schlagabtausch kennenlernen, während ihre Väter sich in einem Pub betrinken. Nun hat Waititi frei nach dem Roman »Wild Pork and Watercress« von Barry Crump ein Road Movie ohne Straßen gedreht und – erneut – eine Liebeserklärung an seine Heimat Neuseeland und deren Bewohner, ein Buddy Movie und einen Coming-of-AgeAbenteuerfilm. Und wieder einmal stehen zwei grundverschiedene Figuren im Mittelpunkt, die sich erst einmal zusammenraufen und Gemeinsamkeiten finden müssen. Sonderlich originell mag das nicht klingen. Aber Waititi erzählt diese bekannte Geschichte zweier Außenseiter derart charmant und leichtfüßig, dass man sich ihr schwer entziehen kann, und wechselt fließend zwischen absurder Komik und Drama. So skurril die Situationen auch werden, so grundehrlich und authentisch wirken die beiden Hauptfiguren. Ricky und Hec, großartig gespielt von Nachwuchsdarsteller Julian Dennison und Altstar Sam Neill, haben Ecken und Kanten und sind alles andere als perfekt. Zudem sind die Rollen von Schüler und

Lehrer weitaus nicht so klar verteilt, wie es zunächst den Anschein hat. Immer wieder gelingen Waititi ruhige Szenen, in denen eine ungeahnte Tiefe hinter den Figuren zum Vorschein kommt und zu spüren ist, dass es hier trotz aller Lust an der Übertreibung ganz grundsätzlich um die Bedeutung von familiärer Geborgenheit geht – und was es bedeutet, wenn diese nicht gegeben ist. Mit einer großen Freude verneigt sich Waititi augenzwinkernd vor den Filmen von Peter Weir, vor George Millers »Mad Max«-Reihe und Peter Jacksons »Herr der Ringe«-Trilogie, macht zwei liebenswerte Figuren zu Outlaws und eine Sozialarbeiterin zum Cop nach Hollywood-Vorbild, während der Soundtrack bisweilen an Achtziger-Jahre-Synthie-Pop erinnert und dem Film eine gewisse Nostalgie und Melancholie verleiht. »Wo die wilden Menschen jagen« ist ebenso aus der Zeit gefallen wie mitten in der Welt verortet. Oder besser: Im neuseeländischen Busch. – Sehenswert ab 12. Stefan Stiletto HUNt For tHe WilderPeoPle Neuseeland 2016 regie: Taika Waititi darsteller: Sam Neill, Julian Dennison, Rhys Darby länge: 97 Min. | FSK: ab 12 anbieter: Sony Fd-Kritik: 44 608

Fotos: Jeweilge Anbieter

Eine bessere Pflegemutter als Bella hätte Ricky Baker sich nicht vorstellen können. Liebevoll kümmert sie sich um den dreizehnjährigen Jungen, der als schwierig gilt und von einer Familie zur nächsten gereicht wurde. Jetzt hat die Kinderfürsorge ihn zu Bella und ihrem schweigsamen Mann Hec gebracht, die auf einer abgelegenen Farm in Neuseeland leben. Vorbereitete Wärmflaschen im Bett, Pfannkuchen zum Frühstück und ein aufmunterndes Geburtstagsständchen: so etwas kannte Ricky bislang nicht. Doch kaum hat Ricky sich an seine neuen Eltern gewöhnt, stirbt Bella plötzlich und Ricky soll schon wieder in eine andere Familie gebracht werden. Weil er sich nicht länger herumschubsen lassen möchte, nimmt Ricky sein Leben kurzerhand selbst in die Hand. Allein und unbedarft flieht der dicke, unsportliche Junge in die Wildnis – und scheitert wie erwartet. Bald muss er sich mit Hec verbünden, dem der redselige Junge zunächst eine Bürde ist, bald Polizisten, Rangern und Helikoptern der Armee ausweichen, die nach den beiden Ausreißern suchen und Hec sogar für einen Entführer halten. »Leave no kid behind« wiederum lautet das Motto der energischen Sozialarbeiterin Paula, die sich an die Fersen von Ricky und Hec heftet. Und wenn es um das Glück von Ricky geht (oder das, was sie für dessen Glück hält), kennt Paula keinen Spaß.


KRITIKEN FERNSEH-TIPPS

DO

14. & 15. April, 20.15 – 21.45 Das Erste

DONNERSTAG 13. APRIL

Die Dasslers – Pioniere, Brüder und Rivalen

20.15 – 22.20 kabeleins Sleepy Hollow R: Tim Burton Aufklärerischer Ermittler gegen köpfenden Geister-Reiter USA 1999 Ab 16 22.15 – 00.25 Servus TV Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa R: Lasse Hallström Humorvolles Kleinstadtporträt USA 1993 Sehenswert ab 14 23.15 – 00.50 SWR Fernsehen Die Opfer – Vergesst mich nicht R: Züli Aladag Die NSU-Morde aus Sicht der Angehörigen Deutschland 2016 Sehenswert ab 14 00.25 – 02.45 Servus TV Der Gefangene von Alcatraz R: John Frankenheimer Mörder wird in Haft zu Vogelexperte USA 1961 Sehenswert ab 16 01.15 – 02.40 rbb Fernsehen Am Himmel der Tag R: Pola Beck Facettenreiches Frauenfreundschaftsdrama Deutschland 2012 Sehenswert ab 16

13. April, 20.15 – 22.20

Zweimal Johnny Depp: Sleepy Hollow & From Hell

Demnächst wird sich Johnny Depp einmal mehr auf den Weltmeeren mit untoten Piraten herumschlagen, wenn am 25. Mai der fünfte Teil der »Pirates of the Caribbean«-Serie startet. Reichlich Erfahrung mit dem Unheimlichen konnte Depp auch schon vor seinem Dauereinsatz als Captain Jack Sparrow sammeln, nicht zuletzt dank seines Stammregisseurs Tim Burton. Der besetzte ihn 1999 in einer ebenso gruseligen wie hintersinnig-romantischen Version von »Sleepy Hollow« als Ichabod Crane, der im Provinzstädtchen Sleepy Hollow einem geisterhaften, mörderischen Reiter das Handwerk legen soll. Wie in der »Fluch der Karibik«-Reihe ist auch hier die Schauerlichkeit des Sujets gemildert durch morbiden Humor. Nicht so im Thriller »From Hell«, den kabeleins im Anschluss um 22.20 zeigt: Der »Jack the Ripper«-Stoff, in dem Depp als drogensüchtiger Inspektor den Ripper jagt, ist konsequent düster.

ERSTAUSSTRAHLUNG: 14. April, 06.40 – 08.45

Saving Mr. Banks

kabeleins

RTL

Mittlerweile ist die Disney-Adaption von P.L. Travers’ Kinderbuch »Mary Poppins« (1964) längst ein vielgeliebter Klassiker. Dass der Film, der Real- und Zeichentrickfilm mischt und Julie Andrews als zauberhaftes (und sangesfreudiges) Kindermädchen zu Höchstform auflaufen lässt, fast nicht zu Stande gekommen wäre, weil die Autorin sich lange sträubte, Disney die Verfilmungsrechte an dem Stoff zu überlassen, davon erzählt »Saving Mr. Banks«. Auf zwei Zeitebenen, der Kindheit von P.L. Travers in Australien und ihrem Aufenthalt im Hollywood der 1960er-Jahre, geht der Film der Frage nach, warum sich die Schriftstellerin so schwer damit tat, ihre »Mary Poppins« dem amerikanischen Zeichentrick-König anzuvertrauen. Vergnüglich ist dabei vor allem die komödiantisch auf die Spitze getriebene Kluft zwischen den Angestellten des Disney-Studios und der von Emma Thompson verkörperten Schriftstellerin: Die poppig-bunten »Swinging Sixties« treffen hier auf in Tweed gepackte Distinguiertheit.

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Zwei Brüder und eine Vision: der perfekte Schuh. Der Kampf um diese Vision hat die beiden wohl bekanntesten deutschen Firmen jenseits der Autoindustrie hervorgebracht: Adidas und Puma. Nachdem sich bereits RTL 2016 an dem Thema versucht und Erfolgsstory und Familiendrama solide in Einklang gebracht hat (»Duell der Brüder«), schlägt das ÖffentlichRechtliche mit einem über Ostern zur Primetime gezeigten Zweiteiler nun den epischen Bogen. Die Feindschaft des Brüderpaars aus Herzogenaurach, das sich nie so ganz mochte, aber bis zum Zweiten Weltkrieg noch an einem Strang zog, bietet etliche Konflikte, Komplotte und familiäre Katastrophen. Mit Christian Friedel und Hanno Koffler sowie bis in die Nebenrollen (Hannah Herzsprung, Joachim Król, Christoph Maria Herbst) prominent besetzt, bietet der Zweiteiler Emotion pur. Wenn auch mitunter plakativ, ist das aufwühlend und unterhaltsam, ganz so wie in den Fernsehserien der 1980er Jahre à la »Dallas« und »Denver-Clan«.

ERSTAUSSTRAHLUNG: 14. April, 22.50 – 01.25

Boyhood

ZDF

Richard Linklaters Versuch, einen »Coming-of-Age«-Prozess in Spielfilmform auf die Leinwand zu bannen, mündete 2014 in einen der schönsten Filme das Jahres: »Boyhood« bringt seine Protagonisten dem Publikum so nahe, als gehörte man selbst zur Familie. In zwölf Drehjahren mit denselben Schauspielern realisierte Linklater das eindringliche Porträt der Kindheit und Jugend eines Jungen, der nach der Scheidung der Eltern mit seiner Schwester und Mutter in Texas aufwächst. Von der Einschulung bis zum College sowie in vielen Gesprächen und Alltagssituationen entfaltet sich die fesselnde Reduktion auf das gewöhnliche Leben als höchst ungewöhnliches Filmerlebnis. Mit hervorragend geschriebenen und gespielten Familienfiguren greifen der dokumentarische Gestus und der fiktive Inhalt in der Langzeitinszenierung virtuos ineinander.


FERNSEH-TIPPS KRITIKEN

FR

14. April, 22.45–00.55 BR FERNSEHEN

Das Gewand

Vor den Dreharbeiten zu »The Robe« (1953) nach dem Roman von Lloyd C. Douglas bekam Regisseur Henry Koster eine Woche Zeit, um sich mit dem neuen CinemaScopeVerfahren auseinanderzusetzen. Im Kampf gegen andere Breitwandverfahren und die wiederaufkommende Idee eines 3D-Kinos hatte sich 20th Century Fox für das anamorphotische Verfahren entschieden. Inszenatorisch stellte das Koster vor ziemliche Herausforderungen, da er die Kamera nicht schnell bewegen konnte und auch im Schnitt ungewohnte Restriktionen entdeckte. Seit der Uraufführung am 16.9.1953 in New York aber gilt der monumentale Bibelschinken als erster abendfüllender CinemaScope-Film. Richard Burton spielt den römischen Militärtribun Marcellus Gallio, der die Kreuzigung Jesu befehligt und beim Würfelspiel das Gewand des Gekreuzigten gewinnt. Was ihm kein Glück bringt. Auf einem langen Leidensweg aber wandelt er sich vom trunksüchtigen Choleriker zum aufrechten Menschen, bekehrt sich zum Christentum und stirbt unter Kaiser Caligula in Rom als Märtyrer.

FREITAG 14. APRIL

06.40 – 08.45 RTL Saving Mr. Banks R: John Lee Hancock »Mary Poppins«-Autorin vs. Walt Disney USA 2013 Ab 14

19.30 – 21.00 KiKA Das kleine Gespenst R: Alain Gsponer Liebenswerte Preußler-Adaption Deutschland/Schweiz 2013 Ab 6

22.50 – 01.25 ZDF Boyhood R: Richard Linklater Kindheit und Jugend in der US-Provinz USA 2014 Sehenswert ab 14

08.45 – 10.30 RTL Das große Krabbeln R: John Lasseter Animationsfilm voller witziger Details USA 1998 Sehenswert ab 6

20.15 – 21.45 Eine unerhörte Frau R: Hans Steinbichler Bäuerin kämpft für ihr krankes Kind Deutschland 2016

23.05 – 00.55 3sat Boulevard der Dämmerung R: Billy Wilder Tragödie einer Stummfilm-Diva USA 1950 Sehenswert ab 16

10.30 – 12.10 RTL Tarzan R: Kevin Lima Disney-Zeichentrick-Version des Dschungelhelden USA 1999 Ab 8 13.10 – 15.35 Die Chroniken von Narnia: Der König von Narnia R: Andrew Adamson Auftakt der »Narnia«-Reihe nach C.S. Lewis USA 2005

ZDF

Ab 10

13.40 – 15.25 arte Pünktchen und Anton R: Caroline Link Gelungene Kästner-Adaption Deutschland 1998 Sehenswert ab 8

arte

Ab 14

20.15 – 21.35 Disney Channel Bambi R: Walt Disney, David O. Hand Brillant animierter Zeichentrick-Klassiker USA 1942 Sehenswert ab 8 20.15 – 23.00 ProSieben Illuminati R: Ron Howard Tom Hanks ermittelt im Vatikan USA 2009 Ab 16 20.15 – 21.45 SUPER RTL Asterix und Kleopatra R: René Goscinny, Albert Uderzo Rundum gelungene Comic-Adaption Frankreich/Belgien 1968 Ab 6

17.30 – 19.00 3sat Käthe Kruse R: Franziska Buch Drama um berühmte Puppenmacherin Deutschland 2015 Ab 12

21.45 – 23.15 Das Erste Das Programm (Teil 1) R: Till Endemann Suggestiver Paranoia-Thriller Auftakt des Zweiteilers Deutschland 2015 Ab 14

17.50 – 19.55 Ein Chef zum Verlieben R: Marc Lawrence RomCom mit Sandra Bullock & Hugh Grant USA 2002

22.45 – 00.55 BR FERNSEHEN Das Gewand R: Henry Koster Monumentalfilm um das Gewand Jesu USA 1953 Ab 14

SAT.1

Ab 12

23.15 – 00.45 SWR Fernsehen Die Ermittler – Nur für den Dienstgebrauch R: Florian Cossen Die Skandale vor dem Aufdecken der NSU-Morde Deutschland 2016 Sehenswert ab 14 23.55 – 02.05 One Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra R: Matteo Garrone Aus der Alltag der neapolitanischen Camorra Italien 2008 Sehenswert 00.05 – 01.55 Servus TV Nur die Sonne war Zeuge R: René Clément Raffinierter Kriminalfilm Frankreich/Italien 1959 Ab 16 00.55 – 02.30 rbb Fernsehen Leergut R: Jan Sverák Lehrer rebelliert gegen Ruhestand Tschechien 2007 Ab 14 01.25 – 03.20 ZDF Shakespeare in Love R: John Madden Komödie über den englischen Dichter GB 1998 Sehenswert ab 14

Toni Erdmann

ONLINE-TIPP

Ein alternder Musiklehrer taucht unangemeldet bei seiner Tochter in Bukarest auf, wo sie für eine Unternehmensberatung an Rationalisierungskonzepten für die Ölindustrie arbeitet. Entsetzt von ihrem freudlosen Manager-Dasein, will er sie in der Gestalt eines kauzigen Alter Egos aus der Reserve locken. Eine souverän zwischen Komik, Tragik und surrealen Momenten wandelnde dramatische Komödie um einen Generationenkonflikt, vorzüglich inszeniert und getragen von zwei überragenden Darstellern. Ein mit großer innerer Wahrhaftigkeit gestaltetes Vater-Tochter-Verhältnis mit zeitkritischen Anklängen. – Sehenswert ab 16. »Toni Erdmann« – nominiert für den Deutschen Filmpreis - sehen auf www.alleskino.de

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