Filmdienst 08 2014

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FILM DIenSt Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

Das marvel-universum in Den kinofilmen um iron man, captain america unD thor geht es um Die lust an action, effekten unD technischen gimmicks. aber nicht nur!

Die lyrik Des lego-films 24 steine pro sekunDe: mit Den kleinen bunten plastiksteinen lÄsst sich grosses kino machen.

pepe DanQuart Der Deutsche regisseur erzÄhlt im interview von seinem neuen film „lauf Junge lauf“.

SPUrEN

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... hinterlÄsst Die australierin mia wasikowska nicht nur im gleichnamigen aktuellen abenteuerfilm. sie ist eine 10. April 2014 Der interessantesten schauspielerinnen € 4,50 67. Jahrgang ihrer generation.

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Akteure

Kino 10

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Das Kino-Universum der Marvel-Studios um Iron Man, Captain America & Co. setzt auf die Vernetzung der einzelnen Heldengeschichten zum „größeren Ganzen“. Und schafft damit eine Erzählwelt, die nicht nur kommerziell erfolgreich ist, sondern auch den Superhelden-Mythos neu interpretiert. Avengers Assemble!!!! Von Felicitas Kleiner

...hat zusammen mit Basil Gelpke eine spannende Filmkompilation zum Thema „Mörderische Gewalt“ erarbeitet, die nun als DVDBox erschienen ist. Von Ulrich Kriest

tHe MArVeL WAY

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PePe DAnQuArt ....berichtet im Interview von der Arbeit an seinem aktuellen Film „Lauf Junge Lauf“, der auf den Erinnerungen des Holocaut-Überlebenden Yoram Fridman beruht. Von Margret Köhler

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LeGo-LYrIK Um Nostalgie und Noppen geht es nicht nur beim computeranimierten „Lego Movie“, der jetzt ins Kino kommt. Auch in der Subkultur der „Brickfilmer“ werden mit Lego-Steinchen und Stop Motion fantasievolle Kurzfilme entworfen. + Brickfilm-Tipps Von Julia Teichmann

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MIA WASIKoWSKA ...hat sich vom Geheimtipp aus der Serie „ In Treatment“ zum Kinostar gemausert. Die australische Schauspielerin stemmt Hollywood-Großprojekten wie Tim Burtons „Alice im Wunderland“ ebenso soverän wie ambitionierte Autorenfilme. Von Michael Ranze

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In MeMorIAM Im März starb die tschechische Regisseurin Vera Chytilová („Tausendschönchen). Die deutsche Filmwelt trauert um den Produzenten und Verleiher Karl Baumgartner.

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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alle filme im tv vom 12.4. bis 25.4. das extraheft

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Einer der „Avengers“: Marvel-Held Hulk

King Kong 25.4. zdf neo Jericho 23.4. arte Das Leben ist schön 19.4. ZDF

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Fotos: TITEL: Ascot Elite. S. 4: Steinerei, Paramount/Walt Disney. S. 5: Privatarchiv Edelman, barnsteiner Salzgeber W-Film, Arsenal

Filmwelten aus Lego feiert im Mai das Brickfilm-Festival Steinerei. Das Plakatmotiv liefert eine Lego-Version von Harold Lloyds legendärem Auftritt in „Ausgerechnet Wolkenkratzer“

ALeXAnDer KLuGe


Kameramann Pawel Edelman

Neue Filme + ALLe StArtterMIne

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Film-Kunst 28

Ammar [27.3.] Bekas [10.4.] Die Bestimmung – Divergent 10.4.] Dom Hemingway [17.4.] Das geheime Zimmer [10.4.] Ida [10.4.] In Fear [3.4.] Lauf Junge Lauf [17.4.] Museum Hours [10.4.] Pfarrer [10.4.]

neue Kino-dokumentarfilme im april sind vielseitig und formal spannend: angehende evangelische pfarrer ringen mit ihrer berufung; ein finnischer akkordeon-Spieler sucht nach neuen Klängen; das wiener Kunsthistorische Museum wird in Spannung zum Stadtleben besichtigt.

etÜDen In MonoCHroM Für Hollywood-Filme wie „Ray“, aber vor allem für Arbeiten seiner Landsleute Andrzej Wajda und Roman Polanski hat der Kameramann Pawel Edelman eindrucksvolle Bilderwelten erschaffen. Dafür wurde er in diesem Jahr mit dem Marburger Kamerapreis geehrt. Eine Hommage in sieben Bildbetrachtungen. Von Thomas Brandlmeier

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s. PFArrer

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kinotipp

Fotos: TITEL: Ascot Elite. S. 4: Steinerei, Paramount/Walt Disney. S. 5: Privatarchiv Edelman, barnsteiner, Salzgeber, W-Film, Arsenal

SeCHS KÜnStLer unD eIn BuÑueL Mit seinem surrealistischen Meisterwerk „Das goldene Zeitalter“ sorgte Regisseur Luis Buñuel 1930 für einen Skandal. Jetzt huldigen sechs Künstler in sechs Filmen dem Klassiker. Der Skorpionstachel sticht immer noch! Von Jens Hinrichsen

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LoLA rennt ...und sorgte 1998 für einen magischen Kinomoment durch eine Liebe, die gegen das Schicksal rebelliert. Tom Tykwers Film verpasst dem deutschen Kino mit seiner experimentellen Montage ein regelrechten Energie-Flash. Von Rainer Gansera

der katholischen Filmkritik

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Die Poetin [10.4.] Rio 2 – Dschungelfieber [3.4.] Sabotage [10.4.] Schnee von gestern [10.4.] Die schwarzen Brüder [17.4.] Soundbreaker [17.4.] Spuren [10.4.] Stiller Sommer [10.4.] Der Super-Hypochonder [10.4.] Watchtower [17.4.] Yves Saint Laurent [17.4.]

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Produzentin Megan Ellison, deren Firma Annapurna Pictures spätestens seit der „Oscar“-Verleihung 2014 als erste Adresse fürs unabhängige Kino gilt.

die Königin der independents Kritiken und Anregungen?

s. SounDBreAKer

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s. MuSeuM Hour

ruBrIKen Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood DVD-Perlen Vorschau Impressum

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in nur wenigen Jahren hat sich die junge australierin Mia wasikowska als eine der wandelbarsten darstellerinnen ihrer generation erwiesen. Ob Independent-Filme oder Hollywood-Großproduktionen, ob historische oder gegenwärtige Stoffe: Stets aufs Neue findet sie einen unerwarteten Zugang zu ihren Rollen – weil sie sich wie ihre figuren niemals festlegen lässt.

In „Spuren“ verkörpert Mia Wasikowska die Reise-Autorin Robyn Davidson. Zuvor brillierte sie als Krebskranke in Gus Van Sants Romanze „Restless“ (S. 23, l.) und als Titelheldin in „Jane Eyre“ (r.)

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„Es ist so unbefriedigend, ein nettes, süßes Mädchen zu spielen. Es ist so furchtbar langweilig und fast schmerzhaft! Ich mag es, Figuren zu spielen, die ihr eigenes Feuer haben.“

die richtige! Über die Schauspielerin Mia wasikowska Von Michael Ranze

Eine Schauspielerin erfindet sich stets neu, und man sieht es ihr gleich an: mal mit blondem Pony, mal als langhaarige Brünette, mal sind die Haare kurzgeschoren und zur Seite gescheitelt, mal gelockt und in einem Knoten versteckt. In ihrem neuen Film „Spuren“, inszeniert von John Curran (Kritik in dieser Ausgabe), fallen die Haare lang und schwer, wild und ungescheitelt auf die Schultern. Sie sind Spiegel der körperlichen Anstrengung, die sich Mia Wasikowska in der Rolle der echten Robyn Davidson auferlegt hat: 2.700 Kilometer von Alice Springs durch die Wüste bis zum Indischen Ozean, zu Fuß, nur von vier Kamelen und ihrem Hund begleitet. Die Haare machen, was sie wollen. So wie die Frau, die sie trägt. Für Mia Wasikowska ist der Haarschnitt ein wichtiges Mittel, um ihre Figuren auszumalen. Doch da ist noch mehr: Der Wunsch nach möglichst gegensätzlichen Rollen, um sich in keine Schublade zwängen zu lassen. Mia Wasikowska, noch keine 25

Jahre alt, ist innerhalb weniger Jahre zum Hollywood-Star avanciert. Sie verbindet Schönheit mit Eleganz, Jugendlichkeit mit Anmut, schauspielerisches Talent mit Vielfältigkeit. Es gibt sogar schon Stimmen, die sie mit Cate Blanchett und Tilda Swinton vergleichen. Geboren wird Mia Wasikowska am 14. Oktober 1989 in Canberra. Ihre Mutter ist Polin, im Alter von zwölf Jahren nach Australien ausgewandert, der Vater ist John Reid, wie die Mutter als Fotograf und Dozent für Fotografie tätig. Ein künstlerisches Elternhaus also, in dem sie von früh auf lernt, sich ungezwungen vor der Kamera zu bewegen. Eigentlich möchte sie Primaballerina werden, doch das Mädchen ersetzt das Ballett durch das Schauspiel – ohne je professionellen Unterricht zu nehmen. Probeaufnahmen verschaffen ihr 2004 einen kleinen Part in zwei Episoden der australischen Fernsehserie „All Saints“, mit Paul Goldmans „Suburban Mayhem“ gelingt ihr zwei Jahre später der Sprung ins Filmgeschäft. International bekannt wird Mia Wasikowska dann in neun Folgen der HBO-Serie „In Treatment – Der Therapeut“. Als talentierte, hochintelligente Turnerin Sophie, die nach einem Unfall einen seelischen Knacks erleidet, sitzt sie Gabriel Byrne gegenüber. Der zwingt sie als Therapeut zum Reden, sie hat viel Text, noch dazu mit amerikanischem Akzent. Doch Mia Wasikowska meistert die Hürde mit einer Leichtfüßigkeit und Präzision, die sie für weitere Hollywood-Rollen empfehlen. In Edward Zwicks Kriegsdrama „Unbeugsam“ (2008) über jüdische Widerständler, die sich ab 1941 in den Wäldern Ostpolens verstecken, geht sie neben den vielen Männerrollen ein wenig unter. Doch schon in Mira Nairs

„Amelia“ (2009) spielt sie als Rivalin der Titelfigur eine starke Frau, die sich – genau wie Amelia Earhart – durch gesellschaftliche Konventionen nicht einengen lässt. 2010 gelingt Mia Wasikowska dann mit zwei komplett unterschiedlichen Filmen der endgültige Durchbruch: In Lisa Cholodenkos „The Kids Are All Right“ ist sie der einzig vernünftige Pol in einem skurril-ungewöhnlichen Familiengeflecht: Sie ist Joni, die Tochter eines lesbischen Paares, gezeugt von einem anonymen Samenspender. An ihrem 18. Geburtstag beschließt sie, ihren biologischen Vater kennen zu lernen. Dass das eigentlich normale, durchaus harmonische Alltagsleben in einem beschaulichem Vorort in Südkalifornien plötzlich so durcheinander gerät, ist sicher nicht Jonis Schuld. Und doch hat sie die nun folgenden Verwicklungen mit Neugier, Sturheit und Beharrlichkeit ins Rollen gebracht. Beim breiten Publikum bekannt wird sie durch ihren zweiten Film in diesem Jahr, „Alice im Wunderland“, mit dem Hollywoods großer Bilderfinder Tim Burton die Vorlage von Lewis Carroll seinem Universum anverwandelt: wundervolle, eigenwillige Charaktere, atemberaubendes Set-Design, fantasievoll-bunte Kostüme, perfekte 3D-Spezialeffekte. Schwer, sich da als Schauspielerin zu behaupten, und doch gelingt es Mia Wasikowska, ihrer Alice eine ganz eigene Prägung aufzudrücken. So gibt es ständig Diskussionen darüber, ob Alice auch die Richtige ist, die, auf die alle gewartet haben, ihre Bestimmung wird angezweifelt. Und: Ihre Freundschaft mit dem verrückten Hutmacher geht emotional wesentlich tiefer als im Buch. So verleiht Mia Wasikowska der Alice eine reizvolle Ambivalenz, die im schönen Gegensatz zur

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Ob als abenteuerlustige Alice in Tim Burtons märchenhafter „Wunderland“-Variation (u.), als zeitgenössischer Teenager in „The Kids are All Right“ (l.) oder als unnahbahre Angebetete in „The Double“ (r.): Mia Wasikowska arbeitet stetig daran, ihr Rollenspektrum zu erweitern.

Mia WasikoWska als regisseurin Mit einer Episode des dreistündigen, mit australischen-neuseeländischen Stars (Cate Blanchett, Hugo Weaving, Rose Byrne u.a.) besetzten Kompilationsfilms „The Turning“, der auf der diesjährigen „Berlinale“ zu sehen war, gab Mia Wasikowska 2013 ihr Regiedebüt. Wie viele der insgesamt 18 Kapitel des Films nach Kurzgeschichten des australischen Autors Tim Winton dreht sich auch ihr Beitrag „Long, Clear View“ um die Figur Vic Lang, die im Film von unterschiedlichen Schauspielern dargestellt wird. Mia Wasikowska zeigt ihn als fantasiebegabten Jungen, der mit den verwirrenden Erfahrungen der Pubertät und der nicht immer leichten Beziehung zu seinen Eltern zu kämpfen hat und eine Obsession für das Gewehr seines Vaters entwickelt. Die Regiedebütantin setzt die jugendliche Unsicherheit visuell durch fragmentarische Spiegelaufnahmen um und inszeniert den Blick des Jungen auf die Welt mit schwarzem Humor. Interviews zufolge kann sie sich weitere Regieprojekte vorstellen: „Ich würde gern noch mehr machen. Es ist ein Privileg, Regie führen zu können.“

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naiven und unschuldigen Neugier steht, mit der das Abenteuer begann. Ganz anders präsentiert sie Gus Van Sant 2011 in „Restless“: Als Annabel ist sie hübsch, charmant, intelligent, eloquent, dem Leben zugewandt – obwohl sie bald sterben wird. Annabel hat Krebs. Durch ihre Nähe zum Tod hat sie in Enoch, einem ungeladenen Trauergast bei zahllosen Beerdigungen, einen Seelenverwandten ausgemacht, dessen Panzer es beharrlich zu knacken gilt. Annabel scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Mit ihrem „Vintage Look“, der Hüte und Kleider der 1920er- mit denen der 1960er-Jahre kombiniert, und den kurzen Haaren verbindet sie gleichzeitig so unterschiedliche Frauentypen wie Louise Brooks und Audrey Hepburn, Mia Farrow und Jean Seberg. Eine ähnlich starke, warmherzige und natürliche

Frauenfigur verkörperte sie schon kurz zuvor in Cary Fukunagas „Jane Eyre“: Auch ihre junge Erzieherin wird durch ihre Kleider in eine bestimmte Rolle gezwungen, besser: über sie definiert, schafft es aber, sich dem erfolgreich zu widersetzen. Oft sind die Figuren von Mia Wasikowska nicht leicht zu durchschauen, so wie bei ihrem bislang enigmatischsten Auftritt in „Stoker“ von Park Chan-wook als 18-jährige India Stoker. India ist durch den Tod ihres Vaters so tief getroffen, dass sie wie ein Geist durch das Haus schleicht. Die langen dunklen Haare, die durch einen unvorteilhaften Mittelscheitel getrennt sind, betonen die Blässe des Gesichts, die hochgezogenen Brauen und die starren Augen zeugen von einem Schrecken, der weit

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Mia Wasikowska

FotograFin

Fotos: Ascot Elite/Walt Disney/Fox/Sony/Tobis

Die Tochter zweier Fotografen ist ebenfalls als passionierte (Hobby-) Fotografin: „Ich liebe Fotografie. Es ist etwas Kreatives, das ich kontrollieren kann. Es hat einen therapeutischen Effekt auf mich, wenn ich meine Fotos machen und ausdrucken kann.“ Bei Dreharbeiten hat sie stets ihre Kamera dabei, um sich die Wartepausen am Set mit dem Aufnehmen und Entwickeln von Bildern zu vertreiben. Mit einem Backstage-Foto von „Jane Eyre“ kam sie 2011, ebenso wie ihre Mutter, unter die Finalisten für den australischen „National Photographic Portrait Prize“, mit dem jährlich die besten Bildporträts australischer Profi- und Laienfotografen gekürt werden.

über Trauer hinaus geht. Zu allem Überfluss lernt India einen Onkel kennen, von dem sie bislang nichts wusste und der sich nun an ihre Mutter heranmacht. Verwirrung und Ratlosigkeit wie bei dieser Figur kann Mia Wasikowska ebenso spürbar machen wie ungebändigte Lebensfreude. In „Albert Nobbs“ sieht sie als Zimmermädchen Helen, das im Irland des 19. Jahrhunderts in einem Hotel Dienst tut, mit ihrem lockigen Pony und den zum Dutt gebundenen Haupthaar zunächst einmal einfach bezaubernd aus. „Sie bringt einen Raum zum Leuchten!“, sagt eine Kollegin, und so verwundert es nicht, dass sie mit ihrem natürlichen Charme und ihrer sexuellen Neugier sogar beim Butler Albert Nobbs, der in Wahrheit eine Frau ist, sehnsüchtiges Interesse weckt. Irgendwie ist Helen dieser schüchterne und steife Kerl nicht geheuer: „Das nennen Sie küssen!?“, fragt sie empört, als es auf einer Parkbank zur körperlichen Nähe kommt. Später wird sich ihre Lebensfreude in Skrupel wandeln, weil sie den Plänen ihres jungen MachoLiebhabers, Albert Nobbs den Sparstrumpf zu stehlen, nicht mehr folgen will. Diese Skrupel sind nur in ihrem skeptischen Blick enthalten. Am Schluss

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Akteure

ist Mia Wasikowska urplötzlich erwachsen geworden – und das ist fast so bedauerlich wie das Scheitern der Titelfigur. Auch in „The Double“ (2013), inszeniert vom Briten Richard Ayoade, wird sie mit ihren langen, glatten blonden Haaren, die eine gewisse Strenge und Dominanz ausstrahlen, und kühler Unnahbarkeit zur Projektionsfläche und Sehnsuchtsfantasie eines extrem schüchternen, sogar neurotischen Arbeitskollegen (dargestellt von Jesse Eisenberg), der in ihrer Nähe zur Salzsäule erstarrt. Sein Doppelgänger (ebenfalls Eisenberg) ist da ganz anders: selbstbewusst, charmant, erfolgreich. So pendelt Mia Wasikowska zu ihrer eigenen Irritation zwischen zwei Männern, die entgegengesetzte Konzepte von Männlichkeit verkörpern. Nun folgt „Spuren“, ihre körperlich anspruchsvollste Rolle, quasi die Quintessenz der Rollen, die sie bislang gespielt hat: dickköpfig und zielstrebig, scheu und zurückhaltend, zäh und ausdauernd, stolz und zerbrechlich, aber auch begehrenswert. Es gibt nicht viele Kolleginnen aus ihrer Generation, die diese Vielschichtigkeit nach außen tragen können.

koMMende Projekte Die bereits 2013 gedrehte Dostojewski-Adaption „The Double“ von Richard Ayoade hat noch keinen deutschen Starttermin. Voraussichtlich in Cannes wird die Hollywood-Satire „Maps to the Stars“ von David Cronenberg Weltpremiere feiern, in der Mia Wasikowska eine psychisch labile junge Frau mit pyromanischen Tendenzen spielt (dt. Kinostart: 11.9.). Abgedreht ist eine Neuverfilmung von „Madame Bovary“ unter der Regie von Sophie Barthes, geplant sind „Crimson Peak“ von Guillermo Del Toro (Start: Herbst 2015) und die Fortsetzung von „Alice im Wunderland“, wiederum an der Seite von Johnny Depp und Helena Bonham Carter.

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Der aus Polen stammende Regisseur Pawel Pawlikowski, der als Jugendlicher mit seinen Eltern in den Westen auswanderte und mit „Last Resort“ (2000) und „My Summer of Love“ (2004) zwei außerordentlich schöne Arbeiten in England drehte, kehrt mit dem fulminanten, mehrfach preisgekrönten Film „Ida“ in seine alte Heimat zurück. Er spielt in den frühen 1960er-Jahren, einer Zeit, in der die Wunden des Krieges, des Holocaust und der stalinistischen Ära noch überall zu sehen und zu spüren sind; die Hauptfiguren tragen entsprechend tiefe Narben. Es sind zwei Frauen, deren Schicksale Pawlikowski zum Anlass nimmt, um über die Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Dafür bringt er Elemente des Psychodramas, des Road-Movies und der Detektivgeschichte zusammen, die sich zu einem starken Gesamteindruck vermengen. Stilistisch erinnert der Film sowohl an die streng stilisierten, karg ausgestatteten, religiös grun-

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Ida Eine polnische Novizin entdeckt ihre jüdischen Wurzeln

dierten Kinodramen eines Carl Theodor Dreyer oder Robert Bresson als auch an das junge, aufgrund seines herben Realismus gern als „schwarz“ bezeichnete Kino der polnischen Neuen Welle um 1960. Der aus Bach, Mozart, John Coltrane und zeitgenössischem polnischen Jazz gespeiste Soundtrack verleiht „Ida“ zeittypische Authentizität und zugleich einen Hauch von Ewigkeit: musikalische Momente von Melancholie und Freiheit. Pawlikowskis Film beginnt in den Mauern jenes Klosters, vor dessen Toren das Mädchen Anna als Kleinkind einst abgelegt worden war. Kurz vor der Weihe zur Nonne soll Anna ihre einzige noch lebende Verwandte, die Richterin Wanda,

kennenlernen; so jedenfalls will es die Oberin. Aus dem abgezirkelten Tagesablauf des Klosters tritt das Mädchen in eine Gesellschaft, die ihr fremd ist; sie reist mit der Tante durchs Land, auf der Suche nach der eigenen Geschichte. Anna erfährt, dass sie eigentlich Ida Löwenstein heißt und jüdische Wurzeln hat. Sie erfährt von der Ermordung ihrer Eltern, vom Holocaust und von polnischen Antisemiten, die den deutschen Besatzern willfährig waren. Agata Trzebuchowska spielt diese Ida, die nahezu stumm, fast engelsgleich, mit weit geöffneten Augen die Untiefen ihrer eigenen Vita zur Kenntnis nimmt. An ihrer Seite die kettenrauchende, trinkende Agata Kulesza als Tanta

Wanda, die sich nach dem Krieg zu einer erbarmungslosen, von Hass getriebenen stalinistischen „Volksrichterin“ entwickelte und einem nahezu ungebremsten Hedonismus frönt. Die Inszenierung verzichtet darauf, diese ihrer Jugend beraubte, scheinbar gefühlsarme Figur als Schreckgespenst aus den finstersten Zeiten der Diktatur zu denunzieren. Ihre Härte, anderen und sich selbst gegenüber, resultiert aus der tragischen Biografie, dem Verlust des eigenen Kindes, der Verzweiflung über das scheinbar unausrottbare Böse im Menschen. Wanda, die es aufgegeben hat, auf ein wie auch immer geartetes Glück zu hoffen, ist eine differenziert gezeichnete, vielleicht sogar die spannendste Figur des Films: ein Novum im Blick auf die sonst eher pauschal der Verurteilung preisgegebene oder auch fratzenhaft verzeichnete realsozialistische Elite der Nachkriegszeit. Die dritte Hauptfigur ist ein junger, von Ort zu Ort ziehender Jazz-Saxofonist, der für

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im Kino eine von den Gespenstern der Vergangenheit unbelastete Generation, das neue Prinzip Freiheit, steht. Ida hat die Möglichkeit, ihm zu folgen – oder in die stille Welt des Klosters zurückzukehren. Lukasz Zal und Ryszard Lenczewski haben „Ida“ in scharf konturiertem, grafischem Schwarz-Weiß fotografiert und betonen in ihren Bildstrukturen vor allem das Drückende der Innenräume, aber auch des tiefliegenden polnischen Winterhimmels. Ein Drama, das gerade auch wegen seiner inhaltlichen Offenheit, der nicht bis ins Detail auserzählten Fabel, lange nachwirkt. Ralf Schenk

bewertung der filMKoMMiSSion

Anfang der 1960er-Jahre macht sich eine junge Novizin auf eine Reise in die eigene Vergangenheit: Eine Tante informiert sie über ihre jüdische Herkunft und die Ermordung der Eltern im Holocaust. Der dialogarme Film erzählt mit strengen schwarz-weißen Bildern und einem vielschichtgen Soundtrack aus Bach, Mozart und modernem Jazz von den Narben, die die Verbrechen des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben. Ein überzeugend gespieltes Drama, das gerade auch wegen seiner inhaltlichen Offenheit lange nachwirkt. – Sehenswert ab 14.

Polen 2013 regie: Pawel Pawlikowski buch: Pawel Pawlikowski, R. Lenkiewicz Kamera: Lukasz Zal, Rsyzard Lenczewski Musik: Kristian Selin Eidnes Andersen Schnitt: Jaroslaw Kaminski darsteller: Agata Kulesza (Wanda), Agata Trzebuchowska (Anna/Ida), Dawid Ogrodnik (Lis), Jerzy Trela (Szymon), Adam Szyszkowski (Feliks), Halina Skoczýnska (Mutter Oberin), Joanna Kulig (Sängerin) länge: 80 Min. | Kinostart: 10.4.2014 verleih: Arsenal | fd-Kritik: 42 299

Circles Die Wunden des Krieges

Es gibt nicht viele Kriegsgeschichten mit positiver Note. „Circles“ ist eine davon. Mit starken Bildern und psychologischem Einfühlungsvermögen erzählt der Film von einer folgenreichen Heldentat – und wie die Beteiligten mit den Schatten der Vergangenheit umgehen. Ein Drama über Täter und Opfer, vor allem aber über Mitläufer und Wegseher. Der serbische Regisseur Srdan Golubović wurde 2007 mit seinem Film „Klopka – Die Falle“ (fd 38 364) international bekannt. Das Feingefühl aus diesem psychologischen Thriller überträgt er in seinen neuen Film, mit dem er eine wahre Begebenheit aus den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien aufgreift. Im Januar 1993 wurde der serbische Soldat Srdjan Aleksić von seinen Kameraden auf dem Marktplatz der Kleinstadt Trebinje umgebracht, nachdem er einen bosnischen Nachbarn vor deren Übergriffen gerettet hatte. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis die heldenhafte Tat von den ehemaligen Kriegsgegnern gewürdigt wurde; 2012 wurde ihm posthum die Miloš-Obilić-Medaille, einer der höchsten serbischen Staatsorden, verliehen. In „Circles“ heißt der Soldat Marko. Bis auf den brutalen Mord, der sich vor zahlreichen Zuschauern ereignete, die sich nicht einzugrei-

fen trauten, ist die Handlung fiktiv. Golubović geht den Schicksalen der Freunde und Verwandten des Opfers nach, fragt nach den Schuldgefühlen von Markos bestem Freund Nebojša, der zu den Wegsehern gehörte, nach dem verdrängten Gewissen von Todor, damals einer der Täter, und zeigt das innere Ringen des Vaters um Vergebung. Dieser fragt sich, ob der Tod seines Sohns umsonst gewesen sei, oder ob er Kreise zieht wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird. Golubović stellt seine Fragen nach Verantwortung und Gerechtigkeit, nach Schuld und Vergebung nicht mit grüblerischem Existenzialismus, sondern mit dem Handwerkszeug eines Autorenfilmers, der um die Kraft des Genrefilms und um die Wirkung symbolischer Bilder weiß. So bleibt die innere Spannung von der ersten Minute bis zum Ende erhalten, auch wenn die Auflösung der Geschichte schon bald vorhersehbar wird. Derweil setzt Kameramann Aleksandar Ilić die Gebirgslandschaft im Süden Bosniens und die malerische Szenerie der Kleinstadt Trebinje dramatisch, aber stets diesseits der Grenze zum Pathos in Szene: faszinierende Landschaften als ewige Zeugen schrecklicher Ereignisse. „Circles“ berührte zunächst das Festivalpublikum in Sundance und Berlin, dann die Zuschauer in allen

neue Filme

Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Serbien reichte den Film, nachdem es anfangs Vorstöße gegeben hatte, ihn als „antiserbisch“ zu brandmarken, schließlich als Kandidaten für den Auslands-„Oscar“ ein. Verdiente Anerkennung für eine universale Geschichte, die bewegt und mahnt, es darüber hinaus aber auch versteht, den Zuschauer mit klassischen Mitteln der filmischen Unterhaltung mitzunehmen. Bernd Buder

bewertung der filMKoMMiSSion

Während des Jugoslawien-Kriegs wird ein serbischer Soldat von seinen Kameraden ermordet, weil er seinen bosnischen Nachbarn beschützte. Während Angehörige und Freunde des Toten mit der Frage nach Gerechtigkeit hadern und sich fragen, ob die Tat hätte verhindert werden können, wird einer der Täter von Gewissensbissen geplagt. Ein auf wahren Begebenheiten beruhendes Drama über die individuellen wie gesellschaftlichen Folgen des Bürgerkriegs, das mit eindrucksvollen Bildern und psychologischer Genauigkeit überzeugt. Stilistische Anleihen beim Genrekino verbinden sich stimmig mit der Auseinandersetzung mit Schuld und Vergebung. – Sehenswert ab 16. (Preis der Ökumenischen Jury Berlin)

KRUGOVI. Scope. Serbien/Deutschland/Kroatien/Frankreich/Slowenien 2013 regie: Srdan Golubović buch: Melina Pota Koljević Kamera: Aleksandar Ilić Musik: Mario Schneider Schnitt: Marko Glušac darsteller: Aleksandar Berček (Ranko), Leon Lučev (Haris), Nebojša Glogovac (Nebojsa), Nikola Rakočević (Bogdan), Hristina Popović (Nada), Boris Isaković (Todor) länge: 112 Min. | fSK: ab 12; f verleih: barnsteiner | Kinostart: 17.4.2014 fd-Kritik: 42 300

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