Filmdienst 09 2014

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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Shakespeare lebt ! Dafür sorgt auch das Kino. Die Stücke des britischen Dramatikers fordern immer wieder die Kreativität der Filmemacher heraus.

Kinokultur in Kopenhagen Nordlicht mit cineastischem Herz. Der Cityguide erkundet die dänische Metropole.

Julia Hummer Das charismatische „Problemkind“ des deutschen Kinos ist längst erwachsen. Und so gut wie eh und je.

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24. April 2014 € 4,50 67. Jahrgang

ralph fiennes

schätzt als Darsteller die Extreme und als Regisseur die Literatur: In seinem neuen Film „The Invisible Woman“ porträtiert er Charles Dickens, seine erste Regiearbeit galt Shakespeares „Coriolanus“. 15.04.14 16:57


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Akteure

Kino 20

JuLIA HuMMer ... verdient ein großes Leinwand-Comeback. Das „Problemkind“ von einst hat sein eigenwilliges Charisma nicht verloren. Ein Porträt aus der „spielwütig“Serie über deutsche Schauspieler. Von Alexandra Wach

alle filme im tv vom 26.4. bis 9.5. das extraheft 48 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV

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80.000 Film-Kritike n u n t e r w w w. f i l m d ienst.de

rALPH FIenneS ... präsentiert mit „The Invisible Woman“ eine überzeugende zweite Regiearbeit. Aber auch als Darsteller ist er präsenter und vielseitiger denn je. Von Michael Ranze

Ständige Beilage

FILM

DIE INNERE SICHERHEIT 26.4. arte

IM TV

WALK THE LINE 6.5. SUPER RTL

26.4.–9.5.2014

Plakatmotiv zu Svend Gades „Hamlet“ mit Asta Nielsen, einem frühen Shakespeare-Filmklassiker

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MAX MANUS 8.5. mdr

African Queen mit Humphrey Bogart und Katharine Hepburn The Fighter von David O. Russell Mado von Claude Sautet

[1.5. BR FERNSEHEN] [4.5. 7MAXX] [9.5. ARTE]

Die innere Sicherheit 26.4. arte Walk the Line 6.5. SUPER RTL Max Manus 8.5. mdr

TITeL: Shakespeares „Coriolanus“ als blutiges Actionspektakel von und mit Ralph Fiennes (als DVD/BD erhältlich bei KSM)

SHAKeSPeAre IM KIno Zum 450. Geburtstag hat auch das Kino guten Grund, den britischen Dichter zu feiern. Schließlich liefern seine Stücke seit Stummfilmzeiten Stoffe, aus denen sich vom romantischen Liebesdrama bis zum knallharten Actionfilm immer wieder Kinoerfolge machen lassen. Je gewagter die Interpretation, desto interessanter die Filme. Eine Hommage.

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CÉDrIC KLAPISCH ... schließt mit „Beziehungsweise New York“ seine „L’auberge espagnole“Trilogie ab. Ein Gespräch übers Älterwerden. Von Margret Köhler

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CITYGuIDe KoPenHAGen Die Heimstatt der legendären NordiskStudios und von Lars von Triers Zentropa hegt und pflegt eine lebendige Kinokultur. Ein Streifzug zu den schönsten cineastischen Sehenswürdigkeiten. Von Claus Löser

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In MeMorIAM Erinnerungen an den kürzlich verstorbenen Schweizer Regisseur Peter Liechti, an den Schauspieler Mickey Rooney und Theater- & Filmgröße Fritz Marquart.

geschäfte mit den young adults Hollywood-Korrespondent Franz everschor über die Zielgruppe der 12- bis 25-Jährigen, die in den letzten Jahren im Fokus des Interesses der Hollywoodstudios stand. (S. 27).

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Neue Filme

Film-Kunst 28

60 JAHre KurZFILMTAGe oBerHAuSen Eine „Geschichtsstunde“ über die Wurzeln und die Entwicklung von Deutschlands wichtigstem Kurzfilmfestival. Von Andreas Kötzing

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BIBeL GoeS HoLLYWooD

Fotos: TITEL: Lipsync/KSM, S.4/5: Rudolf Holtappel / Nachlass Holtappel; Edition Filmmuseum, Walt Disney, Sony, Fugu, Studiocanal

Das Genre des Bibelfilms war in Hollywood jahrzehntelang „out“. Nun spült nicht nur „Noah“ über die Leinwand, sondern auch viele andere Projekte sind in Planung. Den Nährboden für dieses Revivial haben christliche Gruppen in den USA geliefert. Von Franz Everschor

+ ALLe STArTTerMIne

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20 Feet from Stardom [24.4.] Amazonia 3D [24.4.] Beziehungsweise New York [1.5.] Die Erfindung der Liebe [1.5.] Für immer Single? [24.4.] Gabrielle ­ (Keine) ganz normale Liebe [24.4.] Irre sind männlich [24.4.] Mietrebellen [24.4.] Miss Sixty [24.4.] Muppets Most Wanted [1.5.] Nächster Halt: Fruitvale Station [1.5.] Ride Alone [24.4.] Sag Selim 2 [3.4.] Die Schadenfreundinnen [1.5.] Die Schöne und das Biest [1.5.] Scialla! Eine Geschichte aus Rom [24.4.]

ein filmheld zu sein ist nicht einfach. nicht nur der geschiedene, nach new york gezogene held von „beziehungsweise new york“ muss sich mit identitätsproblemen herumschlagen. muppet-held kermit stellen sie sich in form eines doppelgängers, und spider-man muss sich mit seinem „normalen“ ich peter parker arrangieren.

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s. MuPPeTS MoST WAnTeD

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KinotiPP

s. THe AMAZInG SPIDer-MAn 2

der katholischen Filmkritik

37 Tao Jie – Ein einfaches Leben

[24.4.]

Drama von Ann Hui

42 The Amazing Spider­Man 2: Rise of Electro [17.4.] 39 The Invisible Woman [24.4.] 40 The Lego Movie [10.4.] 36 Vergiss mein Ich [1.5.] 44 Zärtlichkeit [24.4.]

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s. BeZIeHunGSWeISe neW YorK

Roman Polanski als Nachwuchs-Regisseur beim Besuch der „9. Westdeutschen Kurzfilmtage“ in Oberhausen (1963)

ruBrIKen Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Magische Momente Vorschau Impressum

Kritiken und Anregungen?

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o d * * * f t e u h o t b t a a h w o w ? n e k r a u yo kespe a h s

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Shakespeare

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William shakespeare lebt! auf den theaterbühnen, zwischen Buchdeckeln, aber nicht zuletzt auch im medium film. Zum 450. Geburtstag huldigen wir dem meister aus stratford-upon-avon, der längst auch filmgeschichte geschrieben hat, mit einer liebeserklärung an die teilweise recht wunderlichen, aber immer wunderschönen Blüten, die seine Dramen auf der leinwand getrieben haben.

Othello als Star der Basketball­Mannschaft an einer US­ High­School? Macbeth als allzu ehrgeiziger Koch in einem Restaurant? Hamlet als Mitglied eines Roma­Clans auf einer Müllhalde vor den Toren Belgrads? Romeos geliebte Julia als Tochter einer indischen Gangster­Matriarchin? Und Romeo als Zombie!? In Sachen William Shakespeare ist dem Medium Film nichts heilig! „He was not of an age, but for all time!“ So pries bereits Shakespeares Zeitgenosse Ben Jonson seinen Dichter-Konkurrenten in einem Lobgedicht, das der ersten Folio-Ausgabe von Shakespeares Werken voran gestellt war. Jonson hatte damit einerseits Unrecht, weil Shakespeare natürlich sehr wohl mit beiden Beinen in seiner eigenen Epoche, der Tudor-Zeit, stand und als pragmatischer Berufsschreiber seine Werke gezielt für seine Zeitgenossen konzipierte. Aber er hatte auch Recht, wie sich 450 Jahre nach Shakespeares Geburt (im April 1564) mit Fug und Recht feststellen lässt. Und wie auch das Kino nicht müde wird zu beweisen: Shakespeares Werke gehören jeder Generation. Schon seit Stummfilmtagen, als Asta Nielsen als weiblicher Hamlet (Regie: Svend Gade, 1921) und Emil Jannings als schwarz geschminkter Othello (Regie: Dimitri Buchowetzki,

Aus Prinz Hamlet wird eine Prinzessin: Asta Nielsen („Hamlet“, 1921)

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1922) ganz ohne Shakespeares wortgewaltige Dialoge auskommen mussten, scheint sich das Medium Film vorgenommen zu haben, jener „Feuermuse“ eine ganz besondere Spielwiese zu bieten, von der Shakespeare im Prolog zu seinem Königsdrama „Henry V“ schreibt – der Einbildungskraft, die das in Versen beschworene, auf die dürftigen Bühnenbretter gebannte Geschehen erst mit Leben erfüllt. Unzählige Regisseure haben sich seitdem als „Feuermuse“ betätigt und ihre eigene Imagination der ShakespeareStücke Film werden lassen. Die selbst zu „Klassikern“ gewordenen, nahe an Shakespeares Texten bleibenden Filme von Schauspieler-Regisseuren wie Laurence Olivier, Orson Welles und Kenneth Branagh sind ebenso wenig aus der Filmgeschichte wegzudenken wie die visionären Shakespeare-Fantasien eines Derek Jarman oder Peter Greenaway („The Tempest“; 1979; „Prospero’s Bücher“, 1991) oder wie wilde, freie Genre-Variationen à la „Romeo Must Die“ (2000) oder „Warm Bodies“ (2013). Was sich das Tudor-Publikum im Londoner „Globe“ noch vorstellen musste – das blutige Schlachtfeld von Agincourt aus „Henry V“, das mächtige Heer vor Dunsinane, das Macbeth als in Bewegung geratener Wald erscheint: All das hat das Kino auf der Leinwand immer wieder Wirklichkeit werden lassen. Freilich waren es nie nur das Spektakel und die in die Stücke integrierte Action, die Schlachten und Degenduelle, die Filmemacher an Shakespeare interessierten. Es waren immer jene Stärken, die seine Dramen auch fürs Theater, für die Kunst und die Literatur so wertvoll machen. Da sind zunächst die vielschichtigen, erstaunlich modernen Charaktere, die Shakespeare gestaltete. Sogar ein Erzschurke wie „Richard III“ hat bei ihm charmante, schillernde Seiten. Und selbst ein strahlender Nationalheld wie „Henry V“ zeigt bei >

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Königsdramen-Action: Tom Hiddleston als Heinrich V. in der BBC-Filmreihe „The Hollow Crown“

Shakespeare dunkle, fragwürdige Facetten, die etwa im Verhältnis des jungen Königs zu seinem einstigen Freund und Mentor Falstaff anklingen. Das „allgemein Menschliche“ und das Individuelle, im positiven Sinn „Eigenartige“ finden in Shakespeares Charakteren immer wieder wunderbar zusammen. Eine Figur wie „Hamlet“, die beispielhaft für diese Gestaltungskunst ist, kann man mit Fug und Recht als neuzeitlichen Mythos bezeichnen: als „unsterbliche“ Gestalt, die eine ähnliche Vielfalt an Interpretationen und Variationen erfahren hat wie die großen Figuren der antiken Mythologie à la Odysseus oder Medea. Dass Shakespeares Protagonisten uns immer noch „ansprechen“, ist schlicht auch eine Sache der Sprache, der Qualität der Dialoge. Deren Schönheit lässt sich im Film (sieht man vom Stummfilm ab) ebenso mitreißend in Szene setzen wie im Theater, und bisweilen mittels Kameraarbeit und Montage sogar in interessante neue Beziehungen setzen. So etwa in Laurence Oliviers „Hamlet“ (1948), in dem schwindelerregende Treppenhaus- und Abgrund-Bilder sowie extreme Großaufnahmen den „Sein oder Nichtsein“-Monolog sozusagen „psychoanalysieren“. So abgegriffen viele

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„Cäsar und Cleopatra“ in den 1960er-Jahren parodistisch verwurstet: „Carry on Cleo“

von Shakespeares immer wieder zitierten Sätze auch sein mögen („…ein Königreich für ein Pferd!“, „Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind“), so lebendig können sie doch wieder werden, wenn Schauspielkunst und filmische Inszenierung einen frischen Zugriff finden. Dazu laden Shakespeares Texte geradezu ein, nicht zuletzt dank ihrer „Vielstimmigkeit“, des Gegeneinanderstellens verschiedener Perspektiven auf ein Thema. Die „saubere“ Trennung zwischen Tragödie und Komödie geht bei Shakespeare selten ganz auf: In seine Dramen und Tragödien dringt ein „comic relief“ als konterkarierende Sichtweise ein, während in den Komödien Tragisches und Trauriges anklingt – eine vitale „Aufweichung“ der aristotelischen Poetik, die auch Filmkünstler immer wieder anregt, die verschiedenen „Stimmen“ innerhalb der Stücke jeweils neu zu gewichten. Warum nicht aus der komischen Nebenfigur des dicken Falstaff die Hauptfigur eines Dramas machen, wie es Orson Welles in „Chimes at Midnight“ (1966) getan hat? Warum nicht Motive aus „Antonius und Kleopatra“ und „Julius Cäsar“ durch den komödiantischen Wolf der „Carry on“-Klamotten drehen („Carry on Cleo“, 1964)?

Fotos: S. 10/11: Edition Filmmuseum. S. 12/13: BBC, Warner Bros./Pathé, Kaleidoscope Home Ent., Columbia, Bona Fide Prod.; Lenfilm, Studiocanal/Arthaus, Sony, Sunfilm. S. 14/15: Rough Trade, Warner Home, KSM, Fox Home Ent. DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss.

„Julius Cäsar“ in einem italienischen Gefängnis: „Cäsar muss sterben“

Fotos: ****

„Hamlet“ ist neben „Romeo und Julia“ das am häufigsten fürs Kino adaptierte Shakespeare-Stück. entsprechend vielfältig sind die Variationen: Neben freien Fortschreibungen wie der Komödie „Hamlet 2“ (2008, Bild l.) gibt es die sowjetische Deutung Hamlets als Sozialrebell in „Hamlet“ (1964, Bild M.) von Grigori Kosinzew und den Bilderrausch eines Kenneth Branagh (1996).

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Shakespeare

Laurence Fishburne als „Othello“

Warner Home, KSM, Fox Home Ent. DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss.

Modernes Setting, nostalgisches Schwarz-Weiß, originale Texte: Joss Whedons „Much Ado About Nothing“

Stoffe und Themen, in die sich Interpretationen „einhaken“ können, gibt es bei Shakespeare mehr als genug. So etwa die Frage nach der Legitimation von Macht. Sie mag in Shakespeares Königsdramen nicht wortwörtlich gestellt werden. Doch unterschwellig klingt sie angesichts der nicht enden wollenden Fehden und Ränke, um die es in den Stücken geht, immer wieder an. In „Julius Cäsar“ wagte es der Autor sogar, die römischen Figuren explizit über die Vor- und Nachteile der Demokratie gegenüber der Alleinherrschaft diskutieren zu lassen. Was die Brüder Taviani in ihrem semidokumentarischen Film „Cäsar muss sterben“, in dem es um eine Inszenierung des Stücks in einem italienischen Gefängnis geht, in eine doppelbödige Reflexion über ide Freiheit ummüntzten. Ähnlich herausfordernd äußern sich Shakespeares Stücke über das Verhältnis zu fremden Ethnien und Religionen: Dass seine „schwarzen“ Figuren – „Othello“ und der monströse Caliban aus dem „Sturm“ – im postkolonialen Diskurs so interessant werden würden, konnte Shakespeare am gerade anbrechenden Kolonialzeitalter noch nicht ahnen. Doch er schrieb diese Rollen ebenso wie die des Juden Shylock im „Kaufmann von Venedig“, und er setzte dabei das „Fremde“ so vielschichtig ins Verhältnis zum „Eigenen“, dass die Stücke

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Romeos Julia goes Bollywood: „Ram-Leela“

auch Jahrhunderte später spannend bleiben. Ähnliches gilt auch für Shakespeares Zugriff auf das Verhältnis der Geschlechter: Vor allem in seinen Komödien umspielt er es mit Hilfe von Verwechslungen und Maskeraden erfrischend jenseits zwanghafter Rollenzuschreibungen, mit entkrampfendem, menschenfreundlichem Witz. Da kann z.B. Joss Whedon in der wortgewandten Beatrice („Much Ado About Nothing“) durchaus ein Pendant zu seinen modernen Amazonen à la „Buffy“ oder der Black Widow der „Avengers“ finden.

*** Die folgenden Texte sind eine betont persönliche Auswahl von Filmen, die sich William Shakespeare auf respektvolle und doch freie Weise aneignen und seine Klassiker in ungewohnte Kontexte stellen. Damit ist das Thema „Shakespeare und Film“, das ganze Bibliotheken füllen könnte, freilich bei weitem nicht abgedeckt. Sie dienen dazu, sich anregen zu lassen, wollen dem eigenen Weiterdenken aber keine Grenzen setzen. Wie es auch der Prolog in „Henry V“ nahelegt: „Piece out our imperfections with your thoughts.“ Felicitas Kleiner

Das Streben nach Macht und der Preis, den man dafür bezahlt, sind die zeitlosen Themen von „Macbeth“. Orson Welles machte aus der „schottischen Tragödie“ ein archaisches, expressiv-experimentelles Drama (1947; Bild l.), Roman Polanski ein blutiges Spektakel (1971, Bild M.) und Geoffrey Wright einen im australischen Melbourne angesiedelten Gangsterfilm (2006).

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In Karolines Familie herrscht oft das blanke Chaos. Die Mutter, geschieden, hat es nicht leicht mit ihren drei Kindern, zumal Karolines älteste Schwester auch schon ein Baby hat, mit siebzehn und ebenfalls allein erziehend. In Roberts Familie dagegen, der Vater ist Fabrikdirektor, geht alles streng bürgerlich zu: Zum Zug ins Ferienlager wird der Sohn sogar im Dienstwagen chauffiert. Wie die beiden 14,- 15-jährigen zueinander finden, erzählt Herrmann Zschoches DEFA-Film „Sieben Sommersprossen“ unaufgeregt und mit viel Sympathie für seine jugendlichen Helden. Die soziale Differenz zwischen den Elternhäusern wird nicht weiter thematisiert, wohl aber die höchst unterschiedlichen Ansichten, wie mit den Mädchen und Jungen im Ferienlager umgegangen werden müsse. Die strenge Lagerleiterin, vorwiegend mit Trainingsanzug bekleidet, predigt Frühsport, Geländespiele und Arbeitseinsätze auf dem Kartoffelacker. Die jungen Erzieher aber planen eine Aufführung von Shakespeares „Romeo und Julia“: „So entbrannten wir zusammen in Blick und Händedruck und Kuss.“ Seit wann ist die Liebe das Problem von Kindern, fragt die Lagerleiterin, und: Warum spielen Sie nicht ein Stück aus dem FDJ-Leben? – Doch die Poesie ist stärker, und Shakespeare sowieso: In die Alltagsdialoge der jungen Leute fließen bald Sätze aus „Romeo und Julia“ ein, zeitlos schöne Sentenzen, die keinesfalls wie aus einem fernen Jahrhundert wirken, sondern ganz nah, ganz authentisch. „Du verlassest mich so unbefriedigt“, sagt Julia in der berühmten Balkonszene beim Aufbruch Romeos. „Was für Befriedigung begehrst Du noch?“, fragt Romeo zurück, dem Stücktext gemäß und zugleich vollkommen gegenwärtig. Dabei streifen sich Karolines und Roberts Blicke, die Beiden schmunzeln wissend in sich hinein und ahnen: Der gute alte William ist ihnen so verdammt nah.

Macbeth ist ein Mann, der im Netz seiner Ambitionen zappelt. Mit dem Spinnwebwald und der „Burg Spinnennetz“ entwarf Akira Kurosawa ein mächtiges Bild für die Schicksalsfalle der Shakespeare-Tragödienfigur. Nebel wallt, Blitze zucken, im Dickicht des Spinnwebwalds verirren sich die beiden Samurai Washizu (Macbeth) und Miki (Banquo) heillos, bis sie auf einen am Spinnrad sitzenden Geist (also keine Hexen) treffen und von ihm über ihr weiteres Schicksal unterrichtet werden. Wie bei Shakespeare zieht dann Washizu, gedrängt von seiner ehrgeizigen Gemahlin Asaji, die fatalen Schlüsse aus den Weissagungen. Er tötet den König, lässt später den Freund Miki ermorden. Kurosawa änderte nicht viel, verlegte das Drama von Schottland in das mittelalterliche Japan, strich das Personal zusammen, raffte die Handlung. Virtuos der Wechsel zwischen dynamischen Szenen – etwa des Orientierungsverlusts im Wald – und statischen Momenten. In den Dialogen zwischen Washizu und seiner „Lady Macbeth“ herrscht angespannte Stille. Isuzu Yamada spielt Asaji wie im Nō-Theater, maskenhaft und mit extrem reduzierten Gesten. Die wohl furchterregendste Darstellung der Lady-Figur im Kino, von Kurosawa als zweite Verkörperung des Waldgeistes konzipiert. Im Kontrast dazu gibt Japans Superstar Toshirō Mifune den zum Mord verlockten Washizu mit ausladender Körperlichkeit als grimmigen Kabuki-Helden. Das Finale gehört ganz ihm. Das feindliche Heer rückt, die Bäume des Spinnwebwaldes vor sich hertragend, auf die Burg

Ralf Schenk

des Tyrannen zu. Doch Washizu stirbt im Pfeilhagel seiner eigenen Schützen. Wie ein zappelndes Tier verfängt er sich im Gestrüpp der Schäfte, bis ein Pfeil seinen Hals durchbohrt. „Aus, aus, kleine Kerze!“ Nie ging Macbeth elender zugrunde.

„Richard III.“ wieder zum Sprechen bringen / Al Pacinos „Looking for Richard” (1996)

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Macbeth als Kabuki-Held / „Das Schloss im Spinnwebwald“ von Akira Kurosawa (1957)

Romeo und Julia im Ferienlager / Herrmann Zschoches „Sieben Sommersprossen“ (1978)

kino

„What the fuck do you know about Shakespeare?“, brüllt ein bärtiger Lockenkopf die Filmemacher an. Und ein anderer sagt ihnen, Shakespeare gehöre auf jeden Lehrplan, damit man in Amerika wieder lerne zu fühlen, anstatt einander über den Haufen zu schießen. Es ist 1996, Al Pacino will „Richard III.“ in New York auf die Bühne bringen, mit sich selbst in der Titelrolle, und sein Film „Looking for Richard“ dokumentiert die Proben zu dieser Inszenierung. Pacino befragt Akademiker zum (literatur-)historischen Hintergrund des Stücks, er möchte von den Passanten auf der Straße wissen, was Shakespeare ihnen heute noch bedeutet, und er spricht mit Schauspielern, von Sir John Gielgud über Kevin Spacey bis zu Kenneth Branagh. Der Krüppel Richard, ein Hollywood-Star mit umgedrehter Baseball-Cap? Aber Pacino ist nicht daran interessiert, Shakespeares wohl vielschichtigsten Bösewicht einer radikalen Neuinterpretation zu unterziehen. Es endet auf einem weiten Feld, mit Kriegern in traditioneller Rüstung und

natürlich mit der Sache mit dem Königreich und dem Pferd, und bis dahin ist man die meiste Zeit auf der Probebühne oder hängt an den Lippen von „talking heads“. Und so kommt es dann doch wieder, über den doppelten Umweg der Bild- und Körpermedien Theater und Film, zurück zur Sprache. Das ist, verglichen mit den Luhrmanns und Almereydas des Kinos, zweifelsohne eine konservative Pointe. Aber vielleicht sind diese Sprache und das Gefühl, das in ihr steckt, unterwegs ja herausgeschleudert worden aus ihrem Elfenbeinturm und wieder angekommen in den Herzen und Köpfen der Menschen des späten 20. Jahrhunderts. Tim Slagman

Jens Hinrichsen

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Marius Nobach

Hätte William Shakespeare, der nie auf einer Universität das Dichten erlernte und deswegen als Emporkömmling angefeindet wurde, gesehen, wie Gus Van Sant seinen „Henry IV.“ in ein Stricher-Drama verpackte, vielleicht hätte er trotz des tragischen Tenors geschmunzelt: Sein notorisch in schlechter Gesellschaft verkehrender Prinz Heinrich von Wales wird zum Bürgermeistersohn Scott auf den Abwegen des Straßenstrichs. „Ritter“ Falstaff wird zu Bob, dem großspurigen, beleibten und lumpigen Oberhaupt einer Horde junger Obdachloser, die den Bürgern nicht im London des ausgehenden 14. Jahrhunderts, sondern im US-amerikanischen Portland des Jahres 1991 in die Tasche greifen. Mit sexueller Gegenleistung oder ohne – wie bei der berühmten Doppelraub-Szene, in der Scott und Mike - wie Henry und Poins - die in rosafarbene Plüsch-Bademäntel gehüllte Diebestruppe um Falstaff/Bob direkt nach ihrem Coup noch einmal überfallen. Renaissance-Klänge von Laute und Cembalo, rüschige Kostümdetails und direkte Shakespeare-Zitate läuten in „My Private Idaho“ das Bühnenstück im Filmstück ein, wobei letzteres eigentlich von der Liebe des an Narkolepsie leidenden Strichers Mike zu Scott erzählt. Doch Scott schläft nur gegen Geld mit Männern und wird mit der Aussicht auf sein Erbe auch seine Heterosexualität wiederfinden. Romeo und Romeo, nicht nur wegen ihrer Herkunft getrennt. „My Private Idaho“ handelt wie Shakespeares „Henry IV.“ von der Rebellion und Anpassung eines „Königssohns“ sowie von der Zurückweisung seiner unziemlichen Weggefährten, denen das trügerische Glück des Wohlstands von Geburt an verschlossen bleibt. Der beerbte Scott wird seinem „real father“ Bob, wie Henry seinem Falstaff, wortwörtlich den Rücken kehren, bevor eine Begräbnisszene zeigt, auf welcher Seite die Freiheit und somit auch das Glück zu Hause sind. Unbeirrt webt Van Sant den Shakespeare-Stoff in sein Drama einer geschlechtergrenzenlosen Verlorenheit – nicht um den Inhalt von „Henry IV.“ nachzuerzählen, sondern um uns ein verzweifeltes Aufbegehren auf der Einbahnstraße in Richtung Macht nachfühlen zu lassen. Kathrin Häger Filmdienst 9 | 2014

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Nachtfahrten von Prince Hal / Gus Van Sants „My Private Idaho“ (1991)

der ausschließlich im Weltraum spielte. Für diese Expedition in die unerforschten Weiten des Universums nahm der HollywoodRegisseur eine unerwartete Inspirationsquelle mit an Bord: William Shakespeares Spätwerk „Der Sturm“. So treffen die Raumfahrer von der Erde auf dem Planeten Altair-4 den Wissenschaftler Dr. Morbius, einen patrizierhaften Einsiedler mit erstaunlichen Kräften, ganz wie Shakespeares Prospero. Als Zauberer der Zukunft hat er sich die Geheimnisse des Gestirns zu eigen gemacht und kann sie nach Belieben einsetzen. Ihm zur Seite stehen seine Tochter, die größeres Interesse an den männlichen Besuchern zeigt, als es ihrem strengen Vater lieb sein kann, und der Roboter Robby, eine etwas klobige futuristische Ausgabe des dienstbereiten Luftgeists Ariel. Vieles erscheint in diesem Film naiv, und dennoch ist er zu Recht ein Science-FictionKlassiker. Ohne Shakespeares Dialoge, aber mit ähnlicher Fabulierlust entfaltet sich das Szenario auf dem wundersamen Planeten, der auf die Astronauten zunächst wie ein Paradies wirkt. Doch die Natur lässt sich nicht kontrollieren und wendet sich gegen die Menschen: Der Sturm, den Morbius entsendet, ist ein Produkt seines eigenen Unterbewusstseins, ein unsichtbares Ungeheuer mit gewaltiger Kraft. Zu spät erkennt er seine dunkle Seite, die entfesselten Monsterkräfte kann er nur stoppen, indem er sich opfert. Die Vernunft, die Prospero seinen Stab zerbrechen und sein Zauberbuch im Meer versenken lässt, trauten die Filmemacher ihrem Wissenschaftler nicht zu. Doch mit Shakespeares demokratischer Botschaft stimmen sie überein: Für das Wohl der Menschheit darf ein Einzelner nicht über unbegrenzte Macht verfügen.

Der „Sturm“ der Zukunft / Der Science-Fiction-Film „Alarm im Weltall” (1956)

ten Shakespeare-Verfilmungen überhaupt auf der großen Leinwand entgangen. Julie Taymor erschuf aus Shakespeares „Jugendsünde“ eine versgetreue Bilderoper, die sich in einem anachronistischen Amalgam aus Archaik und Art Deco suhlt, in dem Mussolinis Panzer, Albert Speers Nazi-Architektur und die Hadriansvilla einträchtig nebeneinander stehen. Die in einem zeitlosen Universum angesiedelte Farce um den grausamen General Titus Andronicus (Anthony Hopkins), der siegreich zurückgekehrt erfährt, dass die von ihm gedemütigte und nach Rache dürstende Gotenkönigin Tamora (Jessica Lange) auf dem römischen Thron triumphiert, entwickelt sich zu einem aberwitzigen Intrigenspiel und formal zu einer kongenialen Neuinterpretation eines Splatterstücks. Theaterregisseurin Taymor entlockte in ihrem ersten Langfilm dank etlicher, mit viel Werkverständnis ausgewählter Großaufnahmen ihrer Darsteller dem Brachialwerk überraschende Zwischentöne. Hier siegt der Film über das geschriebene Wort und dessen Umsetzung auf der Theaterbühne! Jörg Gerle

Zwischentöne in einem Brachialwerk / Julie Taymors „Titus“ (1999)

Es ist eine Tragödie für sich, dass „Titus“ (1999), die Verfilmung des blutigen Frühwerks von Shakespeare, damals aus den deutschen Kinostartlisten verschwand. In Zeiten des Börsen-Hypes für Deutschland eingekauft, wechselten die Rechte von einem Jungunternehmen zum anderen, und schließlich landete das Werk im Zuge des „Neuen Markt“-Crashs 2002 in den „Direct to Video“-Regalen. So ist uns eine der schauspielerisch und audiovisuell brillantesten, inszenatorisch ambitioniertes-

Ein Aufbruch zu neuen Welten – inhaltlich und filmhistorisch: Fred M. Wilcox schuf 1956 mit „Alarm im Weltall“ den ersten Film,

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Zärtlichkeit

In der Stille liegt die Kraft

[Start 24.4.]

FILM DIenST

Die erfindung der Liebe Mit Maria Kwiatkowsky

[Start 1.5.]

neu IM KIno: FILMKrITIKen

nächster Halt: Fruitvale Station

The Invisible Woman

Nach einem authentischen Fall

Eine verschwiegene Affäre

[Start 1.5.]

[Start 24.4.]

Tao Jie von ann hui [start 24.4.] Miss Sixty von sigrid hoerner [start 24.4.] Gabrielle von louise archambault [start 24.4.]

S. 37 S. 43 S. 44

herausragend, ein meisterwerk sehr gut, ambitioniert, lohnenswert solide und interessant wenig aufregend, mittelmaß verschenkt, enttäuschend ärgerlich, anstößig, eine Zumutung

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Fruitvale Station

Der letzte Tag im Leben von Oscar Grant Verwackelte und verwaschene Bilder, aufgenommen mit einer Handykamera, zeigen eine unübersichtliche Szenerie: eine U-Bahnstation mitten in der Nacht, vier junge Afroamerikaner sitzen an eine Wand gelehnt, ein weiterer liegt wenige Meter entfernt am Boden, bewacht von mehreren Polizisten. Es herrscht Chaos, aus allen Richtungen sind Geschrei und wüste Beschimpfungen zu hören, von den Männern am Boden und ihren Bewachern wie von den Passagieren der Bahn, die an der Station gestoppt worden ist. Die Situation eskaliert, bis einer der Polizisten seine Pistole zieht und einem Mann in den Rücken feuert. Was der amerikanische Regisseur Ryan Coogler zu Beginn seines Spielfilmdebüts präsentiert, sind dokumentarische Aufnahmen von einem Vorfall, der in den USA hohe Wellen schlug: der Tod des 22-jährigen Oscar Grant aus der Nähe von San Francisco, der in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 2009 in einer U-Bahn in eine Schlägerei geriet und bei der Kontrolle

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an der nächsten Station erschossen wurde. Die Videos mehrerer Zugpassagiere kursierten bald darauf im Netz und lösten teilweise auch gewalttätige Proteste aus. Der verantwortliche Polizist erhielt nur eine geringe Gefängnisstrafe, da er angab, statt seines Elektroschockers unbeabsichtigt die Dienstwaffe gezogen zu haben. Ryan Coogler interessiert sich aber nicht primär für das Skandalträchtige des Falls; ihm geht es vor allem um ein Porträt des Menschen Oscar Grant, weshalb er sich auf die Handlungen am letzten Tag seines Lebens konzentriert. Der junge Mann, wegen Drogendealerei vorbestraft, ist Vater einer vierjährigen Tochter und hat gerade seine Arbeit in einem Supermarkt verloren. Doch er versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Er schwört seiner Freundin hoch und heilig, dass er sie nie wieder betrügen und dass er auch mit dem Dealen aufhören würde; die letzte Tüte Marihuana schüttet er an diesem Tag ins Meer, obwohl er das Geld gut gebrauchen könnte. Er versucht

(vergeblich), seinen früheren Chef zu überreden, ihm seinen alten Job wiederzugeben. Seiner Mutter verspricht er, sich künftig wie ein Erwachsener aufzuführen und für seine Tochter zu sorgen. Oscar ist beileibe kein Heiliger, aber auch alles andere als ein übler Kerl. Der charismatische Newcomer Michael B. Jordan verleiht dieser Figur einen lausbübischen Charme, der nachvollziehbar macht, warum Oscars Familie ihm immer wieder verzeiht, und der ihn auch für die Zuschauer zum Sympathieträger macht. Im Wissen um sein trauriges Ende hätte der Film leicht zur einseitigen Opferverklärung geraten können, doch die Inszenierung steuert dem bewusst entgegen. Anfangs ist die Leinwand noch dunkel; man hört, wie sich Oscar und seine Freundin über ihre Vorsätze fürs neue Jahr unterhalten. Oscar amüsiert es, dass Sophia sich gesünder ernähren will, da er dies angesichts der nährstoffreichen Kochkünste ihrer latinostämmigen Familie für aussichtslos hält. Sein Schlussstrich unter die kriminelle Vergangenheit hat allerdings ähnlich geringe Aussichten auf Erfolg, da auch er sich von seinem Milieu nicht von einem auf den anderen Tag lösen kann. An das Versprechen, seiner Freundin treu zu bleiben, erinnert er sich nur ein paar Stunden, bis er mit einer anderen Frau flirtet; er ist oft leichtsinnig und unzuverlässig, und auch mit der Ehrlichkeit nimmt er es nicht so genau. Was aus Oscar Grant geworden wäre, schwebt als große, unbeantwortbare Frage über dem Film, der seinen Figuren mit der Handkamera äußerst nahe kommt und ein ungewöhnlich dichtes Bild vom Umfeld des Protagonisten zeichnet: Eine Welt, die von Armut und schlechten Zukunftsaussichten geprägt ist, aber durch zwischenmenschliche Bande und vor allem das entschlossene Auftreten von Oscars Mutter und Freundin zusammengehalten wird. Die Mili-

euzeichnung erinnert manchmal an die frühen Werke von Spike Lee oder „Boyz ’n the Hood“ von John Singleton, doch Coogler schafft es mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein, eine eigene Handschrift zu entwickeln. Wo Singleton mitunter ins Triviale abrutscht und Lee mit zorniger Einseitigkeit polemisiert, stellt Cooglers fein austarierter Film den Rassismus als eher unterschwellig vorhandenes, nichtsdestoweniger aber virulentes Problem dar. Das umfasst eine Geburtstagskartenindustrie, die sich eine glückliche afroamerikanische Familie offenbar nicht vorstellen kann, aber auch die fulminante Kulmination des Films. Marius Nobach

bewertung der filmkommission

Verfilmung eines US-Polizeiskandals aus dem Jahr 2009: Ein junger Afroamerikaner wird nach einer U-Bahn-Schlägerei von einem weißen Polizisten an einer Bahnstation in San Francisco erschossen. Stilsicher folgt das vorzüglich gespielte Spielfilmdebüt den letzten Stunden des Mannes, der mit seiner kriminellen Vergangenheit abschließen und in Zukunft ein besserer Sohn, Freund und Vater sein will. Eine ungemein dichte Milieudarstellung, die den Figuren nahekommt, ohne sie zu verklären, und Rassismus schlüssig als unterschwelliges, fest etabliertes Phänomen der US-Gesellschaft darstellt. – Sehenswert ab 16.

USA 2013 regie, buch: Ryan Coogler kamera: Rachel Morrison musik: Ludwig Göransson schnitt: Michael P. Shawver, Claudia S. Castello darsteller: Michael B. Jordan (Oscar Grant), Melonie Diaz (Sophia), Octavia Spencer (Wanda), Kevin Durand (Officer Caruso), Chad Michael Murray (Officer Ingram), Ahna O’Reilly (Katie), Ariana Neal (Tatiana) länge: 85 Min. | fsk: ab 12; f verleih: DCM | kinostart: 1.5.2014 fd-kritik: 42 326

Filmdienst 9 | 2014

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