fIlM DIenST Das Magazin für Kino und Filmkultur www.filmdienst.de
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ADOLF WINKELMANN
„Das andere Kino“: Der Filmemacher gab dem Ruhrgebiet eine filmische Identität.
SANDRINE KIBERLAIN Blondgelockt, aber gar nicht engelhaft: Eine Hommage an die französische Schauspielerin.
FILM IN DER TÜRKEI
Das unabhängige Kino leidet nicht nur unter der Zensur, sondern auch unter der Monopolisierung des Filmmarkts.
JAMES MCAVOY
Der erfolgreichste schottische Hollywood-Export seit Sean Connery ist derzeit in „X-Men: Apocalypse“ und „Victor Frankenstein“ zu sehen.
12. Mai 2016 € 5,50 69. Jahrgang
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+ 51 47 51 39 47 49 51 41 36 51 51 45 38 44 48 46 50 40 37 47 43 42
ALLE STARTTERMINE Ali kundilli 2 14.4. Angry birds - Der Film 12.5. Ateş aka Feuer 21.4. bakur 19.5. Für immer eins 19.5. Happy Hour 12.5. Hope for all 12.5. Der junge Messias 12.5. Junges Licht 12.5. Loev 12.5. Mängelexemplar 12.5. Monsieur Chocolat 19.5. Mr. Gaga 12.5. nur Fliegen ist schöner 19.5. Parchim international 19.5. Petting Zoo 19.5. Die Poesie des unendlichen 12.5. Die Prüfung 19.5. Remainder 12.5. Remake, Remix, Rip-off 5.5. The Witch 19.5. Victor Frankenstein – Genie und Wahnsinn 12.5.
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monsieur ChoColaT
der katholischen Filmkritik
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Vielschichtige Ruhrgebietschronik und sensible Aufbruchsgeschichte eines Bergarbeiterjungen
Fernseh-tiPPs 56 im Fernsehen sind die erstausstrahlungen von hochkarätigen Filmen wie „12 Years a Slave“ (ProSieben) und „Heli“ (arte) zu erleben. Außerdem strahlt arte Woody Allens Opernregie-Debüt aus und widmet einen Thementag der unterschätzten Romantik von Tankstellen. „Heli“
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nur flieGen isT sChÖner
Fotos: TITEL: 2016 Twentieth Century Fox. Fotograf Sarah Dunn.. S. 4/5: Weltkino, arte, Peripher, DCM, Farbfilm, Adolf Winkelmann, Prokino, Warner Bros., Sony
neu im Kino
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adolf winkelmann
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Nicht nur mit seiner „Ruhrgebietstrilogie“ stand der Regisseur in den 1970er- bis 1990er-Jahren für ein „anderes Kino“. Gerade 70 geworden, gibt Winkelmann nun mit „Junges Licht“ sein Kino-Comeback. Ein Gespräch über eine annähernd 50-jährige Filmkarriere. Von Horst Peter Koll
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Der Regisseur lässt sich keiner „Schule“ zuordnen. Seine Filme - wie aktuell „Happy Hour“ - beziehen ihre Spannung aus Widersprüchen sowie der klugen Balance zwischen Ellipsen und fließender Erzählung. Eine Einlassung auf sein Werk. Von Esther Buss
sandrine kiberlain
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Die französische Darstellerin glänzt seit den 1990er-Jahren in unterschiedlichsten Rollen. Dabei hat sie sich nie auf ein Image festlegen lassen. Eine Hommage. Von Michael Ranze
Männer weinen nicht!? Der schottische Superstar unterläuft in seinen Rollen nicht nur dieses Klischee. Im Kino behauptet er sich damit höchst erfolgreich. Ein Porträt. Von Felicitas Kleiner
Die niederländische Schauspielerin Cox Habbema machte im DDR-Kino Karriere, der Tscheche Jan Nemec drehte Schlüsselwerke des Prager Frühlings. Zwei Nachrufe. Von Ralf Schenk
27 e-mail aus hollywood
Die gestiegenen Kinoumsätze des letzten Jahres haben in Hollywood für Jubel gesorgt. Dass junge Erwachsene jedoch immer seltener ins Kino gehen, deutet auf eine Übersättigung durch Franchises hin. Von Franz Everschor
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e-mail aus hollywood
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Der israelische Videokünstler gibt mit „Remainder“ sein Debüt als Kino-Regisseur. Fragen nach Erinnerung und Einbildung prägen sein Oeuvre. Eine Einführung in seine Arbeit. Und ein Gespräch über den Übergang vom Museum zum Kino. Von Jens Hinrichsen und Wolfgang Hamdorf
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Beim Festival „goEast“ in Wiesbaden waren vor allem politische Filme aus Mittel- und Osteuropa zu sehen. Das Dokumentarfilmfestival „Visions du réel“ in Nyon feierte Kino als Akt des Widerstands. Von Margret Köhler und Irene Genhart
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RubRiken EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAy TV-TIPPS P.S. VORSCHAU / IMPRESSUM
Es sind harte Zeiten für die türkische Kinokultur. Neben der Zensur gegen Filmemacher werden anspruchsvolle Werke auch durch die wachsende Monopolisierung der Kinolandschaft bedroht. Ein Lagebericht. Von Emine Yildirim
Grüne schweine sind die Widersacher in „Angry Birds - Der Film“
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kino franz müller Zwischen Roberts „Irgendwas fehlt immer“ und Georgs „Um Filme zu machen, muss man in der Lage sein, seine Mutter umbringen zu können“ liegt, auch wenn es kaum danach klingt, nur ein schmaler Grat. Robert und Georg entstammen zwei sehr unterschiedlichen Filmen von Franz Müller, „Die Liebe der Kinder“ und „Worst Case Scenario“; Robert neigt zu Pragmatismus, Georg ein wenig zu Hysterie, aber sie kommen trotz allem aus derselben Welt. Und diese Welt ist vor allem eine der Mischverhältnisse – und nicht eine der Extreme und Reinformen. Der Raum des Möglichen und der Raum des Vergeblichen liegen in der Müller-Welt unmittelbar nebeneinander, und es ist sicherlich kein Zufall, dass das Debüt des Filmemachers („Kein Science Fiction“) ein Szenario entworfen hat, in dem verschiedene Zonen von Zeit und Wirklichkeit nur von einer einfachen Tür getrennt werden. Das Durchwachsene, Durchmischte, das die Figuren, Plots, aber auch die gesellschaftlichen Milieus in den Filmen des 1965 in Mosbach geborenen Regisseurs auszeich-
net, ist auch für Müllers – zumindest im Vergleich mit anderen deutschen Filmemachern – nicht ganz so geradlinige Laufbahn bestimmend. Franz Müller studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie, malte u.a. in der Klasse von Gerhard Richter, wechselte später zu Oswald Wiener, studierte Kybernetik, fotografierte und machte Performances. Mit dem Filmen begann er während eines Postgraduiertenstudiums an der Kunsthochschule für Medien Köln. Nach einigen Kurzfilmen – Müller kollaborierte u.a. mit Rainer Knepperges als Autor bzw. Co-Autor – folgte „Kein Science Fiction“ (2003), der mit wenig Geld und viel Improvisationsraum gedrehte Abschlussfilm. Außerdem arbeitete er beim Kölner Filmclub 813 mit, organisierte dort die erste vollständige Werkschau der Regiearbeiten von John Cassavetes, schrieb für diverse Filmzeitschriften. Seit 2006 ist Müller auch Mitherausgeber der Zeitschrift „Revolver“ (für die er zum Beispiel Interviews mit Bob Rafelson, David Gordon Green und Agnès Jaoui führte). „Mein Ziel war es nie, epochale Filme zu machen“, erklärte Müller einmal in einem
Zu den Filmen von Franz Müller
immer schön bunt drauflos Der deutsche Regisseur ist eine Ausnahmeerscheinung in der hiesigen Kinolandschaft. Seine Filme leben von Widersprüchen und verweigern sich jeder Vereinnahmung. So aktuell auch die Freundschaftskomödie „Happy Hour“ (Kritik in dieser Ausgabe). Von Esther Buss
„Happy Hour“
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franz müller kino Blogeintrag. Die Filmzeitschrift „Cargo“ Muff, geschmacklos und sprachverelendet). schrieb in einem Intro zu einem sehr In einem Müller-Film ist es eben kein schönen, ausführlichen Interview mit dem Widerspruch, mit dem Sohn gemeinsam Regisseur: „Ein bisschen verhält sich Franz Klarinette zu spielen und aus Frust beim Müller zur Berliner Schule wie Luc Moullet Fußball mal zuzuhauen (wie Robert in „Die zur Nouvelle Vague.“ Die Überformung Liebe der Kinder“). Und wenn Wolfgang in durch Reduktion, durch Weglassen, wie es „Happy Hour“ seinem betrogenen Freund die Filme des engeren und erweiterten HC rät, die „Alte einfach mal zu vermöBerliner-Schule-Zusammenhangs beln“, so bedeutet das weder, dass auszeichnet, ist Müllers Sache in er gewaltbereit ist, noch dass er Jen seits der Tat nicht. Man sieht das oft zu den Alkoholikern oder Langde r schon an der Titeltypo: kindlich zeitarbeitslosen gehört. Krakeliges in „Worst Case ab ge z irke lt en Dabei spielen gesellschaftliche Scenario“, Jahrmarktgeblinke Zugehörigkeiten, aber auch milie u s in „Happy Hour“, immer schön Schichtunterschiede – Klasbunt drauflos, der Begriff Design senkonflikte wäre eben schon zu kommt einem hier erst gar nicht in den hochtrabend – in Müllers Filmen eine Sinn. Und so wenig wie man es auf der wichtige Rolle. In „Kein Science Fiction“ ästhetischen Ebene in Müllers Filmen mit etwa macht der Motivationstrainer Marius Purismus und Sparsamkeit zu tun hat, so (Jan Hendrik Stahlberg) seinem ebenso wenig hat man es bei dem Figurenpersonal schüchternen wie lernresistenten Schüler mit bereinigten, abgezirkelten Milieus zu Jörg (Arved Birnbaum) unmissverständlich tun (man sieht das im deutschen Kino und klar, dass er zu den „Wasserträgern“ gehört Fernsehen ja leider zu oft: entweder geho– und nicht zu den „Leistungsträgern“. Als benes Bildungsbürgertum, geschmackssidie beiden durch unerklärliche Gründe in cher und sprachpräzise, oder Kleine-Leuteein Raum-Zeit-Kontinuum geraten („Und
täglich grüßt das Murmeltier“ lässt grüßen), werden in immer neuen Variationen soziale Situationen durchgespielt, in denen Marius seine Gewitzheit, Manipulationsfähigkeit und Sprachgewandtheit (aber auch seine Arschlochhaftigkeit) gegenüber dem Verlierertypen Jörg so lange ausspielt, bis sich das asymmetrische Kräfteverhältnis neu sortiert. Am Ende sind beide zwar keine neuen Menschen, aber die nicht so feinen Unterschiede haben sich nahezu nivelliert. In „Die Liebe der Kinder“, bis heute Müllers schönster Film, spielen gesellschaftliche Minderwertigkeitskomplexe eine nicht unerhebliche Rolle. Nachdem die Bibliothekarin und Autorin Maren (Marie-Lou Sellem) herausgefunden hat, dass ihre Internet-Verabredung Robert (Alex Brendemühl) Baumschneider ist und nicht, wie angegeben, Biologe und Mitarbeiter einer Umweltorganisation, macht sie sofort einen rationalen Schnitt – dass er gut riecht und schöne Handgelenke hat, wiegt nicht genug. Die beiden kommen dann aber doch zusammen, und es ist zunächst einmal nicht weiter schlimm, dass Robert nicht weiß, wie
„Es geht um unsere Unvollkommenheit, darum, dass wir nicht aus unserer Haut rauskönnen, und dass wir es trotzdem versuchen. Dass wir als Mitte 40-Jährige die gleichen Rollen spielen wie als Teenager und das Leben doch weitergeht. Eben unvollkommen. Es geht um das scheinbare Paradox, das menschliche Geschichten für mich erzählenswert macht: Ein Mensch kann sich nicht ändern. Und: Ein Mensch kann sich ändern.“ Franz Müller über „Happy Hour“ Filmdienst 10 | 2016 17
kino franz müller man eine speckige Erstausgabe anfasst, und dass er beim Bibliotheksbesuch nach der Eintrittsgebühr fragt. Das alles und mehr – etwa die Vorliebe für Dartspiel, Irish Pubs, Karaoke und das Einschlafen bei Kurt Vonnegut – wird ihm aber umso mehr angelastet, nachdem Marens Tochter und Roberts Sohn zusammenkommen und den Eltern eröffnen, heiraten und auswandern zu wollen. Die Liebe der Kinder wird zum Spiegel für die Liebe der Eltern – ein Konkurrenzschauplatz, auf dem die unterschiedlichen, nicht zuletzt alters- und lebenserfahrungsbedingten „Qualitäten“ von Liebe plötzlich als Werte gehandelt werden. Zunächst schneidet die erwachsene, pragmatische, vernünftige und kompromissbereite Liebe der Eltern schlecht ab im Vergleich mit der impulsiven, romantischen, leidenschaftlichen, aber auch total überheblichen und selbstgerechten Liebe der Kinder. Trotz der modellhaften Konstruktion wirkt „Die Liebe der Kinder“ in keinem Moment gebaut. Mühelos balanciert der Film zwischen einer elliptischen und fließenden Erzählung – Müller wählt immer wieder den erzählökonomisch kürzesten Weg (die gan-
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ze Exposition ist ein Muster an Effizienz), die aus weniger lustigen Gründen zustande um gleich darauf den Erzählraum zu weiten, kam: Nur wenige Wochen vor Drehbeginn Luft hineinzulassen, dem Moment gegenseiner geplanten Fußballkomödie brach über der Handlung den Vorzug zu geben. Müller die Finanzierung zusammen. In nur Mitunter erinnert das an die Filme Claude zwei Wochen und praktisch ohne BudSautets, ebenso wie die Selbstverget drehte er mit Kölner und Berliner ständlichkeit, mit der hier das Freunden, darunter Regisseure und Arbeitsleben erzählt wird, so Schauspielerinnen wie Laura ganz ohne das Gewicht der Tonke, während der Fußball-EM arbeit „Relevanz“. Müller zeigt sich in auf einem polnischen Campingmit dem diesem Film auch als ein Replatz einen improvisierten „Resimperfekten tefilm“, der eben diese Geschichte gisseur, der Schauspieler und gerade auch Schauspielerkörper eines gescheiterten Films zum so lebendig wie präzise in Szene Ausgangspunkt nimmt. In der Fiktion zu setzen vermag. Die Dialoge sind scheitert er an der fehlenden Thematik der nicht eigentlich naturalistisch, haben aber deutsch-polnischen Vergangenheit. „Man auch nicht den Schliff des Geschriebenen muss spüren, der Faschismus kann aus dieund zigfach Überarbeiteten. Toll ist auch, ser Chipstüte wieder herauskriechen“, wirft wie sich aus Roberts Verstocktheit ganz die Produzentin ein (wenn die Argumente überraschend eine klare Sprache bahnt und der Fördergremien doch wenigstens so wie in seinem wurzeligen Körper Ungeübergeschnappt wären!). Wie der Regisstümtheit und Sensibilität zusammenfinden. seur Georg (Samuel Finzi) auf Biegen und Dass Müller wenig Interesse an der VerfeiBrechen an seinem Filmprojekt festhält und nerung seiner filmkünstlerischen Handsich dabei auf immer absurdere Beschränschrift hat – ja, überhaupt an der Idee einer kungen einlässt – seinen künstlerischen unverwechselbaren Signatur –, zeigt sein Anspruch verraten die Namen der Festplatanschließender Film. „Worst Case Scenaten: Sie heißen Fellini und Antonioni – ist rio“ (2014) ist eine Film-im-Film-Komödie, bei aller komischen Übertreibung letztlich
Fotos: Real Fiction, epix, 2pilots
franz müller kino natürlich gar nicht so weit entfernt von der Realität selbstausbeuterischer künstlerischer Arbeit, wie sie überall dort stattfindet, wo Geld knapp ist und man sich mit dem Versprechen auf symbolisches Kapital bei der Stange hält. „Dieser Film will ja offensichtlich überhaupt nicht passieren“, sagt Olga (Eva Löbau), Georgs schwangere Ex-Freundin und Kostümbildnerin des Projekts hellsichtig. „Worst Case Scenario“ lässt sich als ein Einspruch gegen diese Erkenntnis lesen: Filme passieren, so lange Leute da sind, die sie aus der gegebenen Situation heraus zu machen bereit sind – und wenn die Bedingungen eben alles andere als perfekt sind, dann arbeitet man eben mit dem Imperfekten. Auf etwas andere Weise speist sich „Happy Hour“ (2015) aus der Triebkraft des Sozialen. Müller schickt in seinem jüngsten Film drei alte Jugendfreunde in den Irland-Urlaub – und auf eine Gratwanderung zwischen Selbstmitleid und Trost, Midlife-Krise und pubertärer Regression. HC (Alexander Hörbe), frisch verlassen, soll, so wollen es die Freunde Wolfgang (Simon Licht) und Nic (Mehdi Nebbou), den Trennungsschmerz mit Fischen, Frühsport
und Guinness-Touren vergessen. Für einen Müller-Film ist „Happy Hour“ erstaunlich auserzählt. Der verspießte, dauerpatronisierende Cottage-Besitzer Wolfgang, der indifferente Nic, der tapsige NeinsagenNichtkönner HC: Diese Rollenverteilung wird immer wieder aufs Neue szenisch durchgespielt. Sehr schön und richtungsoffen werden hingegen die Dynamiken an einem versoffenen Pub-Abend eingefangen: die anfängliche Verklemmtheit, die veränderte Körperspannung, aber auch -entspannung, sobald der Kontakt zu Frauen erfolgreich ins Laufen gebracht ist, die Euphorie, das Sich-Treiben-Lassen, die Momente von Ernüchterung und Verwirrung am nächsten Morgen. Ähnlich wie in John Cassavetes’ „Husbands“ (1970) geht
es auch in „Happy Hour“ um die rituellen Gesten, Beschwörungen und Handlungen in Männerfreundschaften, ihre brachialen und fragilen Momente, um ihre Kipppunkte. Freilich ist das kulturelle und gesellschaftliche Milieu ein gänzlich anderes (was bei Cassavetes das Spielcasino ist, ist bei Müller das Pub-Quiz). Müller widmet sich ganz bewusst den gemäßigten Ritualen: zu dritt im Rhythmus Zähneputzen, nackt Holz hacken, mitten in der Nacht die Ex-Frau anrufen und beschimpfen. Das Versprechen auf Entgrenzung und Befreiung, das da gelegentlich mitschwingt, wird im Zaum gehalten, die Realität der Begrenzungen ist zu offensichtlich. Dass beides da ist, ist dennoch essenziell – dazwischen liegt weniger als eine Tür. •
„Was ist meine Happy Hour…? Offen gesagt, geht mir dieses ganze Gequatsche über Glück ziemlich auf den Geist. Glück ist doch ohnehin nichts, was man erzwingen kann, erarbeiten kann, schaffen kann, erreichen kann. Wenn man es sucht, findet man es nicht. Wenn man aufhört, es zu suchen, wird es sich einstellen. Aber natürlich nicht für immer. Glück ist für mich Zufall. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein – in jeder Beziehung.“
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willkommen auf dem planeten mars! Kinokultur in der Türkei: Überlebenskampf im eisigen Klima politischer Knebelung und kommerzieller Verdrängung Von Emine Yildirim
Es waren einige harte Jahre fürs türkische Kino. Vielleicht kann man die Abwärtsspirale nicht an einem exakten Datum festmachen, doch bleibt ein Ereignis besonders in Erinnerung, weil es nicht nur die Schwächung der nationalen Filmfestivals veranschaulicht, sondern auch für die Durchsetzung einer Monopolisierung der Abspielstätten steht: Im April 2013 wurde während des Istanbul Filmfestivals eine friedliche Demonstration aus Filmleuten und NGO-Mitgliedern von Polizisten angegriffen. Die Demonstranten protestierten gegen die gesetzeswidrige Zerstörung des Emek Kinos in Beyoğlu, des ältesten und größten unabhängigen Kinos in der Türkei, das durch eine riesige Shopping Mall ersetzt werden sollte, inklusive eines Multiplex-Kinos im oberstem Stockwerk. Das alte Emek war nicht nur eine wichtige Spielstätte für das Istanbul Filmfestival (das jetzt große Schwierigkeiten hat, einen Saal zu finden, in dem mehr als 400 Zuschauer Platz finden); es war auch eines der letzten Kinos, das es wagte, neben nationalem und internationalem Mainstream türkisches Independent-Kino zu zeigen.
Der Druck auf Die festiVals wÄchst Das Bild, das die türkische Kinolandschaft im Jahr 2016 abgibt, ist ziemlich beunruhigend: 95.000 Sitzplätze, das sind mehr als
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50 Prozent, gehören Filmtheatern der Mars Entertainment Gruppe (dem ShoppingMall-Multiplex-Giganten); die restlichen 86.000 Sitze teilen sich die übrigen Anbieter, unter denen sich weitere Multiplexe, aber auch Kinos mit nur einem Saal befinden. Es dürfte nicht verwundern, dass Mars-Kinos selten Arthouse-Filme spielen. Während der Kinomarkt von Mars monopolisiert wird und immer weniger Raum bleibt für internationale Filme, die nicht aus Hollywood stammen, als auch für nationale Filme, die weder populären Genremustern folgen noch mit zugkräftigen Fernsehstars aufwarten, stecken die nationalen Filmfestivals in labyrinthischen Debatten fest. Die unabhängige Filmszene schlägt sich mit unendlichen Diskussionen über neue staatliche Regularien herum; die Furcht vor dem politischen Status quo quält überdies viele Festivalmacher. Wie soll man nach den Zwischenfällen um den Dokumentarfilm „Bakur“ (Kritik in dieser Ausgabe) mit Filmen umgehen, die eine oppositionelle oder eine alternative Haltung vertreten? 2014 war „Bakur“, ein Film über den Alltag kurdischer Guerillakämpfer, für den Dokumentarfilm-Wettbewerb des Istanbul Filmfestival nominiert. Auf Druck staatlicher Stellen wurde er dann jedoch aus dem Programm genommen. Der juristische Hebel, der dafür angesetzt wurde, war die Tatsache, dass der
Film kein Zertifikat für eine Kinoauswertung besaß – obwohl Festivalaufführungen eigentlich keine kommerziellen Auswertungen sind. In früheren Jahren hatten die Behörden stets ein Auge zugedrückt, was diese Regelung betraf; es herrschte ein stillschweigendes Einverständnis, dass das Zertifikat für die Kinoauswertung bei Dokumentar- und Kurzfilme kein Kriterium ist, weil diese generell kaum eine Chance auf einen kommerziellen Vertrieb haben.
soliDarisches hanDeln steht aus Derzeit wird diese Regelung jedoch konsequent durchgesetzt; sie ist zu einem Instrument geworden, um die Verbreitung von missliebigen Filmen zu verhindern. Im Klartext heißt das, dass das Zertifikat so etwas wie ein Zauberstab der Zensur geworden ist. Im aktuell polarisierten, autoritären politischen Klima der Türkei haben Filme wie „Bakur“, ganz unbesehen von ihren künstlerischen Meriten oder Schwächen, keinerlei Chance, ein Zertifikat für die Kinoauswertung zu erhalten. Selbstzensur kann mitunter allerdings noch verheerender wirken. Ein drastisches Beispiel dafür lieferte 2013 das Antalya Golden Orange Film Festival, eines der ältesten und prestigeträchtigsten Filmfestivals des Landes. Reyan Tuvis Dokumentarfilm „Yeryüzü Aşıkları“, der die Proteste im Gezi
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Park zeigt, wurde dort aus dem Dokumentarfilmwettbewerb genommen, weil Tuvi sich weigerte, einen Off-Screen-Dialog aus dem Film zu entfernen, der als Beleidigung eines Politikers missverstanden hätte werden können. Mittlerweile hat das Festival nicht nur die „Goldene Orange“ aus seinem Namen entfernt, sondern den Dokumentarfilmwettbewerb gleich ganz aus dem Programm genommen. Was aber ist mit den Filmen, die ihr Zertifikat erhalten und sich in den Dschungel der kommerziellen Kinoauswertung wagen? Natürlich ist es nicht nur Sache der nationalen Filmfestivals, gegen Zensurpraktiken Widerstand zu leisten, sondern auch die der Filmemacher, Produzenten und Verleiher. Es wurden von vielen Filmschaffenden zwar Arbeitsgruppen und Foren initiiert, um kurz- und langfristige Lösungen zu suchen, doch es fehlt eine gemeinsame Stoßrichtung. Es steht aus, zu einer Einigkeit und zu gemeinsamem Handeln zu finden, wie es 1977 der Marsch gegen die Zensur war, bei dem von den Stars bis zu Beleuchtern alle Hand in Hand gegen die Knebelung der Filmbranche zu Felde zogen. Das führt zur Mars Entertainment Group zurück. Dort sind nur jene Produzenten willkommen, die eine Klamauk-Komödie, eine RomCom mit einem kräftigen Schuss Melo, vielleicht noch einem Horrorfilm mit
folkloristischem Einschlag präsentieren. Ein Festivalpreis ist hingegen längst kein Freifahrtschein auf den „Planeten Mars“. Für viele Filme heißt es deshalb zurück ins Schwarze Loch der Unsichtbarkeit, falls man nicht einen Fernsehsatelliten findet, der den „unbedeutenden“ kleinen Film versendet.
kunst & kultur weichen shopping malls Die Türkei besitzt in Europa mit über 50 Prozent den größten Kino-Marktanteil an heimischen Produktionen. Selbst in Frankreich, das in Europa der Vorreiter ist, wenn es um die gesetzliche Förderung der nationalen Filmkultur geht, liegt der Marktanteil nationaler Produktionen „nur“ bei 30 Prozent. Von solchen Zahlen darf man sich freilich nicht täuschen lassen: Von den 181 türkischen Filmen, die 2015 in Umlauf kamen, sicherten sich die „Top Ten“ im Alleingang 58 Prozent der heimischen Kinoumsätze. „Düğün Dernek 2 - Die Beschneidung“, der erfolgreichste Film des Jahres 2015, wurde auf 1700 der insgesamt 2300 Kinoleinwänden des Landes gezeigt. Selbst der neue „Star Wars“-Film, der immerhin auf zehn Prozent der türkischen Leinwände zu sehen war, konnte da nicht mithalten. Und Emin Alpers Arthouse-Drama „Abluka“, das beim
Filmfestival in Venedig den Spezialpreis der Jury gewonnen hatte? Gerade einmal auf 25 türkischen Leinwänden war der Film zu sehen. Die Riesengewinne der nationalen Filmbranche teilt sich eine Oligarchen-Clique von Produzenten, Verleihern und Kinobetreibern, denen der Mangel an fairen Wettbewerbsregelungen in die Hände spielt. Ein solcher Mangel erlaubt der Mars Entertainment Gruppe, 52 Prozent der Kinoleinwände des Landes zu besitzen und damit das Schicksal jedes türkischen Films zu bestimmen. In einer solchen Kinolandschaft gibt es für unabhängige Filme kaum eine Chance. Insgesamt sieht es für die türkische Filmkultur also düster aus, ähnlich wie für die Türkei im Ganzen: Zensur und der Ausschluss alternativer Sichtweisen, ein neoliberales Schulterklopfen für die, die dem kommerziellen Mainstream dienen. Man darf sich nichts vormachen: Kunst und Kultur haben keinen Platz mehr, wo Shopping Malls und Multiplexe sprießen. • Quellen: • „Only Blockbuster‘s Live Alive: Monopolizing Film Distribution in Turkey“. Türkei 2016. Dokumentarfilm von Kaan Müjdecis. 45 Min. Im Internet: http://film.iksv.org/en/film/3146 • Boxofficeturkiye.com
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Junges Licht ruhrgebietsgeschichte von adolf winkelmann Alltagskatstrophen findet er einfühlsame dramaturgische wie optische Verdichtungen, mal komödiantisch amüsante, mal zutiefst anrührende melodramatische Momentaufnahmen, getragen von einem staunenswert souverän agierenden DarstellerEnsemble. Dreh- und Angelpunkt ist dabei stets Julian: Durch seine Augen erlebt man das Ruhrgebiet als Abenteuerspielplatz zwischen Rauchschloten, Hinterhöfen, parzellierten Wiesen zum Wäschetrocknen, dem Flussufer für geheime Treffen der größeren Jungs, die Julian anhimmelt, die ihn aber nicht teilhaben lassen, sondern ausnutzen und ihn zu gehässiggemeinen, erschreckend herzlosen Aktionen provozieren. Doch der sensible Julian ist ebenso leidensfähig wie zu Mitleid fähig. Während er den körperlich zerbrechenden Vater verehrt, von der überforderten, still an ihrem tristen Leben leidenden Mutter ausgeschimpft und mit dem Holzkochlöffel „versohlt“ wird, kümmert er sich liebevoll um die jüngere Schwester – und beobachtet, wie sich seine kleine Welt sexuell aufzuladen beginnt. Der Blick auf die putzende, im Treppenhaus kniende Nachbarin
wird ihm unwillkürlich peinlich, derweil Marusha, die frühreife, lolitahafte Nachbarstochter, seinen Blick regelrecht ansaugt. Vieles versteht Julian nicht, erst recht nicht das rätselhafte, subkutan ablaufende Leben der Erwachsenen; die gebrochene Mutter, den schwadronierenden Nachbarn mit seinen verbalen Anzüglichkeiten, den stillen Vater, den Julian schließlich beim Fremdgehen ertappt – peinigender Höhepunkt seiner Ängste und Seelennöte. Für die es aber Trost und Erlösung gibt, nicht allein vom pragmatischen Pfarrer, sondern gerade auch vom Vater: „Abhauen gibt’s nicht. Wäre schön, geht aber nicht. Ab nach Hause.“ Winkelmann ist sich sehr bewusst, dass er ein durchweg nostalgisches Ruhrgebietsleben nachzeichnet. Er schwelgt in subtilen Ausstattungsdetails, filmt „magisch“ die noch vorhandenen Zechen, durchschreitet Siedlungsgassen und liebt es uneingeschränkt, unter Tage zu filmen. Nicht minder bewusst aber argumentiert er mit seinen Bildern, die er als die Realität „filternde“ Abbilder verdeutlicht. Ständig wechselt er das Bildformat zwischen
Scope und altmodischem 4:3, springt, nur scheinbar willkürlich, zwischen Farbe und Schwarzweiß. Die Wirkung ist frappant: Mal erscheint das Geschehen historisch und „museal“, dann wieder sinnlich und intensiv, ganz nah an den Personen, ihren Gefühlen, ihrem Realitätssinn wie ihrer Sehnsucht. Wohl nicht von ungefähr stiehlt Winkelmann einen zentralen Satz aus Rothmanns Roman dem Vater und legt ihn der temperamentvollen Marusha in den Mund, die sich verschwörerisch an Julian wendet: „Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.“ Horst Peter Koll BeweRtung DeR FiLmKommiSSion
Anfang der 1960er-Jahre durchlebt ein sensibler zwölfjähriger Bergmannssohn im Ruhrgebiet Höhen und Tiefen seines beengenden Familien- und Alltagslebens, wobei ihn vor allem seine aufkeimende Sexualität ebenso neugierig wie ratlos macht. Einfühlsame Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ralf Rothmann, in der sich normale Alltagskatastrophen zu mal komödiantisch-amüsanten, mal anrührendmelodramatischen Momentaufnahmen verdichten. Getragen von vorzüglichen Darstellern und reich an subtilen Ausstattungsdetails, entwickelt sich im Wechsel des Bildformats sowie von farbigen und schwarz-weißen Szenen eine Ruhrgebietschronik, die als Mentalitätsbeschreibung einer Region, aber auch als sensible Leidens- und Aufbruchsgeschichte einer Kindheit überzeugt. – Sehenswert ab 14.
Teils schwarz-weiß. Deutschland 2015 Regie: Adolf Winkelmann Darsteller: Oscar Brose (Julian), Charly Hübner (Walter), Lina Beckmann (Liesel), Peter Lohmeyer (Herr Gorny), Stephan Kampwirth (Herbert), Caroline Peters Länge: 122 Min. | Kinostart: 12.5.2016 Verleih: Weltkino | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 43 884
Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe
Nach langer Zeit ist Adolf Winkelmann zurück im Kino. Nachdem er mit Fernsehstoffen wie „Contergan“ (2006) oder „Engelchen flieg“ (2003) und dessen Fortsetzung „Das Leuchten der Sterne“ (2007) über eine Künstlerfamilie mit körperlich schwerstbehinderter Tochter bewegende Akzente setzte, lockte ihn nun offenbar das Ruhrgebiet wieder auf die große Leinwand. Ein wenig erinnert der Beginn von „Junges Licht“ an seine großartige Pott-Komödie „Jede Menge Kohle“ (1981): Tief unter Tage arbeitet eine vom Kohlenstaub geschwärzte Gestalt, der Lärm seines Presslufthammers ist ohrenbetäubend, die langwierige Rückkehr ans Tageslicht nach getaner Schicht geradezu „bombastisch“: In Zeitlupe schreiten die Bergleute als „Helden der Arbeit“ zu BigbandJazzklängen daher, wobei die Inszenierung emphatisches Programm ist: Ungebrochener Respekt vor der Leistung der Bergleute paart sich mit spürbarer Zuneigung zu den Menschen, ohne dass diese überhöht, sondern mit lakonischem Humor vielmehr geerdet werden. Erstmals setzte Winkelmann keinen Originalstoff, sondern eine Literaturvorlage um. Der sprachlich brillante Roman des „Pott-Poeten“ Ralf Rothmann führt zurück in die frühen 1960er-Jahre zwischen Zeche und Arbeitersiedlung. Es ist eine schonungslose Mentalitätsbeschreibung einer Region und zugleich die sensible Leidensund Aufbruchsgeschichte einer Kindheit: Der zwölfjährige Bergmannssohn Julian sucht seinen Weg aus einengenden, ihn körperlich wie seelisch bedrohenden Lebensumständen, um „hemmungslos frei“ sein zu können. Was die thematisch nahezu perfekte Steilvorlage für Adolf Winkelmann ist. Für Rothmanns mehr oder weniger normale
neue filme kritiken „Über den Unfall kann ich wenig sagen. Irgendetwas fiel vom Himmel.“ Als Tom aus dem Koma erwacht, erkennt er die Umgebung nicht mehr – und sich selbst nicht in ihr. Die Welt muss neu betrachtet und ertastet werden, der Körper lernen, wie das geht: laufen, sich die Schuhe binden, nach Gegenständen greifen. Für die fehlenden Erinnerungen an die Zeit vor dem Unfall gibt es hingegen keine Vorlage oder Handlungsanweisung. Statt dessen klafft da ein schwarzes Loch. So greift Tom am Anfang von „Remainder“ immer wieder ins Leere und berührt die Luft, wie um einer unkonturierten Welt Konturen abzuringen. Einmal zeichnet er mit seinem Finger langsam einen Kreis nach, den jemand in die Glastür einer Telefonzelle geritzt hat, als könne er sich damit ein Stück gelebte Erfahrung zurückholen. Tom geht Spuren nach, arbeitet sich durch Déjà-vus hindurch, fügt Erinnerungsfragmente zusammen: ein Junge in einem blau-roten Anorak, eine Frau mit Kopftuch im Treppenhaus, eine Geldmünze auf einer Hand. Er beginnt zu zeichnen, baut aus Pappe ein Haus. Mit den großzügigen Mitteln aus dem Schadensersatz beauftragt er schließlich einen Super-Consulter, der dieses Haus sucht, nach seinen Erinnerungen gestaltet
und seine mal mehr, mal weniger schemenhaften Erinnerungsbilder darin rekonstruiert und aufführt – mit bezahlten Schauspielern, einem Regisseur, komplexem Sound (Geklapper, Klaviergeklimper), Gerüchen (gebratene Rinderleber) und maunzenden Katzen auf dem Dach. „Remainder“ bedeutet Rest, die Verwechslung mit dem Begriff „Reminder“ (Erinnerung, Gedächtnishilfe) ist sicherlich willkommen. Regisseur Omer Fast untersucht in seiner Verfilmung von Tom McCarthys gleichnamigem Roman die Mechanismen und Funktionsweisen von Erinnerung, gerade auch für die Konstruktion von Identität. Der in Berlin lebende israelische Filmemacher kann gewissermaßen als ein Spezialist auf diesem
Remainder souveräner spagat zwischen Thriller und konzeptfilm
Gebiet betrachtet werden. Wiederholt hat sich Fast in seinen Videoarbeiten mit dem Nachwirken von Ereignissen befasst und der Frage, wie Erfahrung in Erinnerung transformiert und weiterverarbeitet wird. Der erste Langfilm des Künstlers ist souverän inszeniert, die Balance zwischen Thriller und Konzeptfilm klug austariert; die komplette Durchgestaltung des Films, den Eindruck des luftdicht Abgeschlossenen, muss man allerdings mögen. Stilistisch verbindet der Film eine kühle, eher technisch anmutende Ästhetik in farbentsättigten Grau- und Blautönen mit gedeckten Farben und Patina: auf der einen Seite die unpersönliche Welt von Krankenhaus und Geschäftswelt, auf der anderen die rekonstruierte Vergangenheit mit ihren schäbigen Oberflächen. „Remainder“ zählt zu der Sorte von Film, die beim Betrachter das beunruhigende Gefühl erwecken, das Gehirn habe sich verknotet. Toms Reenactment nimmt immer obsessivere und detailreichere Züge an, irgendwann erscheint es so real wie die Wirklichkeit, es wird zur Wirklichkeit. Tom setzt dabei sein Erinnerungstheater mit fast monströser Rücksichtslosigkeit mitten im Londoner Stadtteil Brixton in Szene; er kauft das Haus, wirft die Mieter auf die
Straße und schreckt auch nicht davor zurück, das Skript seiner Erinnerungen (oder doch das seiner Visionen? Träume? Hirngespinste?) an einen riskanten Heist-Plot zu koppeln. Tom Sturridge spielt diesen jungen Mann sehr schön feinnervig, mit einer Mischung aus Fragilität und Unerbittlichkeit. Was Omer Fasts „Remainder“ von konventionelleren „Mindfuck“-Filmen unterscheidet, ist sein selbstreflexives Moment. Denn schließlich gleichen Toms Regieanweisungen bis hin zum genauen Bewegungsablauf beim Teppichstolperer der Filminszenierung selbst. Man kann in „Remainder“ nicht nur an der Struktur der Möbiusschleife irre werden, sondern auch an der Idee, dass das Kino nichts ist als ein Déjà-vu. Esther Buss
BeweRtung DeR FiLmKommiSSion
Ein junger Mann verliert durch einen Unfall sein Gedächtnis und macht sich an die Rekonstruktion seiner Vergangenheit. Ebenso minutiös wie realistisch gestaltet er die obsessive Instandsetzung seiner Erinnerungsfragmente und Déjà-vuEindrücke, bis sie selbst zur Wirklichkeit wird. Das Spielfilmdebüt des israelischen Videokünstlers Omer Fast erforscht nach einem Roman von Tom McCarthy die Mechanismen und Funktionsweisen von Erinnerung, insbesondere mit Blick auf die Konstruktion von Identität. Ein souverän inszenierter Balanceakt zwischen Thriller und Konzeptfilm, der sich auch als eine Reflexion über das Filmemachen lesen lässt. – Sehenswert ab 16.
REMAINDER. Großbritannien 2015 Regie: Omer Fast Darsteller: Tom Sturridge (Tom), Cush Jumbo (Catherine), Ed Speleers (Greg), Danny Webb (Samuels), Nicholas Farrell Länge: 103 Min. | Kinostart: 12.5.2016 Verleih: Piffl | FD-Kritik: 43 885
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KRiTiKen AUF DVD/BLU-RAY
The Lobster Eine abgründige (Film-)Parabel mit Colin Farrell
Auf Eindeutigkeiten darf man in den Der Nobelort entpuppt sich als bizarre abgründigen Filmen des griechischen Ansammlung kurioser Typen (der hinkenRegisseurs Yorgos Lanthimos („Dogde Mann, der lispelnde Mann, die Frau mit tooth“, „Alpen“) nicht hoffen. In ihren Nasenbluten, die Herzlose, die mit den parabelhaft-stylischen Vignetten geht es Keksen), eine Mischung aus Dating-Show nie ums Naheliegende, und auch vom Ende und Kasernenhof, Kalkül und Maskerade, in her scheint es eher angeraten, sich interpre- der echte Emotionen fast zwangsläufig das tatorisch den zuckenden Bewegungen ihrer Ende nach sich ziehen. Was die rätselhafte obligatorischen Ballett-Szenen anzuvertrau- Eingangssequenz, in der eine verbitterte en, als auf stringente Clues aus zu sein. Frau kommentarlos einen Esel erschießt, In „The Lobster“ entwirft Lanthimos gebereits vorausnimmt. wohnt souverän eine anspielungsreiche ViIn einer Serie grandios-bizarrer Szenen sion einer nahen Zukunft, in der entwirft die lakonische Inszedie „The City“ genannte Gesellnierung mit perfektem Timing schaft ausschließlich aus Paaren und außerordentlichem Stilwillen besteht. Singles oder Menschen, ein durchgeknalltes Panoptikum die von ihrem Partner verlassen voller kalter Verzweiflung, der wurden, haben 45 Tage Zeit, sich drohenden Transformation zu nach einem neuen Gefährten entgehen. Aber alle naheliegenumzusehen. Andernfalls werden den Versuche, der gesellschaftsie in Tiere verwandelt. lichen Mechanik nachzuhelfen Einer der Orte, wo sich die und den Seelenbuddy auf die Zukunft dieser „Loner“ entscheiein oder andere Weise herbeizudet, ist „The Hotel“, ein vornehtricksen, halten dem Stresstest THE LOBSTER. Griechenmes See-Ressort, in das auch nicht stand. Auch Davids Liaison land/Großbritannien/ der von Colin Farrell gespielte mit der „Herzlosen“ endet so im niederlande 2015 Protagonist David eincheckt, blutigen Desaster. Regie: Yorgos Lanthimos der als einzige Figur über einen Allerdings gelingt es ihm, in Darsteller: Colin Farrell, individuellen Namen verfügt. die umliegenden Wälder zu Rachel Weisz, Dieser Umstand hängt mit der entfliehen – wo er vom Regen Ben Whishaw, Léa weiblichen Erzählerstimme von in die Traufe gerät. Er stößt auf Seydoux, John C. Reilly Rachel Weisz zusammen, die eine Art Gegengesellschaft, ein aus dem Off viele Informationen Länge: 118 Min. zwanghaftes Spiegelbild der Anbieter: Sony beisteuert, obwohl sie erst viel Paar-Ideologen, mit vergleichbar später als Figur ins Spiel kommt. FD-Kritik: 43 906 rigiden Regeln und nicht weni-
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ger drakonischen Strafmaßnahmen. Hier wird kein persönlicher Kontakt geduldet; selbst zum Sterben bettet jeder sich in sein eigenes Grab. Gemeinsam geht es nur gegen den Feind, die Liebesfanatiker, wobei David die von Rachel Weisz gespielte „kurzsichtige Frau“ kennenlernt, mit der ihn bald ein bedrohliches Verhältnis verbindet. Im dritten, recht melodramatischen Teil dieser visuell berückenden, in gedeckten Beige-, Grün- und Braungelb-Tönen gehaltenen Fabel büßt der verrückte Plot zwar spürbar an Komplexität ein, treibt die dialektischen Charaden aber auf eine einsame Spitze. Die erlesene Besetzung (u.a. Ben Whishaw, Léa Seydoux, John C. Reilly), eine sphärisch-dissonante Filmmusik und der lakonisch-absurde Humor von Yorgos Lanthimos verwandeln die Frage nach der Liebe bzw. danach, was man für seinen Partner zu tun bereit wäre, in eine abgründige (Film-)Reflexion, die alle losen Fäden immer wieder neu verknüpfen lässt, ohne so schnell an ein Ende zu gelangen. Wobei die durchgängige Abwesenheit echter Gefühle vielleicht am nachhaltigsten irritiert. – Sehenswert ab 16. Josef Lederle
Die Kinos der Yorck-Gruppe in Berlin, München und Hamburg zeigen „The Lobster“ ab 23. Juni auch auf der großen Leinwand, allerdings nur in ihren eigenen Lichtspielen. Der visuell großartige und 2015 in Cannes mit dem „Großen Preis der Jury“ ausgezeichnete Film hatte in Deutschland keinen Kinoverleih gefunden; er ist seit Ende April als DVD/BD erhältlich.
KRiTiKEN fernseh-Tipps
SA
SAmSTAG 14. MAi
07.35-09.05 mdr Wer küsst schon einen Leguan? R: Karola Hattop Lebenskünstler freunden sich an Deutschland 2003 Ab 12
11.35-13.20 Das Erste Der ganz große Traum R: Sebastian Grobler Englischlehrer führt Fußball in Preußen ein Deutschland 2010 Sehenswert ab 10 14.10-16.00 WDR Fernsehen Charade R: Stanley Donen Klassische Krimikomödie USA 1963 Sehenswert ab 16 20.15-23.00 ProSieben The Da Vinci Code – Sakrileg R: Ron Howard Tom Hanks auf den Spuren religiöser Intrige USA 2006 Ab 14 20.15-22.40 El Dorado R: Howard Hawks Verschworene Schar befreit Westernstadt USA 1966 20.15-22.10 Der Klient R: Joel Schumacher Krimi nach John Grisham USA 1994
Servus TV
Ab 14 zdf_neo
Ab 14
01.25-03.33 Das Erste Gesetz der Straße – Brooklyn’s Finest R: Antoine Fuqua Drei Polizisten am Wendepunkt USA 2009 Ab 16
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BR FERNSEHEN
Heinz Rühmann Als Repräsentant des „kleinen Mannes“, der sich mit Witz, Beharrlichkeit und Rechtschaffenheit gegen die „Großen“ durchsetzt – so kennt man Heinz Rühmann aus seinen zahlreichen Komödien und Dramen, für die er 1995 posthum eine „Goldene Kamera“ als bester deutscher Schauspieler des Jahrhunderts bekam. Seinen Durchbruch hatte der 1902 in Essen geborene Schauspieler 1930 mit „Die Drei von der Tankstelle“ (läuft am 16.5. um 17.35 bei arte), stieg im Kino der Nazi-Zeit schnell zum Star auf und bewies dabei nicht gerade das moralische Rückgrat, das viele seiner vor allem späteren Figuren hatten. Der BR zeigt heute in einem Rühmann-Schwerpunkt aus dieser unrühmlichen Phase die Komödie „Quax, der Bruchpilot“(1941; 23.35). Zuvor laufen zwei Rühmann-Klassiker aus dem Jahr 1960, der Pater-Brown-Film „Das schwarze Schaf“ (20.15-22.00) sowie „Der brave Soldat Schwejk“ (22.00-03.35).
14./18. Mai
22.40-00.30 Servus TV Django R: Sergio Corbucci Bahnbrechender Italowestern Italien/Spanien 1966
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14. Mai, ab 20.15
zdf_neo/kabeleins
Joel Schumacher Die Karriere des amerikanischen Regisseurs Joel Schumacher ist so ungewöhnlich wie sein Lebensweg, der vom Kostümdesigner bis auf den Regie-Sessel hochbudgetierter Hollywood-Produktionen führte. In seinem umfangreichen Oeuvre finden sich ambitionierte Arthouse-Perlen, Blockbuster-Filme, Krimis und zwei knallbunte „Batman“-Sequels. 1994 adaptierte er für den Produzenten Arnon milchan sehr erfolgreich den John-Grisham-Besteller „Der Klient“ (14.5., 20.15-22.10, zdf_neo), in dem Susan Sarandon einen Jungen vor der mafia beschützt; mit Colin Farrell in der Hauptrolle inszenierte er 2002 einen raffinierten Thriller, der einzig in einer Telefonzelle spielt: „Nicht auflegen!“ (18.5., 20.15-21.50, kabeleins). 14.5., 20.15-22.10, zdf_neo: Der Klient 18.5., 20.15-21.50, kabeleins: Nicht auflegen!
14. Mai, 23.15-00.10
arte
Too Young to Die: River Phoenix, der scheue Star Als River Phoenix am 31.10.1993 an einer Überdosis starb, hatte der 23-Jährige bereits mehr Spuren im Kino hinterlassen als die meisten anderen Schauspieler in einer jahrzehntelangen Karriere. Er hatte mit Regisseuren wie Steven Spielberg, Peter Weir, Gus Van Sant, Sidney Lumet und Joe Dante gedreht, war in Venedig ausgezeichnet und für einen „Oscar“ nominiert worden. Der fragil und sensibel wirkende Schauspieler und musiker steht im Fokus eines neuen Beitrags zur in unregelmäßigen Abständen ausgestrahlten arte-Reihe „Too Young to Die“ über Kino-Idole, die in unverhältnismäßig frühem Alter verstorben sind. Phoenix’ Persönlichkeit und Rollenerarbeitung wird dabei ebenso zum Thema wie die Ausschlachtung seines Tods in den massenmedien. Am 21.5. (22.00-22.55) widmet sich ein weiterer Teil von „Too Young to Die“ der 1981 unter nie geklärten Umständen ertrunkenen Natalie Wood.
14. Mai, 01.25-03.33
Das Erste
Gesetz der Straße – Brooklyn’s Finest Der afroamerikanische Regisseur Antoine Fuqua hat sich als Spezialist fürs Actionkino etabliert, wobei die Qualität seiner Arbeiten immer auch von der intelligenz des Drehbuchs abhängt. Neben simpel gestrickten Ballereien à la „Shooter“ und „The Equalizer“ hat er auch einige differenziertere Filme im Portfolio. Wie z.B. „Gesetz der Straße“, einen Cop-Thriller um die Karrieren von drei Polizisten in New York, die an einen entscheidenden Wendepunkt gelangen: Die Beamten aus verschiedenen Generationen und mit verschiedenen Hintergründen geraten in grundlegende Dilemmata, in denen ihre Integrität als Gesetzeshüter auf dem Spiel steht. Spannend erforscht Fuqua hier moralisch unsicheres Großstadtterrain, auch dank glaubwürdig gezeichneter Figuren, die u.a. Richard Gere, Don Cheadle und Ethan Hawke verkörpern.
SO
SONNTAG 15. MAi
09.00-10.30 rbb Fernsehen Der Mann, der nach der Oma kam R: Roland Oehme Ein junger mann räumt auf DDR 1971 Ab 14 09.25-11.30 arte Das Blaue vom Himmel R: Hans Steinbichler Demenzkranke wird von Schuld heimgesucht Deutschland 2010 Ab 16
10.00-11.30 hr fernsehen Felix R: Roberta Durrant 13-Jähriger entdeckt Liebe zum Jazz Südafrika 2013 Sehenswert ab 8 12.25-13.50 7mAXX Jeff, der noch zuhause lebt R: Jay & mark Duplass Slacker-Tragikomödie USA 2011 Ab 14 14.45-20.15 Downton Abbey (1-5/9) Dritte Staffel der englischen Fernsehserie Großbritannien 2012
3sat
Ab 14
18.05-20.00 einsfestival Taking Woodstock R: Ang Lee Burleske Hippiezeit-Komödie USA 2009 Sehenswert ab 14
Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.
20.15-21.50 3sat Love Story R: Arthur Hiller Bestseller-Verfilmung nach E. Segal USA 1969 Ab 14 20.15-23.00 7mAXX Last Samurai R: Edward Zwick Tom Cruise kämpft fürs alte Japan USA 2003 Sehenswert ab 16
20.15-23.00 ProSieben Die Tribute von Panem – Catching Fire R: Francis Lawrence Katniss muss zum zweiten mal in die Arena USA 2013 Ab 14 20.15-21.45 zdf.kultur So glücklich war ich noch nie R: Alexander Adolph Komödie um einen Hochstapler mit Devid Striesow Deutschland 2008 Ab 14 21.50-23.30 3sat Thomas Crown ist nicht zu fassen R: Norman Jewison Glänzend besetzte Krimikomödie USA 1967 Ab 14 23.20-00.35 mdr Hände hoch oder ich schieße! R: Hans-Joachim Kasprzik Amüsante Krimikomödie mit den Starkomikern der DDR DDR 1966 Ab 12 23.45-01.25 NDR fernsehen Die Gewaltigen R: Burt Kennedy Spannungsvoller Star-Western mit John Wayne und Kirk Douglas USA 1966 Ab 16 00.40-02.30 Servus TV i Am Love R: Luca Guadagnino Dramen in einem Unternehmer-Clan mit Tilda Swinton Italien 2009 Ab 16 01.25-03.20 ProSieben Gattaca R: Andrew Niccol Sci-Fi-Drama mit Ethan Hawke und Uma Thurman USA 1997 Sehenswert ab 14
Free-TV-Premiere: 15. Mai, 12.25-13.50
7MAXX
Jeff, der noch zuhause lebt Die Brüder Jay und Mark Duplass, die „Jeff, der noch zu Hause lebt“ geschrieben und inszeniert haben, gelten als Vertreter des „mumblecore“Kinos. In ihrem vierten Langfilm lassen sie dessen Stilmerkmale, vor allem das ruhige, schweifende Erzähltempo jenseits aller Spannungsdramaturgien, auf eine Story prallen, die ins Genre der Slacker-Komödie fällt: Ein knapp 30-jähriger mann (Jason Segel) wohnt noch zu Hause, wo er sich weder mit seiner mutter noch seinem Bruder versteht, bis ein versehentlicher Anruf ihn in seiner Lethargie stört. Atmosphärisch begleitet der Film die von Unfällen, Streitereien und Versöhnungen begleitete Entwicklungsreise seiner orientierungslosen Hauptfigur.
15. Mai, 23.15-00.40
15. Mai, 20.15-23.15
arte
Yves Montand Als Chansonnier war der Sohn italienischer immigranten ein liebenswerter Charmeur, als Schauspieler dagegen ein vielseitiger interpret, dessen bleibender Ruhm vor allem seine Darstellungen in Abenteuerfilmen wie „Lohn der Angst“ und Politdramen wie „Das Geständnis“ begründeten. Arte eröffnet seinen Themenabend für den 1991 verstorbenen Darsteller mit dem Polizeithriller „Police Python 357“ (20.15-22.15), in dem montand gegen den Strich als einsamer, harter Bulle besetzt wurde. Im Anschluss folgt das Porträt „Yves montand, Charme, Chanson und Schauspiel“ (22.15-23.15), das montands Karriere Revue passieren lässt und sein politisches Engagement als überzeugter Sozialist, zeitweise auch Kommunist beleuchtet.
arte
Gianni Schicchi Wenn man so ausgelastet ist wie Woody Allen, dann reicht’s offensichtlich nur für eine knappe Stunde. So zumindest lauten die verwegenen Theorien der festeren mitarbeiter an der Oper von Los Angeles. Hier hat es für den bekennenden Opernliebhaber, der zuverlässig jedes Jahr einen neuen Film abliefert, also gerade für den wohl bekanntesten Einakter der Opernliteratur gereicht. Bekannt, weil etwa zur Hälfte von „Gianni Schicchi“ die berühmte „Lauretta-Arie“ „O mio babbino caro“ zum Besten gegeben wird, deren eingängige, wehevolle und emphatische kleine melodie wohl dem Gros der Filmfans spätestens seit James Ivorys „Zimmer mit Aussicht“ ein Begriff sein dürfte. „Gianni Schicchi“ und Woody Allen scheinen wie für einander gemacht. Das von Giacomo Puccini vertonte, sonst innerhalb seiner Einaktersammlung „Il Trittico“ aufgeführte Libretto spielt in einem Totenzimmer, in dem sich die gierige Verwandtschaft um ihr Erbe geprellt sieht, da sie das gerade entdeckte Testament nicht berücksichtigt. Die erdachte List, den Toten noch einmal kurz zum Leben zu erwecken, um ihn einen neuen „letzten Willen“ diktieren zu lassen, bringt das titelgebende Schlitzohr Schicchi ins Spiel, der die Bagage natürlich erst recht um ihr Erbe prellt. Eine wunderbar bissige Komödie, die Allen wunderbar lakonisch auf der üppig bebauten Schlafzimmerbühne zum Leben erweckt. In der Titelrolle brilliert auch in der hier bei arte ausgestrahlten Wiederaufnahme von 2015 L.A.-Opern-Generaldirektor Placido Domingo. Allen selbst taucht, gemäß seines Images als öffentlichkeitsscheuer Superstar, nirgends auf. Auch nicht im vorangestellten 20-minütigen „making of“. Wahrscheinlich spielte er auch hier wieder irgendwo „in privé“ seine geliebte Klarinette. Jörg Gerle
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