Filmdienst 10 2014

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FILM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

DeutschlanDs

bester? in berlin wirD Der „Deutsche Filmpreis“ verliehen. unter Den nominierten Filmen ist auch Die erFolgskomöDie „Fack ju göhte“. DarF Das sein? überlegungen zum populären im Deutschen kino.

film- & kulturpolitik staatsministerin monika grütters spricht über Filmpolitik unD Das kino.

die unvollendeten viele legenDäre Filmprojekte sinD nie Fertig geworDen. eine hommage.

benjamin heisenberg Der regisseur spricht im interview über seinen Film „über-ich unD Du“.

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8. Mai 2014 € 4,50 67. Jahrgang

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FILMe FÜR DeutsCHLAnD anlässlich der Verleihung des deutschen filmpreises geht es in einem themenschwerpunkt ums aktuelle deutsche kino und speziell um der deutschen liebstes genre: die komödie. Überlegungen zur Qualität im Populären, der rolle der filmförderung und dem brückenschlag zwischen populärer form und inhaltlicher ambition.

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44 Seiten

DAs P-WoRt

Populär = flach? Nicht notwendigerweise. Über „Fack ju Göhte“ als Beispiel eines gelungenen Spiels mit dem beliebten Genre der Schulkomödie. Von Ulrich Kriest

e im TV Extra-Heft: Alle Film

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10.5.– 23.5.2014

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MonIKA GRÜtteRs

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BenJAMIn HeIsenBeRG

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MAInstReAM!?

In ihrem ersten Interview in Sachen Film erläutert die Staatsministerin für Kultur und Medien, was sie am deutschen Kino förderwürdig findet. Von Margret Köhler

IM TV

a serious man 19.5. einsfestival

Akteure

Kino 20

GunteR DeLLeR Der Frankfurter Kurzfilmer hält am analogen Filmmaterial fest. Seine experimentellen Arbeiten, die sich oft zwischen den Antipoden Stadt-Natur bewegen, haben eine ganz eigene Sinnlichkeit. Von Andrea Dittgen

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MALGoRZAtA sZuMoWsKA Die polnische Regisseurin verbindet in ihren Spielfilmen einen feinen Spürsinn für die Befindlichkeiten der Gegenwart mit einer eigenwilligen Ästhetik. Ein Werkporträt. Von Ralf Schenk

Der Regisseur, der als Vertreter der Berliner Schule bekannt wurde, hat mit „Über-Ich und Du“ eine Komödie gedreht. Im Interview erzählt er warum. Von Marcus Seibert

Deutsche Versuche in Sachen Genrekino. Ein Exkurs in Bildern.

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LesetIPPs

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MICHAeL GLAWoGGeR Der Tod des österreichischen Filmemachers („Workingman’s Death) schockierte Ende April nicht nur die Cineasten. Von Rüdiger Suchsland

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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Neu im Kino: „Fascinating India“

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Fotos: TITEL: Constantin. S. 4-5: Hard Boiled Films, Salzgeber W-Film, Kool, Wild Bunch, Piffl, Busch Media Group

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Neue Filme + ALLe stARtteRMIne Dokumentarfilme über Umweltthemen und nachhaltiges Wirtschaften machen Politik: Plakatmotiv zu einem Screening von „Fracknation“ vor dem britischen Parlament.

Film-Kunst 28

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3 Days to kill [8.5.] across the river [8.5.] ai weiwei – the fake case [8.5.] Devil’s Due - teufelsbrut [8.5.] erntehelfer [8.5.] fascinating india [15.5.] friends from france [17.4.] Good morning karachi [8.5.] Good vibrations [8.5.] im namens des… [15.5.]

männer im psychoanalytisch angehauchten doppelpack gibt es im mai gleich zweimal zu bewundern: brutal in „stereo“ von maximilian erlenwein, komödiantisch in „Über-ich und du“ von benjamin heisenberg. ganz auf sich allein gestellt ist dagegen die hinreißende teenagerheldin der skandinavischen coming-ofage-komödie „turn me on“, die ihre weiblichkeit erkundet.

GesCHeIteRt, ABeR nICHt VeRGessen Tarantinos Westernprojekt „The Hateful Eight“ ist das jüngste Mitglied im Club der Filme, die aus diversen Gründen nie das Licht der Leinwand erblickten. Eine Hommage. Von Marius Nobach

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s. steReo

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DoKuMentARFILM unD nACHHALtIGKeIt

kinotipp

Fotos: TITEL: Constantin. S. 4-5: Hard Boiled Films, Salzgeber, W-Film, Kool, Wild Bunch, Piffl, Busch Media Group.

Filme mit öko-politischer Botschaft boomen seit einigen Jahren im Kino. Sie informieren und sensibilisieren für wichtige Themen; das kritische Denken sollten Zuschauer aber trotzdem nicht an der Kasse abgeben. Ein Plädoyer. Von Thomas Klein

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MAGIsCHe MoMente ...gibt es in Jean Renoirs „Die Spielregel“ nicht nur bei der legendären Jagdszene, sondern auch in intimeren Augenblicken. Der Film gehört zu denen, die immer wieder an vorderster Stelle genannt werden, wenn es um die besten aller Zeiten geht. Von Rainer Gansera

der katholischen Filmkritik

44 rosie [8.5.] Tragikomödie von Marcel Gisler

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labor Day [8.5.] Der letzte mentsch [8.5.] liebe im Gepäck [15.5.] sahara salaam [8.5.] stereo [15.5.] the legend of hercules [1.5.] transcendence [24.4.] turn me on [8.5.] Über-ich und Du [8.5.] watermark [15.5.] Die wirklichkeit kommt [15.5.] zulu [8.5.]

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über das Classic Film Festival des Senders Turner Classic Movies in Los Angeles

klassische filme gehören auf die kinoleinwand

Kritiken und Anregungen?

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s. ÜBeR-ICH unD Du

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s. tuRn Me on

RuBRIKen Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood DVD-Perlen Vorschau Impressum

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Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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10* Populär: Filmdienst 2014 beim10 |Volk, bei der großen Masse, bei sehr vielen bekannt und beliebt; volkstümlich (Duden)

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deutsche filme hatten 2013 einen marktanteil von 26,2 Prozent am hiesigen kino geschäft – eine bemerkenswerte Quote, zu der kaum hiesige arthouse-filme wie „die andere heimat“ oder „finsterworld“ beitrugen: wirtschaftlichen erfolg bescherte vielmehr deutsches mainstream-kino, allen voran die komödie „fack ju göhte“, mit der ein anflug von intelligenz einzug in die kinounterhaltung „made in germany“ hielt. eine trendwende? Jedenfalls scheint die bandbreite im deutschen mainstream wieder größer zu werden. Von Ulrich Kriest

Ein Italo-Western, verkleidet als Heimatfilm: „Das finstere Tal“. Ein AgentenThriller mit philosophischem Subtext: „Zwei Leben“. Eine rabenschwarze Satire über ein total kaputtes Land: „Finsterworld“. Ein wuchtiger, teilweise improvisierter Independent-Liebesfilm der öligen Übergriffe: „Love Steaks“. Ein liebevoll ausgestatteter Kostümfilm, der eine ohnehin große Erzählung noch einmal, noch ein letztes Mal weitet: „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“. Keine Frage, die Auswahl der Spielfilme, die 2014 für die „Lola“ nominiert sind, kann sich sehen lassen. Für jeden etwas dabei: für junge Wilde ebenso wie für übrig gebliebene Liebhaber des „good old Autorenfilms“. Okay, man kann trefflich darüber diskutieren, ob und warum formal ambitioniertere Filme wie „Die Frau des Polizisten“ und „Kreuzweg“ oder extravagant Pfiffiges wie „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ bei den

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intelligenz wird im populären film nicht unbedingt vorausgesetzt. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. „Fack ju Göhte“ verfügt in der Tat über einige ungewöhnliche handwerkliche und stoffliche Qualitäten, die man bei vielen anderen deutschen Publikumslieblingen, etwa auch bei Schweiger und Schweighöfer, vergeblich sucht. Deren eigentümliche Mischung aus Sexismus und Sentimentalität gelangt ja kaum einmal über das Niveau des gespielten Witzes hinaus, hangelt sich mühsam von Pointe zu Pointe und erzählt eher von der Gratwanderung zwischen insgeheimer und offener Publikumsverachtung. Michael „Bully“ Herbig teilt mit Dagtekin die erklärte Liebe zum Genrekino; er aber verbleibt mit seinen erfolgreichsten Filmen ganz im Paralleluniversum rein filmischer Welten, die liebevoll und detailgenau re- und dann vielleicht etwas „queer“ de-konstruiert werden, dabei kaum einmal die aktuelle Realität streifen. „Fack ju Göhte“ dagegen hat neben Intelli-

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genz und Schwung eine gute Portion vermittelter „Gegenwartshaltigkeit“ – eine Eigenschaft, die im deutschen populären Kino tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist. Einen ähnlichen Ansatz wie „Fack ju Göhte“ verfolgte im Jahr 2009 „13 Semester“ von Frieder Wittich. Der Film setzt gewissermaßen mit dem Schulabschluss zweier bester Freunde ein, die sich dann im Verlauf des folgenden Studiums höchst unterschiedlich auseinander entwickeln. Dass hier statt der Schule die „höhere Bildung“ an der Universität das Thema ist, mag ein Grund dafür sein, dass „13 Semester“ über den Status des filmischen Geheimtipps nicht hinausgelangte. Bora Dagtekin dagegen wählte mit der Schule ein massenkompatibles Sujet. Nach eigener Aussage entschied er sich mit der „PaukerKomödie“ bewusst für ein Genre, das ein umfassendes Identifikationspotenzial bietet und auf das insbesondere hierzulande seit der ominösen „Feuerzangenbowle“ immer wieder gerne zurückgegriffen worden ist. Diese Tradition, mit der Dagtekin sich auseinander zu setzen hatte, reicht von den drei Verfilmungen von Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ über „Der Pauker“ (1958), die diversen „Lümmel“- und „Pauker“-Filme, die zwischen 1968 und 1972 gedreht wurden, bis zu aktuellen Filmen wie „Schule“, „Die Welle“ oder „Crazy“ – nicht zu vergessen Fernsehserien wie „Unser Lehrer Doktor Specht“ oder „Die Stein“. Tiefergelegt noch in US-amerikanischen Produktionen wie „Bad Teacher“. Man könnte meinen, dass zum Thema „Schule“ im Kino längst alles gesagt ist: Internatssituation, die Schule als zweites Zuhause und Sozialisationsinstitution, lustige Streiche, überforderte Lehrer und Lehrer mit natürlicher Autorität, Zuckerbrot und Peitsche, erste Liebe, Solidarität und schließlich die Theater-AG als Beweismittel gelungener Erziehung. Dazu kommt noch der strenge Ideologieverdacht, etwa wenn Joe Hembus und Robert Fischer im Jahr 1981 über die „Lümmel“-Filme schreiben konnten: „Strategisch brillantes Rückzugsmanöver des Altfilms (...): Die Stars von abgetakelten Erfolgsserien wie

Schlager- und Lausbubenfilmen vereint mit Komikerveteranen und Uschi Glas von frischem Schätzchen-Ruhm im ewig wirksamen Schul-Klamauk-Milieu nach Drehbüchern, die den revolutionären Geist von 1968 auffangen, domestizieren und zur Genugtuung der Kleinbürger diffamieren“. Dass Dagtekin an diese verschüttete Tradition bewusst anknüpfen und damit spielen will, zeigt schon die Besetzung der überforderten und suizidalen Lehrerin Frau LeimbachKnorr mit Uschi Glas, die in den „Lümmel“-Filmen Marion Nietnagel spielte, eine Tochter aus, wie man einmal sagte, gutem Hause. So etwas gibt es in „Fack ju Göhte“ nicht mehr, dafür heißt die Proll-Prinzessin hier Chantal Akerman (wie die belgische Avantgarde-Filmemacherin). Hier liegt der Reiz für einen Drehbuch-Profi wie Dagtekin, der schon bei der Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ mit Klischees und Zuschauererwartungen jonglierte und dieses Spiel in seinem darauf folgenden Kinofilm „Türkisch für Anfänger“ mit dem gleichen Material entschieden ins schmerzhaft Absurde forcierte.

ins (kino-)klassenzimmer kommt ein schuss realismus. Nicht anders ist die Ausgangslage bei „Fack ju Göhte“: Kaum ein anderes Filmgenre dürfte – nicht zuletzt durch die zahllosen Wiederholungen im Fernsehen – im kollektiven Zuschauerbewusstsein so präsent sein. Man kann folglich auf einer anderen Ebene mit den Erwartungen und Genre-Konventionen kreativ spielen – und vielleicht das Populäre als Experimentierfeld nutzen. „Im Populären scheint die moderne Gesellschaft so nicht zuletzt eine Form ihrer Selbstbeschreibung gefunden zu haben, die es erlaubt, ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowie alternative Verläufe zeitnah ‚durchzuspielen‘: einen Ort des ebenso raschen wie (scheinbar) relativ ungefährlichen Experimentierens mit ihren Möglichkeiten“, schrieben Christian Huck und Carsten Zorn im Band „Das Populäre der Gesellschaft“ (2007). Bora Dagtekin hat sich für seine Experimente das Sozialsystem „Schule“ ausgesucht, das mit Bildungsvermitt-

Fotos: Constantin, Deutsche Filmakademie.

Nominierungen schnöde übersehen wurden. Letztlich aber ist die „Lola“ 2014 „business as usual“. Wäre da nicht dieses Kuckucksei: „Fack ju Göhte“ von Bora Dagtekin. Kann es denn sein, dass ein absoluter Kassenschlager, der eine ganze Kino-Saison quasi im Alleingang gerettet hat, auch noch für den Deutschen Filmpreis nominiert wird? Ist das nur als opportunistischer Kniefall vor dem Populären denkbar? Wo doch mindestens seit Adorno hierzulande gilt, dass „das Populäre im Zeitalter standardisierter industrieller Formate nur noch als Lüge denkbar“ (Diedrich Diederichsen) ist? Gehört Dagtekin mit seinem erstaunlichen Publikumserfolg nicht automatisch ins Lager der Til Schweigers und Matthias Schweighöfers, die im Zeichen des Populären offensiv gegen die Kunstfraktion agitieren („Das will ja niemand sehen!“)? Ist folglich bereits die hochdotierte Nominierung von „Fack ju Göhte“ ein Kotau vor der Quote? Ist es gar der „Beginn des kulturellen Verfalls“, wie an prominenter Stelle geunkt wurde?

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Mainstream lung, Identitätsfindung und StatusReproduktion zu tun hat. Als Transmissionsriemen fungiert der weitgehend bildungsferne Kleinkriminelle Zeki Müller, der sich in der Manier eines Undercover-Cops aus Eigennutz ins Bildungssystem einschleicht und dort auf die Schüler der Horrorklasse 10b trifft. Sieht man sich die anderen Lehrkräfte der Schule an, so potenziert sich der Horror: Die älteren Jahrgänge sind entweder gänzlich überfordert und suizidal oder aber sie haben sich – wie der Leiter der Theater-AG – von der Realität der Schüler abgekoppelt. Jüngere Jahrgänge sind eitel zum Steinerweichen und kaum reifer als die Schüler; junge Referendarinnen wie Lisi Schnabelstedt (Karoline Herfurth) agieren als ÖkoGutmenschen, deren Ausbildung sie überhaupt nicht auf die Berufspraxis vorbereitet hat. Im Falle von Lisi Schnabelstedt haben zudem pubertäre Traumatisierungen zur (verfehlten) Berufswahl geführt. Die von Katja Riemann gespielte Schuldirektorin Gudrun Gerster versucht mit ihren geringen Ressourcen, den Schulalltag am Laufen und ihre Lehrerkollegen unter Kontrolle zu halten: Big Sister is watching you! Dieses pädagogische Personal, zunächst genau beobachtet, anschlie-

ßend etwas zugespitzt, trifft auf Schüler, die ihre Schulpflicht illusionslos absitzen, weil sie wissen, dass sie nur noch verwaltet werden, bevor sie ins Prekariat entlassen werden. Entsprechend sind ihre Hobbies „Shoppen“ und ihre Berufsperspektiven „Dealer“, „Hartzer“ oder „Prostituierte“ – Berufsfelder, in denen sich Hilfslehrer Zeki bestens auskennt. Er fungiert im tendenziell von der gesellschaftlichen Realität abgekoppelten und autonom (nicht!) funktionierenden Sozialsystem „Schule“ als derbes Realitätsprinzip und erreicht die Schüler, weil er ihre Sprache spricht: „Herr Müller, sind Sie geborderlined, oder was? Müller, ey, Sie Geisterkranker!“ Moritz von Uslar schrieb in der „Zeit“: „Es sind, natürlich, die Wucht, die Härte, der Bums, die absolute Zeitgemäßheit und Gegenwärtigkeit der Sprache“, die dem Film seinen „Drive“, seine „Kraft“, seine „Dynamik“ verleihen. Schmerzhaft, wiewohl überzeichnet sind denn auch die Feldforschungen im Milieu, auf die Zeki Müller seine Schüler solange einlädt, bis die obligatorische Theater-AG als pädagogischer Fluchtpunkt ins Spiel kommt. Zweierlei wird deutlich: „Fack ju Göhte“ injiziert dem Genre einen ordentlichen Schuss Realismus, der durch Überzeich-

kino

nung und Zuspitzung nicht moralinsauer wirkt, und respektiert dann letztlich doch wieder die Gesetze des Genres, wenn die Konfliktenergie in einen doppelten Bildungserfolg umgemünzt wird. Nicht nur re-sozialisiert Zeki Müller seine Schüler, sondern auch er wird durch seine Schüler re-sozialisiert – und wechselt dann ironischerweise von der Prostituierten Charlie zur Referendarin Lisi Schnabelstedt. Das umfassende Happy End und die adäquat tiefergelegte Inszenierung von „Romeo und Julia“ sind absolut regelkonform und entsprechen dem „Rap-Musical“ in der bislang letzten Verfilmung von „Das fliegende Klassenzimmer“. Es geht Dagtekin folglich nicht um eine ideologiekritische Dekonstruktion des Genres, sondern um eine pointierte Aktualisierung voller Respekt, vertrauend und basierend auf dem kollektiven Wissen der Zuschauer, der hier etwas Neues und etwas Altes zugleich geboten bekommt. Wenn „Fack ju Göhte“ jetzt für den Deutschen Filmpreis nominiert ist, lässt sich dies auch als Respektsbekundung für die vielen Zuschauer lesen, denen Dagtekins handwerkliches Geschick zum Vergnügen gereichte. Was in diesem speziellen Fall eine schöne, begrüßenswerte Geste ist.

erfolgreichste deutsche komödien der letzten jahre 1. Der schuh des manitu (2001)

11.721.499 Zuschauer

2. t(raumschiff) surprise – periode 1 (2004)

9.165.932 Zuschauer

3. fack ju Göhte (2013)

8.783.766 Zuschauer

4. 7 zwerge – männer allein im wald (2004)

6.799.699 Zuschauer

5. Good bye lenin! (2003)

6.584.314 Zuschauer

6. keinohrhasen (2007) 7. wickie und die starken männer (2009)

6.297.816 Zuschauer 4.936.408 Zuschauer

8. kokowääh (2011)

4.317.017 Zuschauer

9. zweiohrküken (2009)

4.255.103 Zuschauer

10. 7 zwerge – Der wald ist nicht genug (2006)

3.580.591 Zuschauer

11. kokowääh 2 (2013)

2.749.139 Zuschauer

12. schlussmacher (2013)

2.574.615 Zuschauer

13. türkisch für anfänger (2012)

2.390.264 Zuschauer

14. vaterfreuden (2014, bis 20.4.)

2.321.103 Zuschauer

15. lissi und der wilde kaiser (2007)

2.292.113 Zuschauer

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transcendence

Das regiedebüt von wally pfister ist science fiction im wortwörtlichen sinn. Die Handlung ist wenn Die Geburt Gottes aus dem Geist des Computers dann nur ein wenig in die Zukunft verschoben; Häuser, Straßen, Autos, Kleidung sehen aus wie in unserer Gegenwart. Alles, sagen Pfister und sein Drehbuchautor Jack Paglen, loge zurückgeworfen wurde. Und tet. Ihm bleiben nur noch wenige könnte genauso gut hier und heute sieht zunächst doch nur AusWochen. Gemeinsam mit seiner passieren. Gemeinsam haben sie schnitte: Regentropfen in NahaufFrau Evelyn und seinem Freund eine technikparanoide Fantasie nahme, eine Computertastatur, die Max, dem Erzähler der Rahmenentworfen, die – was das gute als Türstopper dient, einen zugehandlung, entscheidet er sich, ein Recht von Fiktion ist – vorrangig wachsenen Hinterhof, der wie ein Experiment fortzusetzen und sein die potenziellen Gefahren von klaustrophobisches Idyll wirkt. Bewusstsein in einen Rechner zu künstlicher Intelligenz und weltweiIst das der große Genrefilm, inszeladen. Die Sache scheint zu gelinter Vernetzung isoliert und deren niert von dem Mann, der die gen, und Evelyn lädt diese neue Konsequenzen in ein mögliches, „Batman“-Spektakel von ChristoEntität, die sie für ihren Mann hält, wenn auch nun ganz und gar nicht pher Nolan fotografiert hat und für gegen den Rat von Max ins Interwahrscheinliches Szenario überdie bombastischen Traumbilder net hoch. Und siehe da – der neue, setzt. von „Inception“ sogar einen digitale Will scheint zu wollen, was In der Exposition sieht man eine „Oscar“ gewann? Tatsächlich fantaden alten, leicht verstrubbelten Stadt, die nach Ausnahmezustand sieren die Macher von „TranWissenschaftler nie so richtig inteaussieht: die technische Infrastrukscendence“ sich ihre eigene Techressiert hat: Er will die Welt veräntur liegt brach. Kaputte Handys nikmythologie zusammen, in der dern. sind achtlos über die staubigen das Fleisch, der Stoff und der Was bedeuten Emotion und IntelStraßen verstreut; in Boston, verrät Code später eine beängstigende lekt, Menschlichkeit und Größendie Erzählerstimme, soll es angebEinheit eingehen. Zunächst ist es wahn, ja, was bedeutet in unserer lich wieder Strom geben, während aber der Geist, der sich ganz und technologiegesättigten Welt ein der Mann, dem die Stimme gehört, gar im Digitalen formt. Der InforBegriff von Gott? Darunter macht auf einen verwilderten Garten matiker Will Caster wird von es Wally Pfister nicht. Solche komzusteuert. Man begegnet einer einem Anhänger einer antitechnoplexen Abstrakta werden im Genre Zivilisation, die katastrophisch logischen Terrorgruppe angegerne parallel geführt mit spekulagescheitert ist und ganz aufs Anaschossen und mit Polonium vergiftiven Schauwerten, die die Ehr-

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furcht vor ihren großen Themen in Ehrfurcht vor großen Explosionen, gigantischen Sets und Effekten übersetzen. Nicht so in „Transcendence“. Im Vergleich zu Ridley Scotts „Prometheus“ oder zum neu aufgelegten „Star Trek“-Franchise sieht „Transcendence“ beinahe wie ein Kammerspiel aus, wie die Geschichte eines Liebespaares aus Materie und Software, das sich in einen Bunker aus datenstromübersäten Monitoren und blankpolierten Korridoren zurückzieht und von dort aus forscht und Pläne schmiedet. Was hat das Ding, das einmal Will war und vielleicht noch ist, wirklich vor? Die Sache wird abstrus, sie wird größenwahnsinnig, sie bedient sich bei Motiven aus dem Fundus der B-Movies, die sich um Logik und Glaubwürdigkeit wenig scheren. Das aber macht die seltsame Faszination dieses widersprüchlichen und dennoch klug konzipierten Films aus: Pfister erzählt eine haarsträubende Geschichte, ohne sich dem Bildeffekt hinzugeben. Natürlich greift er auf Standardsituationen zurück, natürlich generiert er Spannung aus der Verknappung von Zeit und

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im Kino

zulu

natürlich scheut er auch das Sentimentale nicht. Aber er macht Ernst mit der Erkenntnis, dass ein Thriller aus Kapstadt Welt- und Menschenbild – und dessen Zerstörung – sich eben nur schwer in ein Kinobild übersetzen ein Junge muss mitansehen, wie lassen. „Transcendence“ bewahrt ein wütender mob seinen vater noch im schwersten Getöse die bei lebendigem leib verbrennt. Ruhe. Es ist ein enorm ehrgeiziges wie beachtlich bescheidenes Werk. „zulu“ beginnt mit diesen kindTim Slagman heitserinnerungen von ali, der nun, als erwachsener Mann, die Mordkommission in Kapstadt, Südafrika, leitet – in einem Land, in dem noch vor wenigen Jahrbewertung der filmkommission zehnten das Apartheid-Regime gegen die schwarze Bevölkerung Ein führender Forscher im Bereich der in einen grausamen Bürgerkrieg künstlichen Intelligenz wird von Antiverwickelt war. Dieser Beginn technik-Terroristen vergiftet. Bevor er schlägt die Tonalität des Films an: stirbt, lädt er mit Hilfe seiner Frau und Es geht in dem Thriller nicht nur eines Freundes sein Bewusstsein in um einen konkreten Fall, sondern einen Computer und lässt es „online“ untergründig stets auch um desstellen. Im Internet entwickelt der versen politische Dimension, denn netzte Geist nicht nur einen enormen Südafrika ist weiterhin tief Wissensdurst, sondern drängt auch gespalten. Die Entscheidung, den darauf, die Welt zu verändern – notfalls ehemaligen Tätern zu vergeben, gegen den Willen der Menschen. Kamum als Gesellschaft wieder zu merspielartiger Science-Fiction-Film, funktionieren, stößt in „Zulu“ auf der das Verhältnis von Emotionen und unverhohlene Kritik. Intellekt, Menschlichkeit und GrößenAli wird mit der Leiche einer junwahn, Schöpfer und Geschöpf im Zeigen Frau aus der privilegierten chen einer technologiegesättigten Welt (weißen) Oberschicht konfrontiert. neu durchbuchstabiert. Souverän In ihrem Blut findet sich eine neuarbeitet er mit Genre-Motiven, wobei artige Droge. Die Ermittlungen gängige Identifikationsmuster und ziehen sich durch alle gesellschaftGut-Böse-Zuschreibungen geschickt lichen Klassen. Zu Alis Team gehöunterlaufen werden. – Ab 14. ren Brian, der geschieden ist und

seine Einsamkeit mit Alkohol und rasch wechselnden Partnerinnen zu betäuben versucht, und Dan, ein korrekter, anständiger Beamter, der den Verwicklungen des Falls zum Opfer fällt. Brian ist die interessante Figur, exzellent gespielt von Orlando Bloom, der älter und abgekämpfter wirkt als in seinen bisherigen Rollen. Er ist der Gegenpol von Ali, der als Junge genital verstümmelt wurde und darauf setzt, Teil eines Systems zu sein, das für Gerechtigkeit sorgt. Obwohl einige Elemente des Kriminalfalls dem Umstand geschuldet sind, eine Haltung auszudrücken und Position zu beziehen, konzentriert sich Regisseur Jérôme Salle bei der Verfilmung eines Romans von Caryl Ferey auf die Figuren und deren Lebenswelten. „Zulu“ profitiert von der nuancierten Hinwendung zu den Figuren, selbst wenn dies bisweilen zu Lasten des Krimis geht. Forest Whitaker, der bereits in „Der letzte König von Schottland“ eine gravitätische afrikanische Persönlichkeit darstellte, wirkt als Ali eindrucksvoll kontrolliert und beherrscht, gleichzeitig aber verletzt und machtlos, bis auch er an den Rand dessen gedrängt wird, was er zu ertragen im Stande ist. Letzten Endes kommen die Ermittler erst dann mit dem Fall voran, wenn sie aus ihren Konventionen

neue Filme

ausbrechen, wenn Brian sein Selbstmitleid abschüttelt und Ali mehr auf sich und seinen Instinkt als auf ein System vertraut, das er als korrumpierbar entdeckt. Nach den beiden eher effekt- und actionlastigen „Largo Winch“-Verfilmungen beweist Jérôme Salle sein Gespür für fein abgestimmte Charakterstudien innerhalb eines teils sehr düsteren, brutalen Thrillers. Durch die Konzentration auf die Entwicklung der Charaktere gelingt eine Romanverfilmung, die in der Summe reizvoller ist als manches klischeehafte Element des Kriminalfalls und die sehr europäische, weil skeptische Sicht auf ein gebeuteltes Land. Sascha Koebner

bewertung der filmkommission

Der schwarze Leiter der Mordkommission in Kapstadt, der in seiner Kindheit schwer traumatisiert wurde, vertraut trotz der ausufernden Kriminalität auf die Macht und Integrität der staatlichen Ordnungskräfte. Im Fall einer toten jungen Frau werden seine Überzeugungen jedoch auf eine harte Probe gestellt, wobei er und sein weißer Kollege mit den Ermittlungen erst vorankommen, als sie ihre Einstellungen hinterfragen. Spannender Kriminalfilm mit nuanciert gezeichneten und überzeugend gespielten Charakteren, der stets politische Subtexte mit im Spiel hält. – Ab 16.

Scope. USA/Großbritannien/China 2014 regie: Wally Pfister buch: Jack Paglen

Scope. Frankreich/Südafrika 2013

kamera: Jess Hall

regie: Jérôme Salle

musik: Mychael Danna

buch: Julien Rappeneau, Jérôme Salle

schnitt: David Rosenbloom

kamera: Denis Rouden

darsteller: Johnny Depp (Will Caster), Rebecca Hall (Evelyn), Paul Bettany (Max Waters), Morgan Freeman (Joseph), Kate Mara (Bree), Cillian Murphy (Anderson), Clifton Collins Jr. (Martin)

musik: Alexandre Desplat

länge: 120 Min. | fsk: ab 12; f

darsteller: Forest Whitaker (Ali Sokhela), Orlando Bloom (Brian Epkeen), Conrad Kemp (Dan Fletcher), Tanya van Graan (Tara), Patrick Lyster (Dr. Oppermann), Tinarie van Wyk Loots (Claire Fletcher), Iman Isaacs

Verleih: Tobis | kinostart: 24.4.2014

länge: 110 Min. | start: 8.5.2014

fd-kritik: 42 348

V: Studio Hamburg | fd-kritik: 42 349

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