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Filmkunst

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FILM DIEnst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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Denis Villeneuve Der kanadische regisseur legt mit „Enemy“ eine fiebrige Doppelgänger-Geschichte vor. Ein Porträt.

Patricia Highsmith Die Krimi-Autorin inspiriert schon seit den 1950er-Jahren Filmemacher zu spannenden Kinogeschichten.

CityGuide tel Aviv Eine Kino-stadtführung durch die westlichste aller Metropolen im nahen osten.

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22. Mai 2014 € 4,50 67. Jahrgang

XMEN

„Zukunft ist Vergangenheit“: Einmal mehr spielt das Kino mittels Zeitmaschine schicksal. Über das thema „Zeitreisen im Film“ anlässlich des starts von Bryan singers Comic-Verfilmung.

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Akteure

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die uhr zurückzudrehen, um geschehenes rückgängig zu machen, ist ein Menschheitstraum, den auch das Kino gerne träumt. eine Reise in die vergangenheit, um die Zukunft zu verändern, unternimmt aktuell Wolverine in „X-Men: Zukunft ist vergangenheit“. Anlass für eine Bestandsaufnahme des Zeitreise-genres, in dem das einmischen des Menschen in die „timeline“ ebenso fasziniert wie erschreckt. von tim Slagman

der deutsche Regisseur hat mit „Zeit der Kannibalen“ einen dezidiert politischen Film gedreht. ein gespräch über die gründe und welche Filmästhetik daraus resultiert. von Heidi Strobel

ZEItrEIsE IM KIno

JoHAnnEs nABEr

alle Filme im tV vom 24.5. bis 6.6. das extraheft 48 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV

NUR DIE SONNE WAR ZEUGE. 25.5. BR FERNSEHEN.

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DER KOMMISSAR UND SEIN LOCKVOGEL 28.5. arte

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Madonnen von Maria Speth Hoffmanns Erzählungen von Michael Powell & Emeric Pressburg er Chihiros Reise ins Zauber land von Hayao Miyazaki

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PAtrICIA-HIGHsMItHVErFILMunGEn Seit Alfred Hitchcocks „der Fremde im Zug“ ist das literarische Werk der Krimi-Autorin auch ein Kino-Phänomen. Anlässlich des Starts der Adaption „die zwei gesichter des Januars“ beleuchten wir das nicht immer einfache verhältnis der Schriftstellerin zum Film. von ulrich Kriest

in „Kreuzweg“ präsentierte sich die Schauspielerin als kaltherzige Mutter von einer düsteren Seite. Wie immer beängstigend gut. ein Porträt aus der „Spielwütig“-Reihe. von Alexandra Wach

[26.5. ZDF] [27.5. 3SAT] [5.6. SUPER RTL]

Nur die Sonne war Zeuge 25.5. BR FeRNSeHeN Sherlock - Der leere Sarg 29.5. das erste Herzensbrecher 31.5. arte

der kanadische Regisseur ist seit seinem uS-Film „Prisoners“ einem größeren Publikum bekannt. Nun startet sein jüngstes Werk „enemy“. eine Suche nach inhaltlichen und stilistischen Kontinuitäten in seinem Schaffen. von Rüdiger Suchsland

FrAnZIsKA WEIsZ

16 Ständige Beilage

DEnIs VILLEnEuVE

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80.000 Film-Kritike n u n t e r w w w. f i l m d ienst.de

DER LETZTE TANGO IN PARIS 6.6. 3sat

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KInDErFILM Herausragende Filme für junge Zuschauer wurden Anfang Mai mit dem „young Audience Award“ geehrt. Außerdem gibt es eine neue dvd mit Materialien für barrierefreie Filmvermittlung im unterricht. + tipps und veranstaltungen

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In MEMorIAM die Filmwelt trauert um den britischen darsteller Bob Hoskins, den Regisseur erwin Stranka und die darstellerin tatjana Samoilowa.

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Weiterführung der US-Echtzeitserie „24“

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Neue Filme

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CItYGuIDE tEL AVIV die israelische Metropole steht in Sachen Filmkultur zwischen einer Orientierung am Westen, der eigenen kulturellen tradition und der schwierigen politischen lage. ein Streifzug. von Frank Olbert

+ ALLE stArttErMInE

47 Araf – Somewhere in between [22.5.] 41 Bad Neighbors [8.5.] 43 Enemy [22.5.] 40 Fräulein Else [22.5.] 47 Godzilla [15.5.] 38 Grace of Monaco [15.5.] 41 Hinterdupfing [8.5.]

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im mai flirtet das Kino wieder heftig mit der literatur: „Fräulein else“ von anna martinetz ist eine ambitionierte Verfilmung der gleichnamigen novelle von arthur schnitzler; drehbuchautor hossein amini widmet sich in seinem regiedebüt „die zwei gesichter des Januars“ einem Patricia highsmithstoff. um Vorzüge und defizite von sprache vs. bildmedium geht es in der schul-romcom „words & Pictures“.

Fotos: titel: twentieth Century Fox, S.4/5: Rudolf Holtappel / Nachlass Holtappel; edition Filmmuseum, Camino, Fd-Archiv, edition Salzgeber, Senator, One Filmverleih, StudioCanal.

Fotos Von stAnLEY KuBrICK … sind derzeit im Kunstforum in Wien zu sehen. eine Annäherung an den Filmemacher im Fotografen. von Jens Hinrichsen KinotiPP der katholischen Filmkritik

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Im Namen des ... [8.5.]

drama von Malgorzata Szumowska vgl. Kritik in Fd 10/14

FEstIVALs Rückblicke auf Programm und Profil der diesjährigen Ausgabe des „goeast“Festivals und des Münchner dOKfest. von Wolfgang Hamdorf und Margret Köhler

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MAGIsCHE MoMEntE der spanische Kinomagier Julio Medem inszenierte mit „die liebenden des Polarkreises“ eine poetische Huldigung an die liebe als Schicksalsmacht. von Rainer gansera

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Kathedralen der Kultur [29.5.] Lifelong – Hayatboyu [22.5.] Love Eternal [22.5.] Das magische Haus [22.5.] Nix wie weg – vom Planeten Erde [29.5.] One Chance – Einmal im Leben [22.5.] Panihida – Himmelreich [22.5.] Panzehir [8.5.] Paris um jeden Preis [22.5.] Tour du Faso [29.5.] Vom Ordnen der Dinge [29.5.] Welcome Goodbye [29.5.] Words & Pictures [22.5.] X-Men – Zukunft ist Vergangenheit [22.5.] Zeit der Kannibalen [22.5.] Die zwei Gesichter des Januars [29.5.]

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s. WorDs & PICturEs

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s. DIE ZWEI GEsICHtEr DEs JAnuArs

ruBrIKEn editorial inhalt magazin e-mail aus hollywood magische momente vorschau impressum

Kritiken und Anregungen?

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die zärtlichkeit der wölfe Die Romane von Patricia Highsmith im Kino

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1951 Der Fremde im Zug

1959 nur die Sonne war Zeuge

1962 Der mörder

1969 Wenn dich dein mörder küsst

1976 Der amerikanische Freund

1977 Süßer Wahn

1977 Die gläserne Zelle

1981 Stille Wasser

1983 ediths Tagebuch

1985 Die zwei Gesichter des Januar

1987 Schrei der eule

1991 Der Geschichtenerzähler

1993 Trip nach Tunis

1999 Der talentierte mr. Ripley

2000 Ripley’s Game

2005 Ripley Under Ground

2008 Der Schrei der eule

2014 Die zwei Gesichter des Januars

Filme nacH Romanen von Patricia highsmith


Highsmith-Verfilmungen

kino

mit „Die zwei Gesichter des Januars“ kommt eine weitere verfilmung eines Romans von Patricia Highsmith in die Kinos (Kritik in dieser ausgabe). es ist das neueste Kapitel einer spannenden „liebesgeschichte“ zwischen Film und literatur, die in den 1950erJahren mit alfred Hitchcocks Highsmithverfilmung „Der Fremde im Zug“ begann. Von Ulrich Kriest im Herbst 1950 war der Schriftsteller Raymond Chandler („the Big Sleep“) von den Zumutungen seiner aktuellen Arbeit genervt: „Ziemlich albern“, das ganze. Für Alfred Hitchcock sollte er aus dem irrwitzigen debütroman einer jungen Amerikanerin ein tragfähiges drehbuch verfassen. Chandlers Problem bestand darin, „dass es in dieser geschichte um den Horror einer Absurdität geht, die Wirklichkeit geworden ist“. Worum ging es? „ein durch und durch anständiger junger Mann, guy Haines, erklärt sich bereit, einen Menschen zu ermorden, den er

„Der Fremde im Zug“ (1951)

Bei Highsmiths Figuren handelt es sich um Kippfiguren, bei denen nie ganz ausgemacht ist, wann Träume und Sehnsüchte in Albträume oder Wahn umschlagen, wann Realität sich in Wahn zerstreut oder träume Wirklichkeit werden. das gilt auch für ihre filmischen inkarnationen, etwa den Architekten Phillip Braun, der in „die gläserne Zelle“ (1977)

Fotos: diogenes-verlag/© Simone Sassen, Warner, StudioCanal.

„Ich finde die Leidenschaft der Öffentlichkeit für das Gesetz ziemlich. langweilig und gekünstelt, denn weder das Leben noch die Natur kümmern.sich jemals um Gerechtigkeit.“ (Patricia Highsmith) gar nicht kennt.“ in Chandlers Beschreibung der Hauptfigur aus dem Roman „Zwei Fremde im Zug“ von Patricia Highsmith (1921-1995) als „durch und durch anständig“ liegt freilich ein groteskes Missverständnis der vorlage, schlug diese doch weit radikalere existenzialistische töne an. „Der Fremde im Zug“ (1951) mag nicht zu den besten Filmen Hitchcocks gehören, und doch scheint der Regisseur ein weit größeres gespür für den Abgrund von guy Haines gehabt zu haben als der am Projekt gescheiterte „hard boiled“-Profi Chandler. Man kann nämlich den flamboyanten Psychopathen Bruno Anthony, der Haynes einen „Austausch“ von Morden als perfektes verbrechen vorschlägt und in vorleistung geht, indem er guys unliebsame ehefrau tötet, sehr gut als Materialisierung der dunklen Seite dieses „Anständigen“ sehen. Womit einige leitmotive der fiktiven Welten, die Patricia Highsmith vielfach entworfen hat, bereits in ihrem debütroman aufscheinen: es geht bei ihr stets um identitätszerfall, identitätswechsel und die Befreiung von einer identität durch einen eher spontanen als mordlustigen Akt der gewalt. und um das fortwährende, improvisierende Spiel mit identitäten in Folge der gewalt. Nicht grundlos wurde Anthony Minghellas Neuverfilmung von „der talentierte Mr. Ripley“ (1999) ein Film voller Jazz!

für ein verbrechen ins gefängnis geht, das er nicht begangen hat, und verändert aus der Haft entlassen wird. doch in der Welt findet er sich, misstrauisch und manipulierbar bis zur Paranoia, nicht mehr zurecht, bis er ein verbrechen begeht, dessen er verdächtigt wird, aber nicht belangt werden kann, weil er unerwartet ein Alibi bekommt. Oder die Hauptfigur in „ediths tagebuch“ (1983), die einerseits vor den Zumutungen ihres Alltags und der Zeitläufte in die „traumwelt“ ihres tagebuchs driftet, sich aber genau durch diese drift eine spielerische Autonomie bewahrt, die man auch als Widerstand begreifen kann. und da ist Robert Forrester, der in „der Schrei der eule“ (2008), der bislang düstersten Highsmith-verfilmung, hilflos und paralysiert miterleben muss, wie sich seine bürgerliche existenz durch eheprobleme und eifersucht in eine Folge von gewaltakten auflöst, bis alle ihm nahestehenden Personen tot sind. Wenn man Forrester am Schluss genau an dem Ort verlässt, dem zu Beginn seine Sehnsucht gegolten hatte, kommt einem der Satz in den Sinn, mit dem der Selbstmörder david Kelsey in „der süße Wahn“ den lauf der dinge auf den Punkt gebracht hat: „Nothing was true but the fatigue of life and the eternal disappointment.“ >

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kino

Highsmith-Verfilmungen

„Nur die Sonne war Zeuge“ (1959)

Hitchcocks Verfilmung „Der Fremde im Zug“ machte Patricia Highsmith schon früh berühmt. Zahlreiche Adaptionen ihrer gefragten Geschichten sollten folgen, doch die Beziehung zwischen Highsmith und dem Kino blieb stets problematisch. Mehr als einmal äußerte sich die Schriftstellerin enttäuscht von den verfilmungen, die dadurch, dass sie einzelne Mosaiksteinchen innerhalb ihrer kunstvoll gewebten Konstruktionen verrückten, deren Statik beschädigten. das ist schwerlich zu leugnen. Aber erzählt die tatsache, dass die Schlusspointe von René Cléments „Nur die Sonne war Zeuge“ (1959) die Romanhandlung moralisch geradezu auf den Kopf stellt, nicht mehr über die entstehungszeit des Films als der zugrunde liegende Roman „der talentierte Mr. Ripley“ selbst? enno Patalas erkannte in tom Ripley, wie er in Cléments Film konturiert ist, einen modernen Helden, „ganz intelligenz ohne Charakter, ein kalter Narziss“, und lobte: „der Film erklärt seinen Helden nicht, er konfrontiert den Zuschauer mit ihm und seiner Welt und zwingt ihn durch die Präzision des Bildes in die Auseinandersetzung.“ in Highsmiths Notizen zu „Zwei Fremde im Zug“ stößt man auf die sonderbare Formulierung „sex life motivates & controls all“, die ein neues licht auf die geschlechteridentitäten vieler ihrer Figuren wirft. insbesondere Wim Wenders hat in seiner Highsmith-verfilmung „Der amerikanische Freund“ (1976) klar gemacht, dass die Konstellationen zwischen den Männern von kaum übersehbaren homoerotischen gefühlen geprägt sind. Frauen fungieren hingegen eher als Medium und scheiden irgendwann als Störfaktor der Männerfreundschaft aus. Wenders hat im interview zu seiner Bearbeitung von „Ripley’s game“ angemerkt, dass ihm die darstellung der ehe des leukämiekranken Rahmenbauers Jonathan in der Romanvorlage zu misogyn gewesen sei, weshalb er einige Änderungen vorgenommen habe, die ihm Highsmith zunächst sehr übel nahm. tatsächlich aber hat Wenders – wie nicht zuletzt ein Blick auf die recht werkgetreue Neuverfilmung des Stoffs durch liliana Cavani (2002) deutlich macht – die geschichte meisterhaft in seinen filmischen Kosmos der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre eingepasst. es sind Wenders-Figuren, die mit Songs der Kinks, der Beatles und der Byrds auf den lippen eine gangstergeschichte nachspielen, die für den todkranken Jonathan letztlich nur eine verlockende Chance darstellt, aus seiner bürgerlichen existenz auszubrechen.

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„Die zwei Gesichter des Januars“ (2014)

So paradox es klingt: Man hat Patricia Highsmith trotz ihrer enormen Popularität lange als „Kriminalautorin“ unterschätzt. Peter Handke dagegen, der die genauigkeit der Prosa der Amerikanerin schätzte, hat sich schon früh für Highsmith als „große Schriftstellerin“ stark gemacht und berichtet, dass ihre Fans unter den Filmemachern, die sich vergeblich um die Filmrechte bemühten, auf ihre Art ihrer Bewunderung Ausdruck verliehen. etwa indem Werner Schroeter seinen Figuren in „Argila“ und „eika Katappa“ Worte aus dem Roman „der Schrei der eule“ in den Mund legte. Oder indem in Wenders’ „die Angst des tormanns beim elfmeter“ (1971) in einem Kino eine High-smith-verfilmung von „das Zittern des Fälschers“ läuft – die damals gar nicht existierte. erst 1993 versuchte sich Peter goedel an einer Adaption dieses schillerndsten aller Highsmith-Romane – als Fernsehspiel („trip nach tunis“). Hinzu kommt, dass die Mängel und Kürzungen der alten, höchst einflussreichen Highsmith-edition sichtbar wurden, als der diogenes-verlag zu Beginn der 2000er-Jahre eine Neuübersetzung der Bücher von Patricia Highsmith in Angriff nahm. ein neuer Highsmith-Kontinent wurde entdeckt! So liest man im Nachwort der Neuübersetzung von „die zwei gesichter des Januars“ mit Staunen, dass Highsmith bei der Konzeption des Romans zumindest zeitweise mit der (komischen) Option einer travestie gespielt hat. deren dunkle variante ließe sich so lesen: ein unbeabsichtigter Mord in einem Athener Hotel begründet die Freundschaft zweier Männer, die sich später auf Kreta durch einen verabredeten Mord der jungen ehefrau des älteren Mannes entledigen – und der jüngere Mann schlüpft in die Rolle der ermordeten. Highsmith notiert: „er übernimmt ihren Pass und ihre garderobe – durchaus nicht ohne vergnügen, doch mit ausreichender unbeholfenheit, so dass es komisch wirkt. die Stimme bereitet wenig Schwierigkeiten. Schlimmer ist der Bart.“ Solche Abgründe sucht man in Hossein Aminis neuer, eher ins Brave tendierenden Romanverfilmung vergeblich. •

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e- mA i l Von Franz Everschor

A us

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Fotos: twentieth Century Fox

ein zorniger Jack bauer 24, die Stundenzahl eines tages, hat seit dem Jahr 2001 noch eine andere, ikonische Bedeutung: Sie erinnert an eine tv-Serie, die Amerika – und in reduzierterem Maß auch den Rest der Welt – fasziniert hat wie nur wenige Fernsehprogramme zuvor. „24“ und deren Held Jack Bauer sind zu Spiegelbildern der politischen Realität und der von ihnen profitierenden unterhaltungsindustrie geworden. Bauer kämpfte gegen terroristenanschläge schon in einer episode, die Monate vor der tragödie des 11. September 2001 gefilmt worden war; die Serie thematisierte Foltermethoden im Kampf gegen die Feinde der Nation, wie sie ähnlich aus Abu ghuraib die Weltöffentlichkeit in Aufregung versetzten; sie bereitete sogar das amerikanische volk auf die denkmöglichkeit eines afro-amerikanischen Präsidenten vor. Nicht genug damit, revolutionierte „24“ auch die Konventionen des Fernsehgeschäfts: Zum ersten Mal sah sich ein Produzent veranlasst, die erste Saison eines tv-dramas bereits auf dvd zu veröffentlichen, bevor die nächste Staffel das licht der Bildschirme erblickte. „24“ war auch die erste Serie, die das „Binge viewing“, jene addiktive Form des Massenkonsums gleich mehrerer episoden, populär machte. vom Publikum geliebt und angefeindet zugleich, von der Kritik in

Franz everschor berichtet für FILMDIENST seit 1990 aus Hollywood

den Himmel gehoben oder mit ätzender verachtung bedacht, spiegelte diese Serie die uSA der BushJahre und die Anpassung der Fernsehindustrie ans Computer-Zeitalter wie kaum ein anderes Bildschirmangebot wider. die Jack-Bauer-Mythologie hat sich in der amerikanischen Populärkultur eingenistet und selbst einen so unerwarteten verteidiger wie Antonin Scalia, Richter an Amerikas Oberstem gerichtshof, zu dem Ausspruch veranlasst: „Wird sich irgendeine Jury bereitfinden, Jack Bauer zu verurteilen? ich kann es mir nicht vorstellen.“ Seit dem 5. Mai ist Jack Bauer nach vierjähriger Pause nun wieder auf dem Bildschirm. er sieht zorniger und finsterer aus als zuvor. Nach allem, was ihm in der achten Staffel angetan wurde, lässt sich das verstehen. Ansonsten ist er der Alte. er weiß, was selbst die CiA nicht weiß, dass nämlich der amerikanische Präsident bei einem Besuch in london in lebensgefahr schwebt; er kennt die Zusammenhänge und begibt sich sogar freiwillig in gefangenschaft, um etwas dagegen unternehmen zu können. ComputerHacker und drohneneinsätze demonstrieren, dass die Autoren der Serie ihre Orientierung an der politischen gegenwart nicht aufgegeben haben. Beibehalten haben sie auch den hektischen Stil bis hin zur häufigen ver-

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wendung des Splitscreens. Anders ist nur die Konzentration auf zwölf (echtzeit-) Folgen statt der früheren 24. die Spannung war groß, ob „24: live Another day“, wie die Neuauflage offiziell heißt, eine ähnliche Resonanz beim Publikum auslösen würde wie die ersten acht Jahrgänge. die Ausstrahlung des zweistündigen Pilotfilms erreichte im amerikanischen Fernsehen 8 Mio. Zuschauer. das ist weniger als die 10,4 Mio., die das Finale der achten Saison sahen, aber die Konkurrenzsituation ist heute auch eine andere. verglichen mit den Resultaten desselben Sendeplatzes, als dort zwei Wochen zuvor die Serien „Bones“ und „the Following“ ausgestrahlt wurden, lag „24“ bei der von der Werbung favorisierten Altersgruppe der 18- bis 49-Jährigen um 70 Prozent und beim gesamtpublikum um 50 Prozent besser im Rennen. verlässlich ist nichts in den geschichten, die „24“ erzählt – außer dass Jack Bauer auch die hanebüchensten ereignisse überlebt. verlässlich ist im Zeitalter von BluRay, video on demand und Streaming video auch nichts mehr bei der Zuschauerprojektion. es wird sich bald herausstellen, ob das etwas angestaubte Konzept und der zornigere Jack Bauer die Sympathien des Publikums eine weitere Saison lang bewahren können. •

Die Spannung war groß, ob „24: Live Another Day“ eine ähnliche Resonanz beim Publikum auslösen würde wie die ersten acht Jahrgänge. √

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neue Filme

im Kino

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit Originelle Fortschreibung der Comic-Verfilmungen

New York, Moskau, Peking: verwüs-tete Städte, in denen einzig Hochhaus-Skelette herausragen. Übergroße Kampfroboter, von fliegenden Quadern freigesetzt, haben fast die gesamte Welt zerstört. die wenigen überlebenden X-Men harren unter der erde aus und führen einen aussichtslosen Kampf; denn die Roboter sind ihnen hoffnungslos überlegen. Agenten unter Führung von dr. Bolivar trask haben im Auftrag der uS-Regierung Raven alias Mystique getötet und mit ihrer dNA den perfekten Maschinenmenschen geschaffen. einzige lösung: Man müsste nachträglich Mystiques tod verhindern. So befördert Kitty Pryde mit ihren besonderen Fähigkeiten Wolverines Bewusstsein in sein ich des Jahres 1972. Allerdings braucht er unterstützung und muss zunächst den jungen Charles Xavier und den jungen Magneto ausfindig machen. der eine hat sich enttäuscht zurückgezogen und ahnt noch nichts von seiner zukünftigen Bedeutung; der andere soll John F. Kennedy ermordet haben und sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis tief unter dem Pentagon, aus dem er von Wolverine, Xavier, Hank alias Beast und dem blitzschnellen Quicksilver befreit werden muss. Jetzt müssen die X-Men Mystique finden, doch auch trask, der inner-

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halb der Nixon-Administration die Ängste gegen die Mutanten schürt, ist ihr auf den Fersen. Was passiert, wenn Comic-Welt auf Realität trifft? dürfen sich Superhelden mit wahren mächtigen Männern vom Schlage eines John F. Kennedy messen? Oder führt die Allianz von Fantasie und Wirklichkeit zwangsläufig zu einem Spannungsdefizit? „X-Men: erste entscheidung“ hatte diese Fragen nicht ganz beantwortet. die idee, die reale Kuba-Krise in eine fantasti-sche Comic-Handlung einzubetten, nahm dem Film viel von seiner erzählerischen Freiheit. doch durch das seit „Zurück in die Zukunft“ beliebte Motiv der Zeitreise, bei der die vergangenheit geändert werden muss, um die Zukunft zu retten, erhält der neue Film einen unerwarteten twist. Bryan Singer, der bereits die ersten beiden „XMen“-Filme inszenierte, vermeidet dabei die logischen Brüche, die andere Zeitreise-Filme ignorieren, indem er eine andere lösung findet: Hier reist nur das Bewusstsein, nicht der Körper. das führt zwangsläufig dazu, dass Wolverine, der als einziger mit seinen selbstheilenden Kräften eine derartige Zeitreise überstehen würde, eine tragende Rolle zukommt. er muss seine ungeduld, seinen Zorn und seine Kraft zügeln, um nicht in die ge-

genwart zurückzufallen. Mit seinem Wissen um die düstere Zukunft wird er zur handlungstreibenden Kraft und macht dabei eine schlüssig gezeichnete Charakterwandlung durch. interessante Folge: das Mentor-Sohn-verhältnis zwischen Xavier und Wolverine kehrt sich um, während die Beziehung zwischen Xavier und Magneto höchst kompliziert bleibt. „X-Men: Zukunft ist vergangenheit“ berührt noch einmal bekannte diskussionen um Normalität und Andersartigkeit, Ängste und Hass, Akzeptanz und diskriminierung. die Menschheit braucht die Mutanten, so die schlichte erkenntnis, die auch schon die vorgänger prägte. der vietnam-Krieg, Richard Nixon und der Showdown vorm Weißen Haus verorten den Film eindeutig in einer (im Übrigen mit liebevoller Nostalgie rekreierten) Zeit, die von politischen Protesten und gesellschaftlichen veränderungen geprägt war und so eine zweite lesart des Films zulässt. eingebettet hat Singer diesen Überbau in ein Action-Spektakel, das er mit viel Sinn für ironie und verhaltenem 3d gestaltete. So hält Quicksilver zum Song „time in a Bottle“ bei der Befreiung Magnetos förmlich die Zeit an, um zielgerichteten Revolvern, abgefeuerten Kugeln und hochgehaltenen Fäusten noch eine

andere Richtung zu geben. Zeit ist eben relativ. und auf die Zukunft kein verlass. Michael Ranze

bewertung der FilmKommission

in einer nicht allzu fernen Zukunft haben roboter fast alle X-men ausgerottet und große teile der Welt zerstört. Wolverine reist ins Jahr 1972 zurück, um die Zukunft zu retten. dabei muss er sich auch der mithilfe seines mentors Xavier und dessen nemesis magneto versichern. die originelle, aufwändig inszenierte Fortschreibung des „X-men“-mythos nimmt die diskussion um akzeptanz und diskriminierung noch einmal auf und bettet sie in ein action-spektakel mit sinn für ironie und verhaltenem 3d ein. – ab 14.

X-men: daYs OF FUtUre past. scope. Usa/Großbritannien 2014 regie: bryan singer buch: simon kinberg Kamera: newton thomas sigel musik, schnitt: John Ottman darsteller: hugh Jackman (logan/Wolverine), James mcavoy (charles Xavier, jung), michael Fassbender (erik lehnsherr/magneto, jung), Jennifer lawrence (raven/mystique), patrick stewart (professor Xavier, alt), ian mckellen (magneto, alt) länge: 130 min. | Kinostart: 22.5.2014 Verleih: Fox | Fd-Kritik: 42 375

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im Kino

neue Filme

Zeit der Kannibalen

Bitterböses Polit-Theater mit brillanten Darstellern Seit sechs Jahren reisen die Unternehmensberater Öllers und Niederländer gemeinsam um die Welt. Flugmeilen sammelnd. Heute hier, morgen dort oder in lagos. Sie wissen sehr gut um ihre Stärken, aber auch um ihre Schwächen. Sie wissen einander zu schätzen – in mehrfachem Sinn. in immer denselben Konferenzräumen treffen sie auf Kunden und unterbreiten stets dieselben vorschläge zur gewünschten Profitmaximierung: verlagerung der Produktion in länder, wo Arbeitskraft noch billiger zu haben ist. indien war gestern, heute sollte man vorurteilsfrei über Pakistan oder Afghanistan nachdenken. taliban hin, terror her. Nach getaner Arbeit geht es zurück in die immer gleichen Hotelzimmer mit Mini-Bar, Prostituierten, drogen, telefonaten mit den lieben in der Heimat. Nach all den Jahren globalem Frondienst wäre es an der Zeit, demonstrativ belohnt zu werden, indem man in der Firmen-Hierarchie zum „Partner“ aufsteigt. Aktuell ist das dem teamkollegen Hellinger gelungen, was bei den Zurückgebliebenen auf unverständnis stößt. das Nächste, was man von Hellinger hört, ist, dass er sich aus dem Fenster gestürzt hat. das Nächste, was man aus der Firmenzentrale sieht, ist die junge Kollegin Bianca, die Hellinger vor Ort ersetzt. Öllers und Niederländer, beide auf ihre Art Machos und Zyni-

ker, sind entsetzt, müssen Zeichen lesen und deuten, sich neu orientieren. Was wird gespielt? Mit welchem Auftrag ist Bianca zum team gestoßen? Während im Hintergrund geräusche der Außenwelt, die auf Bürgerkrieg und terroranschläge hindeuten, allmählich lauter werden, liegen die Nerven blank, fliegen die Fetzen. Johannes Naber („der Albaner“) hat seinen Film konsequent als Kammerspiel realisiert. er macht keinen Hehl aus der entscheidung, dass die Welt außerhalb der Nicht-Orte Hotel und Konferenzraum nur zeichenhaft existiert und der Blick aus dem Hotelfenster stets ein abstraktes Bild für eine dritte-Welt-Metropole zeigt, die aufgrund der luftverschmutzung eh nicht zu erkennen wäre. Naber zeichnet die Welt des entfesselten Kapitalismus mit Mitteln des Absurden und der groteske und vertraut auf die Komik, die entsteht, wenn weitreichende ökonomische entscheidungen vor dem Hintergrund kleinkarierter Marotten gefällt werden. der Film setzt dabei ganz auf seine famosen darsteller, denen aller Raum gelassen wird, um mit verve ihre Konflikte und intrigen pointenreich böse und voller Witz auszutragen: Schauspieler-theater par excellence. Passend zu den Nicht-Orten, an denen „Zeit der Kannibalen“ spielt, agieren die Figuren auf der Basis flottierender identitäten, die auf

bestimmte Situationen nur mit versatzstücken von ideen, aber nicht mit einer geschlossenen ideologie reagieren können. die Figuren improvisieren. Öllers möchte die Welt zu einem besseren Ort machen, indem er die bestehende Ordnung untergehen lässt. Niederländer träumt davon, die transiträume dieser Welt innenarchitektonisch so zu vereinheitlichen wie den geschmack der Speisen bei Mcdonald’s. Bianca dagegen gibt sich emanzipiert und voller Bewusstsein für Political Correctness, zeigt sich aber dann doch schnell korrupt und egoistisch. Staunend gestehen die neoliberalen Strippenzieher einander, welche interessanten Farben ihre politischen Biografien streiften. Solcherart verdichtet und abstrahiert gibt „Zeit der Kannibalen“ lange Zeit eine schwarze Komödie, die auf engem Raum unter mitteleuropäischen Bedingungen „the Wolf of Wall Street“ oder „glengarry glen Ross“ nachspielt, bis irgendwann dann doch die Moral von der geschicht’ in den Film kracht. Als die Firma verkauft wird, resultiert daraus ein erstaunlicher Aufstieg, dem umgehend der Fall ins Bodenlose folgt. dieser Niedergang letztlich unprofessioneller Akteure, die sich leichthin opfern lassen, wird von einem Überfall islamistischer terroristen auf das Hotel flankiert, in dessen verlauf

die drei Helden des Kapitalismus zu hilflos-greinenden Wichteln werden. die Revolution, so der etwas zu pathetische Schluss, wird sie hinwegfegen und sie als Pappkameraden im „Krieg gegen den terror“ missbrauchen. Aber: ihre Nachfolger stehen längst bereit, um ihre Arbeit fortzusetzen und es durch ehrgeiz, Skrupellosigkeit und erfolgsorientierung im besten Fall zum „Partner“ zu bringen. Ulrich Kriest

bewertung der FilmKommission

Zwei weltreisende Unternehmensberater, die ihren kunden stets dieselben vorschläge zur gewünschten profitmaximierung unterbreiten, werden mit dem selbstmord eines teamkollegen konfrontiert, der eben erst in der Firmen-hierarchie aufgestiegen war, und müssen ratlos die Zeichen deuten, als diesem eine junge kollegin nachfolgt. ein rabenschwarzes, von vorzüglichen darstellern getragenes kammerspiel, das die Welt des entfesselten kapitalismus mit mitteln des absurden und der Groteske zeichnet. das pointenreiche und bitterböse ränkespiel der neoliberalen strippenzieher wird gegen ende mit etwas zu deutlicher moral befrachtet. – sehenswert ab 16.

scope. deutschland 2014 regie: Johannes naber buch: stefan Weigl Kamera: pascal schmit schnitt: ben von Grafenstein darsteller: devid striesow (Frank öllers), sebastian blomberg (kai niederländer), katharina schüttler (bianca märz), romesh ranganthan (singh), steve ellery (John schernikau), Jaymes butler (vincent akume), Joana adu-Gyamfi (saralina), Warsama Guled (mulatu) länge: 97 min. | FsK: ab 12; f Verleih: farbfilm | Kinostart: 22.5.2014 Fd-Kritik: 42 376

Filmdienst 11 | 2014

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