FILMDIENST 11/2013

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Film dienst

FEST

Kurzfil oberh mtage ausen

Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 23.5.2013

11|2013 PORTRÄT

IVAL

frauenfussbaLL im fiLm

Das Runde muss ins eckige!

Benedict Cumberbatch festigt mit „Star trek: Into Darkness“ seinen Star-Status als Hollywoods neuer Lieblingsbrite

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FIlM als FOrM des denkens

Seiten extra-Heft Alle Filme im tV vom 25. mai bis 7. Juni

Die Kinosprache von Regisseur terrence malick ist bis zu seinem neuen Film „to the wonder“ immer unverwechselbarer geworden. eine Betrachtung der „methode malick“.

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Alle Filme im tV vom 25.5. bis 7.6. Das extraheft

die welt erFÜhlen

Sieht harmlos aus, kann aber auch anders: In „Star Trek: Into Darkness“ bedroht Benedict Cumberbatch die Erde. Ein Porträt des „Mastermind“ unter den britischen Jungstars auf S. 24

Terrence Malicks Filmschaffen ist einzigartig. Seit seinen Anfängen hat er sich einen ganz eigenen Stil erarbeitet und erkundet in seinen Filmen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Von Dominik Kamalzadeh und Michael Pekler

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das runde muss ins eckiGe

Das Versprechen 26.5. sixx

Akteure 20

„das wirkliche leben“ Teenagerschwangerschaften sind ein heikles Thema, das gerne skandalisiert wird. Nicht so von Cornelia Grünbergs Dokumentarfilm „Vierzehn“. Ein Gespräch mit der Regisseurin. Von Stefan Stiletto

Bad Lieutenant von Werner Herzog 1.6. Bayern 3 Abgedreht von Michel Gondry 5.6. arte

23 „Eine andere Liga“

Friedrich wilhelm munraus „nosFeratu“ Magische Momente (8): Die Erfindung des Horrorkinos in einem Klassiker der Weimarer Zeit Von Rainer Gansera

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schlau ist das neue seXy Der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch ist als Hauptdarsteller der Serie „Sherlock“ in seiner Heimat zum Star avanciert. Jetzt wird er verstärkt auch von Hollywood besetzt. Von Felicitas Kleiner

27 mit „to the wonder“ schuf terrence malick ein weiteres Filmjuwel. S. 10

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ray harryhausen Am 7. Mai starb der „König der Monster“. Seine Trickeffekte waren die eigentlichen Stars in zahlreichen Abenteuer- und Science-Fiction-Filmen. Von Rolf Giesen

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

S. 48

Fotos: Titel: © Paramount Pictures 2013. All Rights Reserved. S. 4: Studiocanal, Paramount Pictures 2013. S. 5: nfp; Zorro; arsenal institut; X-Verleih

Mit der wachsenden Popularität des Frauenfußballs ist der Sport auch fürs Kino immer interessanter geworden. Von Kathrin Häger

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Neu im Kino: „Leviathan“ (S. 35)

Neue Filme + alle starttermine

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11 Freundinnen [23.5.] 5 Jahre Leben [23.5.] Algebra in Love [16.5.] Canim Kreuzberg [23.5..] Der Dieb der Worte [23.5.] Epic - Verborgenes Königreich [16.5.] Evil Dead [16.5.] Fidai [16.5.] Freier Fall [23.5.] Der große Gatsby [16.5.]

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s. die wilde zeit

[stArt 30.5.]

Hanni & Nanni 3 [9.5.] Haus Tugendhat [30.5.] Jeder hat einen Plan [23.5.] kinotipp der katholischen Filmkritik

to the wonder

[20.5.]

s. 38 Drama von Terrence Malick

Film-Kunst 28

zurÜck in die zukunFt des Filmemachens Zum 59. Mal haben die Kurzfilmtage Oberhausen im Mai Tendenzen im internationalen Kurzfilmschaffen beleuchtet. So überzeugte der deutsche Wettbewerb mit dokumentarischen Arbeiten. Einige Entdeckungen. Von Kathrin Häger + Werkschauen zum Schaffen von Luther Price und Helga Fanderl Von Claus Löser

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die kommende Kinosaison (Mail aus Hollywood, S. 27)

Kritiken und Anregungen?

36 35 40 43 45 35 40 44 40

Die Lebenden [30.5.] Leviathan [23.5.] Das Mädchen und der Tod [16.5.]

[stArt 23.5.]

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s. mutter und sohn

[stArt 2.5.]

Das Märchen von der Prinzessin [23.5.] Mutter und Sohn [23.5.] Nach der Revolution [30.5.] Die Ostsee von oben [23.5.] playoFF [30.5.] Slow - Langsam ist das neue Schnell

[23.5.] 36 43 39 35 34 43

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s. 5 Jahre leben

The Big Wedding [30.5.] Verwundete Erde [2.5.] Vierzehn [2.5.] Wasted Youth [30.5.] Wilde Zeit [30.5.] Zwei Mütter [30.5.]

rubriken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

3 4 6 27 50 51 51

während die Blockbuster die welt untergehen lassen, geben die Independent-Filme Anlass zur Hoffnung. Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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Seinem Aussehen hat der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch seinen Aufstieg zum internationalen Star eher nicht zu verdanken. Daf端r aber einem bemerkenswerten Talent, sowohl Gentleman- als auch SchurkenRollen mit inneren Br端chen auszustatten. Von Felicitas Kleiner

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ine Nahaufnahme von Benedict Cumberbatch genügt, um zu wissen, dass der Sternenflotte in „Star Trek: Into Darkness“ großer Ärger ins Haus steht. Ein Blick in sein blasses, unbewegtes Gesicht mit den irritierend hellen, stechenden Augen – und schon ist ein charismatischer Bösewicht etabliert, der sich als einer der legendärsten „Star Trek“-Schurken überhaupt entpuppen wird, nämlich als gentechnisch gepimpter Übermensch Khan. Der Schauspieler Benedict Cumberbatch hat in den letzten Jahren einen rasanten Aufstieg erlebt. Seine Rolle im neuen „Star Trek“-Film ist sozusagen sein Mitgliedsausweis für den Club der „Brit evil masterminds“, ohne den Hollywoods Franchise-Filme um ihre besten Schurken ärmer wären. Neben den seltsamen Augen und seiner markanten Stimme qualifiziert ihn dafür seine Fähigkeit, eine arrogant-aristokratische Überlegenheit an den Tag zu legen, die so wirkt, als hätte er die Weltherrschaftsambitionen des britischen „Empire“ ins 23. Jahrhundert hinüber gerettet. Angesichts Cumberbatchs unmenschlich gerader Haltung wirkt Captain Kirk (Chris Pines) wie ein Schluck Wasser, auch wenn sich der Khan gerade ergeben hat und Handschellen trägt. Auf das Image

Benedict Cumberbatch überlegener Upper-Class-Britishness, das der 1976 in London geborene Cumberbatch oft verkörpert, lassen sich seine Figuren freilich nur selten reduzieren: Es sind die Brüche und Widersprüche hinter der Fassade, die seine Rollen interessant machen. Das gilt besonders für den Part, dem Cumberbatch seinen Starruhm verdankt: In der BBC-Serie „Sherlock“ verkörpert er seit 2010 die legendäre Detektivfigur Sherlock Holmes und hat sich damit eine begeisterte Fangemeinde erobert. „Brainy is the new sexy“: So würdigt die Serienfigur Irene Adler Holmes, als sie zum ersten Mal Zeugin von dessen genialischer Kombinationsfähigkeit in der Episode „Ein Skandal in Belgravia“ wird. Diese erzählt von der Begegnung der beiden ebenbürtigen Gegner im Spiel um Wahrheit, Bluff und gegenseitige Anziehung. Dass Cumberbatchs Aktualisierung der Figur tatsächlich so anziehend ist, wie Irene Adler behauptet, fanden auch die Leser des Massenblatts „The Sun“, die ihn kürzlich zum zweiten Mal zum „Sexiest Man“ Großbritanniens kürten. Seinem Aussehen allein hat er das nicht zu verdanken: Cumberbatchs Gesicht ist das, was man einen „Charakterkopf“ nennt, eine nicht gerade harmonische Ansammlung harter Kanten (die Wangenknochen), jungenhaftweichlicher Partien (der Mund, die etwas knubbelige Nase) und der blass-grau-grünblauen Augen. Wenn er dennoch gut aussieht, dann nicht auf die eindeutige Brad-Pitt-Art, sondern auf eine quecksilbrige Tilda-SwintonWeise, die leicht ins Gegenteil umschlagen kann, wenn es eine Rolle verlangt.

kÜhle loGik und obsession

Der eher unschmeichelhafte Vergleich seiner Physiognomie mit dem Faultier Sid aus „Ice Age“, auf den Cumberbatch selbstironisch verwiesen hat, dürfte da den wenigsten in den Sinn kommen. Sein Sherlock Holmes zeichnet sich vielmehr durch eine öfters ins Manische überschwappende Energie und Ruhelosigkeit aus. Seine von beständiger Spannung geprägte Körpersprache ist

Akteure

dafür ebenso verantwortlich wie die schwindelerregenden, maschinengewehrartigen Wortsalven, mit denen er Holmes’ Deduktionsreihen abfeuert – als würde die Figur implodieren, wenn sie den Wortschwall nicht aus sich herauslassen könnte. Reizvoll wirkt Holmes durch seine Gegensätzlichkeit: durch das Ineinander von kühler Logik und Obsessivität, von Selbstbeherrschung und Sucht, von Überlegenheit und unterschwelliger Instabilität. Anders als die kokett-körperbetonte Interpretation von Robert Downey Jr. in den Filmen von Guy Ritchie ist dieser Holmes weniger ein Actionheld als ein leicht irrlichterndes Geschöpf, dessen geistige Schlagkräftigkeit ihr körperliches Pendant nicht in den Fäusten, sondern in Cumberhinweis batchs sonorer, nach Autorität klingender Stimme findet. Arte strahlt am 7.6. und 14.6. die Mini-Serie Der Weg des 37-jährigen „Parade‘s End“ aus, in Schauspielers zu dieser der Benedict Glanzrolle führte nach einer Cumberbatch die Ausbildung an der London Hauptrolle spielt. Das von Tom Stoppard Academy of Music and Drageschriebene, auf matic Art über kleine und große Fernseh- und Kinoauf- Romanen von Ford Madox Ford beruhende tritte. Aufmerksamkeit erund von Susanna White regte er 2004, als er in inszenierte „Period einem BBC-Film eine Rolle Piece“ wird in sechs Teilen präsentiert: spielte, die ähnlich „brainy“ war wie seine spätere 7.6.: Folge 1-3 (20.15 h, Holmes-Figur: die des Physi21.00 h; 21.45 h) kers Stephen Hawking. Ein14.6.: Folge 4-6 (20.15 h; 21.00 h; 21.45 h) drucksvoll auch sein Schurken-Part im Kinofilm „Abbitte“ (2007) von Joe Wright: Cumberbatch spielt den Verführer/Vergewaltiger, für dessen Übergriff auf eine Minderjährige ein anderer ins Gefängnis muss; eine angeberische Figur, deren engherzige Selbstbezogenheit von ihrer großspurigen Fassade kaum kaschiert wird. Seit seinem Einstand als „Sherlock“ häufen sich nun die Rollen in prestigeträchtigen Projekten. Das Jahr 2011 bescherte Cumberbatch Auftritte in Steven Spielbergs „War Horse“, als Teil des illustren All-Star-Casts in Tomas Alfredsons „Dame, König, As, Spion“ sowie eine Hauptrolle in einem Projekt des

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National Theatre: In der Inszenierung einer „Frankenstein“-Bühnenfassung (Regie: Danny Boyle) verkörperten Cumberbatch und Johnny Lee Miller abwechselnd den titelgebenden Doktor und seine monströse Kreatur. Ein exzessiver körperlicher Gewaltakt als eindrucksvoller Gegenpol zu der Verkörperung des „unberührbaren“ Geistesmenschen Sherlock. Auch wenn der Schauspieler in Interviews öfters mit der Festlegung auf das „Upper Class“-Klischee gehadert und von der Arbeit in den USA als mögliche Befreiung davon gesprochen hat, hat er sich für die Mini-Serie „Parade‘s End“ (2012) doch wieder auf einen Gentleman-Part eingelassen: den eines zutiefst konservativen, auf alte Ehrbegriffe

bauenden Yorker Landadligen vor und während des Ersten Weltkriegs. Dieser trauert in einer sich verändernden Welt den Werten der alten feudalen Gesellschaft nach, gerät in Konflikt mit dem, was um ihn herum wirtschaftlich, politisch und sozial vorgeht, und auch mit sich selbst - eine Paraderolle für Cumberbatch. Trotzdem hat er dafür Sorge getragen, auf dem Gentleman-Image nicht sitzen zu bleiben.

drache, necromancer und daten-pirat

Nach seinem Ausflug ins „Star Trek“Universum dürfte seine Karriere weiter Fahrt aufnehmen und interessante Haken schlagen. Auf seinen nächsten Auftritt als Superschurke können sich Tol-

kien-Fans freuen: Für die geisterhafte Gestalt des Necromancer in „Der Hobbit“ lieferte er bereits die CGI-Vorlage; im kommenden Teil der Trilogie wird er zusätzlich dem Drachen Smaug seine unverwechselbare Stimme leihen. Außerdem steht er auf der Besetzungsliste von Guillermo del Toros Horrorfilm „Crimson Peak“. Er gehört neben Michael Fassbender und Brad Pitt zum illustren Cast von Steve McQueens Projekt „Twelve Years a Slave“, und in Bill Condons „The Fifth Estate“ über WikiLeaks-Gründer Julian Assange verkörpert er die Titelrolle. Der Start beider Filme ist für Ende 2013 angekündigt. Bis dahin dürfte auch die dritte Staffel „Sherlock“ fertig sein – und Benedict Cumberbatch wieder in aller Munde.

UK-import: weitere Cumberbatch-Auftritte

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„to the ends of the earth“

„stuart: a life backwards“

„the last enemy“

(BBC-Miniserie, 2005) Cumberbatch als junger Adliger, der 1812 zu einer Reise nach Australien aufbricht.

(2007) Tom Hardy und Cumberbatch in einem Drama um einen Obdachlosen, dessen Abstieg ein Freund begleitet.

(BBC-Miniserie, 2008) Verschwörungsthriller um ein aus Terror-Angst zum Überwachungsstaat mutiertes England.

„third star“ (2010) Ein krebskranker Mann (Cumberbatch) unternimmt mit drei guten Freunden einen letzten Camping-Trip zur walisischen Küste.

„the whistleblower“ (2010) Politthriler (u.a. mit Rachel Weisz, Vanessa Redgrave, David Strathairn) um Frauenhandel in Osteuropa.

„wreckers“ (2011) Cumberbatch spielt einen Mann, der mit seiner Frau in sein Heimatdorf zieht - wo Geheimnisse aus seiner Vergangenheit warten.

Foto: Paramount/Polyband-WVG/Shout! Factory/Timeless Media/Universal UK/mystorm/Revelation Films

Seit „Sherlock“ gehört Benedict Cumberbatch in Großbritannien zum nationalen Kulturgut.

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8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e der große Gatsby

der dieb der worte

[start 16.5.]

[start 23.5.]

Literatur-Verfilmung

Drama

Film dienst

Fünf Jahre leben

Gefängnis-Film

alle neuen Filme

[start 23.5.]

SO WERTET FILMDIENST HAnDweRK

Die Qualität von Regie, Schnitt, Kamera, Musik.

InHALt

Thema und Gehalt der erzählten Geschichte.

DARSteLLeR

Die Leistungen der Schauspieler.

Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte

die lebenden Spielfilm

[start 30.5.]

die wilde zeit von Olivier Assayas [stArt 30.5.] haus tugendhat von Dieter Reifarth [stArt 30.5.] Jeder hat einen plan von Ana Piterbarg [stArt 23.5.]

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die WiLde zeit [30.5.]

Die Schönheit der Revolte

Olivier Assayas erinnert an den Schwung und die Energie in der Zeit nach dem Mai 1968 Musik spielt in Olivier Assayas’ „Die wilde Zeit“ eine zentrale Rolle. Im Original trägt der Film den Titel „Après Mai“, international wird er als „Something in the Air“ verliehen. Es lohnt sich, über die unterschiedlichen Zeitlichkeiten dieser drei Titel einmal nachzudenken, wobei der englische Titel dem Flair des Films am Nächsten kommt. „Après Mai“ erzählt die Geschichte einer Gruppe junger Menschen in den Nachwehen jenes mythischen „Mai 68“, als die Revolution zum Greifen nahe schien. Im Jahr 1971, in dem Assayas’ Film spielt, steht der radikale Umsturz des Bestehenden längst nicht mehr auf der Tagesordnung; etwas Revolte liegt dennoch in der Luft. Sehr anschaulich setzt Assayas (Jahrgang 1955) die diversen Suchbewegungen der Post-68er-Jahre zwischen Straßenkampf, Betriebsarbeit, Terrorismus, Underground-Publizistik, Künstler-Existentialismus, Drogenrausch und Hippie-

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Trail nach Kabul in Szene. Zur souverän kompilierten und von Autobiografischem zeugenden Musik von Syd Barrett, Soft Machine, Tangerine Dream, The Incredible String Band und Kevin Ayers begegnet man Anarchisten, Maoisten, Trotzkisten und Situationisten, die ihre ideologischen Differenzen erst allmählich zu erkennen geben. Wenn man ihnen denn neugierig zuhört. Zugleich erzählt der Film fast schon pastoral einige Liebesgeschichten, die aufs engste mit dem politischen Bewusstsein der Akteure verknüpft sind. Allerlei bedeutsame Fragen stehen im Raum: „Wie positionierst du dich?“ Oder: „Braucht der richtige politische Inhalt nicht auch eine entsprechende revolutionäre Syntax?“, „Oder ist allein schon diese Frage ein Ausdruck kleinbürgerlicher Ideologie?“ und „Wie hat Kunst auszusehen, die die Massen erreicht?“ Assayas, der über seine Erfahrungen jener Zeit einen

längeren Text mit dem Titel „A Post-May Adolescence. Letter to Alice Debord“ verfasst und in Interviews immer wieder betont hat, dass „Après Mai“ auf autobiografische Erfahrungen zurückgreife, begegnet seinen Glückssuchern und Revoluzzern mit größter Sympathie. Genau darin liegt die besondere Qualität seines Films, der untergründig mit Bressons „Der Teufel möglicherweise“ und Philippe Garrels „Les amants reguliers“ kommuniziert. Zwar registriert Assayas auch Posen, Irrtümer, falsches Pathos und erschöpfte Ratlosigkeit, Selbstkritik und Scheitern, aber grundsätzlich sind seine Figuren

beseelt von der Hoffnung, es gebe ein richtiges Leben im falschen. Es ist geradezu schmerzhaft, diesen Anachronismus im Kino zu erleben, angesichts des aktuellen Pragmatismus und einer umfassenden Affirmation des Bestehenden. Dass der aktionistische Schwung und die Energie des gegenkulturellen Aufbruchs auf Dauer nicht zu halten sind, zeigt sich auch darin, dass Lücken in der Narration immer wieder Figuren verschwinden und auftauchen lassen. Dieses Mäandern birgt Überraschungen. Denn wer gerade noch von einer spirituellen Erfahrung in Indien träumte und dorthin aufbrach, wird

APRÈS MAI. Frankreich 2012

(Alain), Carole Combes (Laure), India Salvor Menuez (Leslie), Hugo Conzelmann (Jean-Pierre), Mathias Renou (Vincent)

Regie, Buch: Olivier Assayas Kamera: Eric Gautier

Länge: 122 Min. / FSK: ab 12; f

Schnitt: Luc Barnier Darsteller: Clément Métayer (Gilles), Lola Créton (Christine), Félix Armand Handwerk

InHalt

Verleih: nfp / Start: 30.5.2013 FD-Kritik: 41 716 darsteller

Ausführliche Kritiken zu jedem Film online unter www.filmdienst.de

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Fotos: Jeweilige Filmverleiher

im Kino vielleicht dann doch „nur“ ein Kunsthandwerker, der das herrschende System mit Deko-Ware beliefert. Dem Maoisten von vorgestern werden die vielen Niederlagen und Desillusionierungen zu viel, weshalb er für die Strategie des bewaffneten Widerstands plädiert, Taten sehen will und sich dazu jüngere Aktivisten sucht. Die Hauptfigur Gilles will Künstler sein, hadert immer wieder mit den Zumutungen der Politik, entdeckt den Situationismus und landet schließlich in den Londoner Pinewood Studios, wo gerade ein trashiger B-Film mit Urzeitmonstern, halbnackten Mädchen und Nazis gedreht wird. Assayas zeigt auch dies ohne Häme und ohne die Lust an der Denunziation, die deutschen Filmen über jene verwirrende Zeit so enervierend und unpolitisch eingeschrieben scheint. In „Après Mai“ dienen bestimmte Sätze oder Haltungen niemals als „Beweismaterial“, um eine möglichst vollständige Kulisse zu etablieren, sondern sie zeigen Figuren im Fluß einer Entwicklung, die sich nur dann erschließt, wenn man genau hinhört. So kursiert hier beispielsweise einmal ein kritisches Buch über die chinesische Kulturrevolution, vor dem gewarnt wird, weil es sich angeblich um CIA-Propaganda handle. Später werden die maoistischen Parolen auch ohne Hilfsmittel als fadenscheinig durchschaubar. Die Verschränkung des großen epischen Bogens mit den kleinen, atmosphärischen Momenten rekonstruiert eine umfassende Suchbewe-

gung, die das Private mit dem Politischen in Gleichklang zu bringen versucht. Die Mühen der Ebene mögen dabei in eine linke Melancholie münden, doch nur aus heutiger Perspektive ist die Bemerkung erlaubt, dass der Film desillusionierend sei. Man könnte die aktuelle Debatte um Daniel CohnBendit zur Illustration hinzuziehen: Wo es in der deutschen Diskussion (mit Ausnahme von Christopher Roths „Baader“) nur darum zu gehen scheint, aus einer Position der hoffähigen Mittelmäßigkeit Abbitte für historische Irrtümer einzuklagen, würde Assayas versuchen, das Flair filmisch einzufangen, aus dessen Geist „Der große Basar“ geschrieben wurde. Ein Stoff wie „Das Wochenende“ ist selbstgefällige Besserwisser-Kolportage aus der Retrospektion. „Die wilde Zeit“ schwärmt nicht ohne Melancholie, aber fröhlich von der Frische des jugendlichen Lebendigseins. Ulrich Kriest

BeweRtUnG DeR FILmKommISSIon In den frühen 1970er-Jahren sucht eine Gruppe französischer Studenten, beflügelt von der 1968er-Revolte, nach Wegen, die eigenen Ideale zu leben. An seinen Film „Cold Water“ ( 1994 ) anschließend, entwirft Olivier Assayas ein liebevolles Stimmungsbild, bei dem er sich eindrucksvoll auf seine eigene politische, künstlerische, literarische und musikalische Sozialisation bezieht. Klug, zärtlich und zugleich höchst differenziert beschreibt er den Optimismus jener Epoche. - Sehenswert ab 14.

neue Filme

LeViathan [23.5.] Entfesseltes Porträt eines industriellen Fischereiboots vor Neuengland. Benannt nach dem alttestamentarischen Seeungeheuer, ist „Leviathan“ selbst eine Art filmisches Monster, heftig, grausam und schön. Die Perspektiven sind so zahlreich wie die Kameras: Hier sehen nicht nur Menschen auf Tiere, Dinge und Natur – auch einem Fischereinetz oder dem Wasser wird eine subjektive Sicht zugewiesen. Eine innovative, experimentelle Form der Kollaboration von Mensch, Tier, Natur. – Ab 14. USA/GB/F 2012 / R: Lucien Castaing-Taylor / 87 Min. / FD-Kritik 41 717

naCh der reVoLution [30.5.] Er ist ein mittelloser Reiter bei den Pyramiden von Gizeh, der im Auftrag Mubaraks Demonstranten verprügelt, sie ist eine aufgeschlossene Medienfrau aus dem Mittelstand, die für den „arabischen Frühling“ kämpft. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe, dramaturgisch arg holpernd, durch die Verknüpfung semi-dokumentarischer und melodramatischer Szenen aber ein vielschichtiges Panorama des postrevolutionären Ägyptens. Ein authentischer Blick auf den Umbruch.– Ab 14. Frankreich/Ägypten 2012 / R: Yousry Nasrallah / 129 Min. / FD-Kritik 41 718

aLgebra in LoVe [16.5.] Auf dem Campus einer Elite-Universität kämpft ein Trio parfum- und tanzbesessener Studentinnen mit ungewöhnlichen Waffen für die Verbesserung der Welt. Eine Verbeugung vor klassischen Hollywood-Musicals, unterwandert von schrulligem Charme und brillant komischen Dialogen. Der Film ist die lang erwartete Rückkehr von Whit Stillman, der sich in den 1990er-Jahren einen Namen als Chronist der gehobenen, urbanen Bourgeoisie gemacht hat. – Ab 14. USA 2011 / R: Whit Stillman / 96 Min. / FSK: ab 6; f / FD-Kritik 41 719

Wasted youth [30.5.] Ein 16-Jähriger entkommt den Erwartungen seiner Eltern durch die Flucht in eine Athener Skater-Gang. Parallel dazu wird die Geschichte eines ausgelaugten Streifenpolizisten erzählt. Irgendwann kreuzen sich beider Wege, mit tragischen Folgen. Ein rasant und geradlinig inszenierter Skater-Film, dessen Protagonisten fremd bleben. Trotz durchdachter Bildarrangements misslingt die erzählerische Balance; auch das angezielte Psychogramm der griechischen Gesellschaft läuft leer. – Ab 14. Griechenl. 2011 / R: Argyris Papadimitropoulos, Jan Vogel / FD-Kritik 41 720

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