Filmdienst 12 2014

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FILM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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cannes höhepunkte & entdeckungen beIm wIchtIgsten fIlmfestIval

„Boyhood“ rIchard lInklater drehte eIne fesselnde langzeItgeschIchte

gÖtZ spielmann IntervIew mIt eInem der spannendsten autorenfIlmer österreIchs

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5. Juni 2014 € 4,50 67. Jahrgang

eMotIonen & spannung, sIeger & VerLIerer, ungerechtIgkeIten & unwägbarkeIten: FussbaLL unD kIno VerbInDet Mehr aLs Man Denkt. eIn kLeInes breVIer anLässLIch Der FussbaLL-wM.

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Akteure

Kino 22

gÖtZ spIeLMann Im vielschichtigen Drama „Oktober November“ wirft der österreichische „Revanche“Regisseur zwei Schwestern in eine Identitätskrise. Ein Gespräch über Spiritualität und das Loslösen von Arthouse-Erzählstrukturen. Von Ulrich Kriest

cannes

Alle Filme im tV vom 7.6. bis 20.6. Das extraheft Das geheimnis von Kells 9.6. 3sat The guard 14.6. einsfestival This Ain‘t California 17.6. Das Erste

Dass sich nur zwei Regisseurinnen im von etablierten Filmemachern dominierten Wettbewerb finden ließen, sorgte an der Croisette nicht gerade für frischen Wind. Ein Überblick über das wichtigste Filmfestival der Welt, das gut daran täte, neue Wege zu beschreiten. Von Josef Lederle + Interview mit Angela Schanelec zu ihrem Beitrag im Omnibus-Film „The Bridges of Sarajevo“ + Perlen aus „Un Certain Regard“

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grosse geFÜhLe

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rIcharD LInkLater Zwölf Jahre Drehzeit für „Boyhood“ bescherten Linklater kleine Zitterpartien, dem Zuschauer aber großartige Einblicke in den Prozess des Heranwachsens. Der US-Regisseur der „Before“-Trilogie im Interview. Von Margret Köhler

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In MeMorIaM Der herausragende Grafiker Hans Hillmann prägte die deutsche Filmplakatkunst. Schauspielerin Cornell Borchers bereicherte in den 1950er-Jahren das Hollywood-Kino. Zwei Nachrufe.

Das Runde macht sich gut im Eckigen, zumindest wenn man manch fiktive und dokumentarische Liaison betrachtet, die die rechteckige Leinwand schon mit dem Fußballsport eingegangen ist. Sechs Vignetten von Fußballfilmemachern und ein Streifzug. Von Dietrich Leder

der kampf der Füße um den ball lässt die herzen von Fußballfans höher schlagen. auch im kino macht der rasen als schauplatz eine gute Figur wie in „die elf teufel“ (1927).

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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Fotos: TITEL: Edition Filmmuseum. S. 4/5: Edition Filmmuseum, Filmfestival Cannes, Kurzfilmtage Oberhausen, MFA, Universal, Twentieth Century Fox, EZEF

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Neue Filme

Film-Kunst

+ aLLe startterMIne

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kurZFILMtage oberhausen JubILäuM: FILM ohne FILM

Fotos: TITEL: Edition Filmmuseum. S. 4/5: Edition Filmmuseum, Filmfestival Cannes, Kurzfilmtage Oberhausen, MFA, Universal, Twentieth Century Fox, EZEF

Das Spezial zum 60. Jubiläum der Oberhausener Kurzfilmtage drehte sich um Filme, die sich von gängigen Bilderflüssen emanzipieren. Historische und fürs Festival konzipierte Performances spürten dem „filmlosen Film“ nach. Von Claus Löser

47 A Million Ways to Die in the West [29.5.] 46 Angélique [12.6.] 36 Boyhood [5.6.] 47 Brick Mansions [5.6.] 40 Chasing the Wind [12.6.] 41 Edge of Tomorrow [29.5.] 39 Einmal Hans mit scharfer Soße [12.6.] 43 Die Fliege in der Asche [5.6.] 45 Harms [12.6.] 47 love & Engineering [5.6.] 37 Maleficent - Die dunkle Fee [29.5.] 44 Maman und ich [5.6.] 38 Meteora [12.6.] 47 Noseland [12.6.]

Die Jugendzeit kann sich so unterschiedlich entwickeln wie die menschen, die sie ins erwachsenenalter entlässt: wohlbehütet und doch torpediert von der Scheidung der eltern in „Boyhood“ oder von den schrecklichen erfahrungen der Zwangsprostitution in „Die Fliege in der Asche“. „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ wiederum erzählt von einer ersten Liebe nach der Krebsdiagnose.

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s. boYhooD

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kurZFILMtage oberhausen: Deutscher wettbewerb

kinotipp

Hipster auf der Landflucht, Wildgetier in Betonwüsten und der Stereoblick auf ein fantasievolles und kompromissloses Bilder-Tableau als Gewinnerfilm prägten den Wettbewerb. Von Kathrin Häger

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MagIsche MoMente So lustvoll und gesundheitspolitisch inkorrekt wie in Howard Hawks’ „The Big Sleep“ wurde im Kino selten geraucht. Vom Knistern zwischen Bogart und Bacall in dem Noir-Thriller der 1940er-Jahre. Von Rainer Gansera

der katholischen Filmkritik

34 Oktober November [12.6.] Drama von Götz Spielmann

47 Peaches does Herself [2.6.] 42 Das Schicksal ist ein mieser Verräter [12.6.] 35 Sieniawka [5.6.] 39 TinkerBell und die Piratenfee [12.6.] 39 urlaubsreif [22.5.] 39 Vielen Dank für nichts [5.6.] 47 What is left? [12.6.] 47 Willkommen bei Habib [5.6.]

hollywood-korrespondent Franz Everschor über die armada von marvel-Figuren, die der konkurrenz im blockbuster-sommer das Wasser abgraben soll.

Comic-Filme beherrschen den Sommer

Kritiken und Anregungen?

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s. Das schIcksaL Ist eIn MIeser Verräter

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s. DIe FLIege In Der asche

rubrIken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood DVD-Perlen Vorschau Impressum

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EMOTIONEN, SPANNUNG, SIEGER & VERLIERER: FUSSBALL & KINO

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Während der Fußball-WM wird es nicht viele Orte geben, an denen man vor dem „Event“ sicher ist – und selbst manches Kino wird die Spiele „live“ auf die Leinwand projizieren. Was natürlich eine klare „gelbe Karte“ fürs Kino als cineastischer Erlebnisort ist! Doch irgendwie gehörten Kino und Fußball schon immer zusammen. Von Dietrich Leder

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Mit der Fußball-Weltmeisterschaft erwächst dem Kino in den nächsten Wochen eine scharfe Konkurrenz. Die Live-Übertragungen aus Brasilien werden viele Millionen Zuschauer so in den Bann ziehen, dass sie an keinen Kinobesuch mehr denken. Und doch verbindet Kino und Fußball einiges: das Breitformat, die durchschnittliche Dauer von 90 Minuten, die Handlungsorientierung, die Dynamik und die Präsenz von Körpern, die Spannung auf den Ausgang, retardierende Momente, Stars. Anderes unterscheidet sie voneinander: Während der Handlungsverlauf im klassischen Spielfilm durchgeplant ist, zeichnen sich Fußballspiele durch eine hohe Unbestimmtheit aus, da viele Faktoren (Spieler, Schiedsrichter, Trainer, Zuschauer) den Ausgang mitbestimmen. Niemand weiß, wie ein Spiel ausgeht – es sei denn, er hätte es manipuliert, also nach einem durch Wetteinsatz bedingten Szenario beeinflusst und damit inszeniert. Selbstverständlich werden Erwartungen beim Fußball nicht immer enttäuscht. Favoritensiege stellen sich häufiger ein als Triumphe der Underdogs, was man mit dem Wissen vergleichen kann, wie beispielsweise ein Genrefilm endet. Doch gewiss darf man sich nicht sein. Das lässt Spiele selbst dann als bedeutsam erscheinen, wenn sie über weite Strecken langweilig waren, aber am Ende noch Tore zeitigten. Einem Kinofilm, der nach 85 Minuten Langeweile mit einem dramatischen Schluss aufwartet, würde man das nicht durchgehen lassen. Fußball und Kino entstammen dem späten 19. Jahrhundert, und beide galten lange als eher proletarisches Vergnügen. So begegneten sie sich früh. Die älteste Filmaufnahme eines Fußballspiels wird auf das Jahr 1898 datiert, als Arthur Cheetham ein Spiel der Blackburn Rovers aufnahm. Er hatte die Kamera „leicht erhöht hinter einem der beiden Tore“ aufgestellt, schreibt Jan Tilman Schwab in seinem vorzüglichen Lexikon „Fußball im Film“, das im Jahr 2006 erschien. Bis zum Aufkommen des Fernsehens in den 1950er-Jahren waren es solche dokumentarischen

Aufnahmen wichtiger Spiele, die beispielsweise in Wochenschauen den Kinozuschauern eine Anschauung dessen gaben, wie sich die jeweilige Begegnung entwickelt hatte und wie die Tore fielen. Zu den ersten deutschen Spielfilmen, die sich des Fußballs annahmen, zählt „Die elf Teufel“ von Zoltan Korda (1927). Hier muss sich ein Spieler zwischen zwei Vereinen und zwei Frauen entscheiden. Ein Handlungsschema, dem auch „Das große Spiel“ folgt, den Robert A. Stemmle 1942 während der Nazi-Zeit drehte und an dem als Fachberater Sepp Herberger mitwirkte. Diesem Film gelingt halbwegs, was vielen anderen Fußball-Spielfilmen misslingt: die Inszenierung eines entscheidenden Fußballspiels, das zudem in Farbe gezeigt wird, während der Film in Schwarz-Weiß zu sehen ist. Seitdem sind viele Fußball-Spielfilme produziert worden. Sie kranken oft daran, dass die ausgewählten Schauspieler nicht Fußball spielen können – oder die Fußballer schauspielerisch versagen. Sönke Wortmann suchte deshalb lange, eher er jene jungen Männer gefunden hatte, die in seinem Film „Das Wunder von Bern“ (2003) die Spieler der deutschen Nationalmannschaft von 1954 darstellten, die in der Schweiz den ersten Weltmeistertitel für Deutschland holte. Für viele Fußball-Spielfilme typisch ist die Einführung eines Zeitungsreporters, der die Ereignisse in der Schweiz für den Zuschauer zusammenfasst. Auch die Ehefrau dieses Journalisten übernimmt eine bekannte Funktion, als sie von der Fußball-Gegnerin zum Fan mutiert und diejenigen in den Film hineinzieht, die sich bislang für den Sport

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nicht interessierten. Auch die Funktion von Archivalien wie dem Rundfunkkommentar des Endspiels von Herbert Zimmermann, der bei Wortmann von einem Schauspieler nachgesprochen wird, ist bekannt – es gilt, die Authentizität der Nachinszenierung der entscheidenden Momente des Endspiels zu betonen. Man kann die melodramatische Konstruktion von „Das Wunder von Bern“ kritisieren, loben muss man die Qualität der Fußballszenen, die filmisch wie sportlich gelungen sind. Gleiches gilt für den sicherlich schönsten Fußball-Spielfilm, „Fimpen, der Knirps“ von Bo Widerberg (1973), in dem ein kleiner Junge zum Spieler der schwedischen Nationalmannschaft wird, ehe er dann doch lieber mit seinem Baukasten spielt und seine Profikarriere beendet. Die Qualität von Dokumentarfilmen über Fußball hingegen erweist sich in der Nähe zu den Protagonisten. Im einfachen Wortsinne beispielsweise im legendären Film „Fußball wie noch nie“, für den Hellmuth Costard 1970 ein Spiel lang ausschließlich den Spieler George Best in einer Begegnung von Manchester United gegen Coventry City mit mehreren Kameras beobachtete; ein Konzept, das Douglas Gordon und Philippe Parreno 35 Jahre später für ihren Film „Zidane: A 21st Century Portrait“ übernahmen und durch eine ausgeklügelte Soundkulisse radikalisierten. Oder im übertragenen Sinne, wenn man in „Profis“ von Christian Weisenborn und Michael Wulfes (1979) den Wandel von Uli Hoeneß vom Spieler zum Manager auf eine Weise miterlebt, dass man seine Persönlichkeitsstruktur inklusive seiner Begeisterung für Geldgeschäfte zu verstehen meint. Vom Kino hat das Fernsehen für seine Live-Übertragungen viele visuelle Attraktionen (Fahrten, Spidercam, extreme Aufsichtsbilder, Schnittfrequenz) übernommen. Fußball im Fernsehen wurde so filmischer, was ihn mitunter zum billigen Melodrama werden ließ – vielleicht eine Rache des Kinos dafür, dass der Fußball im Fernsehen ihm in den nächsten Wochen die Zuschauer nimmt.

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neue Filme

im Kino

Wie eine Oase der Ruhe und des Friedens schaut der kleine Waldsee aus, in dem sich die österreichischen Alpen spiegeln. Schon als Kind saß Sonja stundenlang allein auf einer Bank an diesem Weiher, um zur Besinnung zu kommen und sich mit der Welt zu versöhnen. Auch als Erwachsene zieht es sie in Krisenzeiten immer wieder dorthin. Dass an diesem späten Herbsttag schon jemand an ihrem geheimen Erholungsplatz sitzt, stört sie nicht, kommt ihr sogar gelegen: Denn auch Andreas passt nicht in den ausgestorbenen Flecken, in den sich noch nicht mal mehr Touristen verirren – er ist gebildet, aber als Dorfarzt unterfordert, und offenbar völlig allein und ungebunden. Sonja wittert hinter Andreas’ Gleichmut eine vergleichbar einsame Seele. So startet sie einen kleinen Flirt – ohne zu ahnen, dass der Arzt eine Affäre mit ihrer älteren Schwester Verena hat, in der Sonja bei aller Liebe nie mehr als eine brave Hausfrau und Mutter gesehen hat.

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Oktober November Ein furioses Drama um zwei konträre Schwestern Trügerische Idyllen und Illusionen über das Leben sind das große Thema des österreichischen Regisseurs Götz Spielmann, der mit „Oktober November“ sechs Jahre nach dem grandiosen Thriller „Revanche“ erstmals wieder einen Film ins Kino bringt. Keine der Figuren ist, wofür die anderen sie halten und was sie selbst zu sein vorgibt: Nicht Sonja, die erfolgreiche Schauspielerin, die vor der Kamera die eiskalte Verführerin mimt, im wahren Leben aber nach dem Ende einer unglücklichen Beziehung psychisch labil und von der ganzen Hohlheit des Filmgeschäfts angewidert ist. Nicht Verena, die widerspruchslos den väterlichen Gasthof übernommen hat, diesen aber ohne Leidenschaft führt und in ihrem Leben auch gern etwas von der Welt gesehen hätte. Und selbst der alt

gewordene Familienpatriarch nicht, der angesichts des nahen Todes auf einmal so mit sich, Gott und dem Kosmos im Reinen ist, dass die Schwestern ihren sturen Vater kaum wiedererkennen. Wie schon in seinen früheren Werken nimmt sich Spielmann auch diesmal wieder die Zeit, seinen Figuren zunächst separat zu folgen, um sie sorgfältig und mit einem traumwandlerisch sicheren Blick für markante Details charakterisieren zu können. So zeigt zum Beispiel eine Reihe von Szenen aus ihrem Berufsalltag Sonja stets mit dem gleichen eingefrorenen Lächeln, was anfangs nicht mehr als eine nichtssagende Geste zu sein scheint. Allmählich kristallisiert sich aber heraus, dass es in Wahrheit eine Schutzmaßnahme ist: Außerhalb ihrer Arbeit verspürt Sonja panische Angst und würde

sich am liebsten vor der ganzen Welt verstecken. Eine Rolle, für die sich Nora von Waldstätten mit ihrer katzenhaften Aura von Undurchschaubarkeit ebenso als ideale Besetzung erweist wie Ursula Strauss den Part der Verena in einer souveränen Mischung aus leicht verbitterter Bodenständigkeit und innerlich lodernder Glut anlegt. Wenn sie sich auf geheimen Waldwegen zum Rendezvous mit Andreas geschlichen hat, vergeht sie sichtlich vor Nervosität und ist doch fest entschlossen, nicht auf die Treffen zu verzichten. Die geheime Affäre ist für sie der einzige Weg, sich mit dem Provinzleben zu arrangieren – verständlich, dass sie sich von ihrer Schwester, die den Ausbruch geschafft hat, nicht um diese raren Glücksmomente bringen lassen will. Denn über beider Leben schwebt weiterhin der Übervater, den Peter Simonischek zu Anfang glaubhaft als Macherpersönlichkeit interpretiert, die zeitlebens auf die eigene Stärke vertraut hat, um dann mit verlangsamter Sprachmelodie und sparsameren Gesten auf anrührende Weise Altersmilde auszustrahlen, nachdem der alte Mann bei einem Herzinfarkt eine Nahtod-Erfahrung gemacht hat. Sein absehbares Sterben vereint nicht nur die beiden Schwestern wieder, es wird auch eine spirituelle Ebene in den Film eingeführt, die im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffen wird – etwa mit einer wie vom Himmel geschickten Pilgergruppe, die das verwaiste Gasthaus belebt –, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Spielmann maßt sich keinerlei Urteil über die letzten Dinge an und bleibt bis zum Schluss ein aufmerksamer, aber niemals wertender Beobachter. Die durchgehende Kälte der Kamerabilder von Martin Gschlacht bei der Aufnahme der Innenräume und der Verzicht auf emotionalisierende Filmmusik kon-

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trastieren nicht nur mit der Schönheit der herbstlichen Alpen-Panoramen, sondern vor allem auch mit der menschlichen Wärme, die sich im Verhalten beider Schwestern am Krankenbett immer klarer offenbart. Spielmann setzt so konsequent und künstlerisch schlüssig die Route fort, die er mit „Revanche“ eingeschlagen hat: weg von der pessimistischen Stimmung früherer Werke wie „Antares“, hin zu einer vom Glauben an die Menschlichkeit durchdrungenen Abbildung kleiner Gemeinschaften, bei der die Versöhnung das einzig logische Ende darstellt. Marius Nobach

Sieniawka Kryptisch, aber faszinierend: Ein postapokalyptisches Drama aus Polen

BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

Der bevorstehende Tod ihres alten Vaters führt zwei Schwestern wieder zusammen, die sich im Lauf der Jahre fremd geworden sind, weil sie völlig unterschiedliche Wege im Leben eingeschlagen haben. Ein mit meisterlicher Ruhe und Detailgenauigkeit inszeniertes Familiendrama mit eindrücklich charakterisierten, hervorragend gespielten Hauptfiguren. Die formale Strenge der Innenaufnahmen und der Verzicht auf Musik kontrastieren reizvoll mit der Naturkulisse und der im Kern optimistischen Stimmung des Films, die unaufdringlich auch eine spirituelle Ebene miteinbezieht. - Sehenswert ab 14.

Österreich 2013 Regie, Buch: Götz Spielmann Kamera: Martin Gschlacht Schnitt: Karina Ressler Darsteller: Nora von Waldstätten (Sonja), Ursula Strauss (Verena), Peter Simonischek (Vater), Sebastian Koch (Andreas), Johannes Zeiler (Michael), Andreas Ressl, Sebastian Hülk, Samuel Finzi Länge: 114 Min. | FSK: ab 12; f Verleih: MFA | Kinostart: 12.6.2014 FD-Kritik: 42 401

Im Morgengrauen transportieren zwei Männer einen in rosa Zeltplane eingewickelten Körper auf einer Schubkarre und legen ihn vor dem Eingang eines gebäudes ab. Szenenwechsel: Auf freiem Feld steht eine seltsame, weiß gekleidete Gestalt, den Kopf unter einem schweren Helm verborgen, und schaut auf eine karge zerrissene Landschaft. Szenenwechsel: Ein alter Mann stolpert in einer weißen Zwangsjacke durch den Wald. Ein anderer bietet ihm an, in seinem Zelt zu schlafen. Aber von seinen Fesseln lösen möchte er ihn nicht, denn er hat Angst, bestohlen zu werden. Sieniawka ist ein kleiner Ort im Süden Polens, nahe der deutschen und der tschechischen Grenze. Eine postapokalyptische Szenerie, gezeichnet von Tagebau und Hochwasser. Die verfallenen Bauten der einstigen Volksrepublik und verkommene Eigenheime schaffen eine triste postkommunistische Kulisse. Die rudimentäre Spielhandlung des Films führt in eine verwahrloste psychiatrische Anstalt, in der die Insassen im

Halbdunkel vor sich hin vegetieren, irgendwo zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Mit ihren zerfurchten und teils abgestumpften Gesichtern bilden sie das Pendant zur zerrissenen Landschaft drumherum. Der polnisch-deutsche Regisseur Marcin Malaszczak hat bei seinem ersten abendfüllenden Spielfilm selbst die Kamera geführt und dabei beeindruckende und mitunter verstörende Bilder geschaffen, teils stilisiert, teils dokumentarisch, wie aus der Distanz aufgenommen: Im Aufenthaltsraum der Anstalt spielt ein alter Mann auf dem verstimmten Klavier und singt dazu, schief und falsch. Um ihn herum dösen andere Insassen der Klinik, in einer Art Wartesaal des Sterbens, mit seinen täglichen Ritualen: Essen, Rauchen, Schlafen. Gierig finden sich alle im Essensraum zusammen, wenn die Suppe aus Eimern heraus verteilt wird. Sonst leben die Männer nebeneinander her, auf engem Raum gibt es wenig Kontakt. Aber die Innenwelt, der graue Alltag der Anstalt und die Außenwelt mit weißen Bäumen im Sonnenlicht sind nur scheinbare Gegensätze. Auch wenn man am Ende denkt, der Protagonist des Films, der durch beide Welten irrt, fände nach dem traurigen Halbdunkel der Irrenanstalt ein halbwegs normales Dorf vor, belehren einen die Bilder schnell eines Besseren. Auch im Sonnenschein sieht Sieniawka aus wie ein von bösen

Dämonen verwüstetes Märchenland: geborstene Brücken, ein umgestürztes Fachwerkhäuschen und zerrissene Hausfassaden. Als leises, postapokalyptisches Drama führt „Sieniawka“ den Zuschauer über zwei Stunden lang in eine ebenso bedrückende wie verwirrende Traumzone, in kreisförmigen und tranceartigen Bewegungen, enigmatischen Bildern und Dialogen. Doch hilft das, was gesprochen wird, nicht dabei, die Bilder zu verstehen; sie bringen vielmehr eine eigene poetische Absurdität in den Film. „Sieniawka“ ist kein einfacher Kinogenuss, aber wenn man sich einmal auf ihn einlässt, wird man unweigerlich von seiner ganz eigenen Atmosphäre gefangen genommen. Wolfgang Hamdorf

BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

Dokudrama mit einer episodischen, rudimentären Spielhandlung, angesiedelt in einem kleinen polnischen Ort nahe der deutschen und der tschechischen Grenze, dessen prägnantestes Gebäude eine psychiatrische Anstalt ist. Bilder einer postapokalyptischen Landschaft voller Ruinen werden Menschen gegenübergestellt, die kaum weniger abgestumpft wirken. Der bedrückende, schwer zu entschlüsselnde Film erfordert die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers, der vor allem dank der vorzüglichen Kameraarbeit eine Atmosphäre von traumähnlicher, poetischer Absurdität erlebt. – Ab 16.

Deutschland/Polen 2013 Regie, Buch, Kamera: Marcin Malaszczak Schnitt: Stefan Stabenow, Maja Tennstedt Darsteller: Stefan Szyszka (Stefan), Stanislaw Cheminski (Stanislaw), Ryszard Ciurus (Ryszard), Tomasz Czlonka (Tomasz), Kazimierz Duchaczek (Kazimierz), Tadeusz Gubala (Tadeusz), Robert Gajowy (Robert) Länge: 126 Min. | Start: 5.6.2014 Verleih: arsenal institut | FD-Kritik: 42 402

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