Filmdienst 12 2017

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CANNES

fIlM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur

12 2017

D i e H ö H e p u n kt e D e s 70. F e st i va l s

EugEN RugE D e r s c H r i F t st e l l e r u n D Da s k i n o

BJØRN MELHuS e i n sta r u n t e r D e n M e D i e n kü n st l e r n

ZuSCHAuERgEfüHLE Wir sitzen versunken

www.filmdienst.de 8. Juni 2017 € 5,50 | 70. Jahrgang

iM kinosessel unD sinD au F g e W ü H lt, v e r ä n g st i gt, a M ü s i e r t, z u t r ä n e n g e r ü H r t. e i n e p H ä n o M e n o lo g i e D e s F ü H l e n s


iNhalt DIe NeueN KINOfIlMe Neu im KiNo

42 born to be blue

39

Marie und die Schiffbrüchigen

38

the dinner

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veloce coMe il vento

36 loving

KiNotipp

der katholischen Filmkritik

Einfühlsames Drama um ein Paar, das gegen die Rassentrennung für seine Liebe kämpft

ferNseh-tipps 56 „Woran glaubst du?“ fragt eine ARDThemenwoche und bietet in Spiel- und Dokumentarfilmen unerwartete Antworten an. Themenabende auf 3sat und arte beschäftigen sich mit den mythen um Ingrid Bergman und Cary Grant.

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Fotos: TITEL: Claudius Beutler. S. 4/5: UPI, Alamode, déjà-vu film, Tobis, missingfilms, Weit, Claudius Beutler

+ ALLE STARTTERmInE 47 Das Belko Experiment 15.6. 47 Bob der Baumeister - Das Mega Team - Der Kinofilm 15.6. 42 Born to be Blue 8.6. 51 Drei von Sinnen 15.6. 44 Hilfe, unser Lehrer ist ein Frosch! 15.6. 40 Ich wünsche dir ein schönes Leben 15.6. 45 Ein Kuss von Béatrice 8.6. 36 Loving 15.6. 49 Mädelstrip 15.6. 49 Mann im Spagat 8.6. 47 Maria Mafiosi 15.6. 39 Marie und die Schiffbrüchigen 8.6. 47 Mein neues bestes Stück 8.6. 51 Miraç 25.5. 49 Plan B 8.6. 51 Pottkinder – ein Heimatfilm 18.5. 46 Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes 8.6. 38 The Dinner 8.6. 41 Veloce come il vento – Giulias großes Rennen 8.6. 37 Die vergessene Armee 8.6. 50 WEIT. Die Geschichte von einem Weg um die Welt 8.6. 43 Whitney – Can I be Me 8.6. 48 Der wunderbare Garten der Bella Brown 15.6.


12 | 2017 DIe arTIKel iNhalt

RUBRIKEN EDITORIAL 3 InHALT 4 mAGAZIn 6 DVD-KLASSIK 34 DVD/BLU-RAY 50 TV-TIPPS 56 FILmKLISCHEES 66 VORSCHAU / ImPRESSUm 67

„Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt«

KiNo

aKteure

filmKuNst

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25 Steve coogan

27

eMotion deS betrachterS

10 ZUSCHAUERGEFÜHLE

22 EUGEN RUGE

e-Mail auS hollYWood

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Die Fotografien von Claudius Beutler führen vor Augen, was sonst im Dunkel des Kinosaals stattfindet: die Emotionen des Publikums. Ein schöner Anlass, nach einer Sprache für das zu suchen, was Filme affektiv mit uns machen.

mit seinem Familienepos „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ gelang dem Schriftsteller der Durchbruch. Ein Gespräch über die Verfilmung seines preisgekrönten Bestsellers, markante Änderungen im Vergleich zur Vorlage und das Erbe der DDR.

noch bevor die neuverfilmung von „Die mumie“ startet, werben die Universal Studios um die Aufmerksamkeit der Zuschauer: „Die mumie“ soll nur der Auftakt einer ganzen Filmreihe von monsterfilmen unter dem Obertitel „Dark Universe“ sein.

Von Julian Hanich

Von Silke Kettelhake

Von Franz Everschor

16 CANNES

25 STEVE COOGAN

Debatten um netflix-Filme im Wettbewerb, ein Gipfeltreffen von Regie-Stars, die nicht in Bestform waren, ein Siegerfilm aus Schweden: Zehn Tage lang drehte sich die Filmwelt wieder um das, was an der Croisette passiert. Rückschau auf den 70. Jahrgang des Festivals. Von Margret Köhler und Sven von Reden

Der britische Schauspieler ist in erster Linie als Komiker bekannt. nun spielt er im Kammerspiel „The Dinner“ eine dramatische Rolle als psychisch labiler Lehrer. Ein Gespräch über den Reiz von ambivalenten Figuren und motivationstechniken im Filmgeschäft. Von Margret Köhler

28 BJØRN MELHUS

Der deutsche Kurzfilmemacher und medienkünstler ist ein Star seines metiers. Dieses Jahr würdigte eine Werkschau bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen seine fantasiereichen, sozialkritischen Filme. Von Kathrin Häger

32 RUDOLF BELLING

26 IN MEMORIAM

Die Höhepunkte des internationalen sowie des nationalen Wettbewerbs der 63. Internationalen Kurzfilmtage.

Der Kameramann Roland Gräf entwickelte die Ästhetik des DDR-Kinos weiter und glänzte auch als Regisseur mit genauem Blick für eigenwillige Figuren. Ein nachruf.

Der Bildhauer prägte mit seinen Werken die Klassische moderne und entzog sich jeder Festlegung. Eine sehenswerte Ausstellung in Berlin erinnert an den Allround-Künstler und zeigt seine nähe zum Kino.

Von Kathrin Häger und Claus Löser

Von Ralf Schenk

Von Alexandra Wach

21 OBERHAUSEN

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In der dunkel kammer der Gefühle EinE klEinE PhänomEnologiE dEs EmotionalEn ErlEbEns im kino Von Julian Hanich


„Wir sitzen versunken im Kinosessel und sind aufgewühlt, verängstigt, amüsiert, angeekelt, beschämt, zutiefst amüsiert oder zu Tränen gerührt. Doch wie sich diese Gefühle anfühlen, darüber verschwenden wir keinen Gedanken.“


kIno Zuschauer-Gefühle

Gefühle, Genuss und urteile Das Paradoxe daran ist, dass wir uns unserer Gefühle im Kino oft nur vage bewusst sind. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht zuallererst der Film. Über das Emotionserleben selbst legen wir uns, zumal während der Vorführung, keine Rechenschaft ab. Wir sitzen versunken im Kinosessel und sind aufgewühlt, verängstigt, amüsiert, angeekelt, beschämt, zutiefst amüsiert oder zu Tränen gerührt. Doch wie sich diese Gefühle anfühlen, darüber verschwenden wir keinen Gedanken, denn das würde uns aus dem Fluss des Filmerlebens reißen. Aber auch wenn die Emotionen an den Rand des Bewusstseins abgedrängt sein mögen: Zu sagen, unsere Emotionen seien lediglich peripher, würde dem Kinoerlebnis keineswegs gerecht. Denn so wenig wir uns auf die Gefühle selbst kon-

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zentrieren, so entscheidend können sie für die Auswahl eines Films sein und für unser Urteil über ihn. So werden Filme nicht selten intuitiv dazu genutzt, das momentane Befinden zu beeinflussen: der Thriller gegen die Langeweile, die Komödie gegen die schlechte Laune, das Melodram, um die eigene Trauer zu besänftigen. Das geschieht oft, ohne über die Motive reflektiert zu haben; unser Körper hat ein sensibles Gedächtnis für einmal erlebte Emotionen. Und auch wenn es professionelle Filmkritiker nicht gerne hören mögen: Die Stärke der Emotionen hat oft genug Einfluss auf Genuss und Urteil. Man hat versucht, diese Haltung als „affective fallacy“ abzutun, als affektiven Trugschluss. Doch viele Zuschauer sind trotz allem von einem Horrorfilm vor allem dann begeistert, wenn er sie zutiefst verängstigt, von einem Melodram insbesondere dann hingerissen, wenn es Rinnsale an Tränen provoziert, von einer Komödie nur dann überzeugt, wenn sie Lachkrämpfe verursacht. Nur verlieren wir auch nach dem Film oft kaum ein Wort darüber, was eigentlich genau charakteristisch ist für all die Emotionen des Kinos. Man sagt vielleicht: „Der Film hat mich zutiefst bewegt!“ Oder: „Das war endlich mal wieder ein richtig spannender Thriller.“ Aber wie genau es sich eigentlich anfühlt, einen Film als bewegend zu erleben oder ihn mit Spannung zu verfolgen, dafür fehlen uns meist die Worte. Es ist halt viel leichter darüber zu reden, was uns bewegt oder geängstigt hat, als das Erleben selbst zu beschreiben. Im Wort „Gefühl“ steckt freilich der Hinweis darauf, dass sich das Gefühl irgendwie anfühlt. Das vage und uns allen doch irgendwie vertraute Gefühlserleben zu beschreiben, ist die Aufgabe einer Phänomenologie der Kinoemotionen. Einen Anfang könnte man machen, indem man den Metaphern unserer Alltagssprache nachspürt, in denen sich Sedimente emotionalen Erlebens entdecken lassen. So sagen wir oft, ein Film sei uns „nahe gegangen“ oder wir seien in den Film „eingetaucht“; wir waren „ergriffen“ von ihm oder tief in ihn „versunken“. In diesen Metaphern drücken sich unterschiedliche Formen von erlebter Nähe aus, die als angenehm empfunden wird – als hätte sich der Film uns persönlich zugewandt oder wir wären in ihn eingegangen. Umgekehrt sagen wir, wenn uns ein Film kaltgelassen hat, wir

wären „unberührt“ geblieben und hätten eine große „Distanz“ empfunden. Objektiv gesehen ist es natürlich Unsinn zu behaupten, der Film wäre uns irgendwie näher gekommen – die Leinwand verschiebt sich ja keinen Millimeter. Subjektiv ist dieses Nähe-Distanz-Erleben in emotionalen Momenten jedoch sehr real. Das lässt sich nicht zuletzt an körperlichen Ausweich- und Flucht-Handlungen in Momenten beobachten, in denen die Distanz des Films als zu gering empfunden wird. Wenn in „The Texas Chainsaw Massacre“ plötzlich Leatherface (Gunnar Hansen) mit seiner Kettensäge um die Ecke stürmt, kann es sein, dass die Zuschauer erschreckt zurückzucken, als sei der Film ruckartig zu nahe gekommen. Wenn in „Trainspotting“ der Junkie Renton (Ewan McGregor) in den Fäkalien der „schlimmsten Toilette Schottlands“ wühlt, drückt sich im Kopfwegdrehen oder gar Hände-vor-die-Augen-halten ebenfalls eine übergroße Nähe des als aufdringlich erlebten Films aus. Man fühlt sich gleichsam unrein und beschmutzt. Wer den Kopf abwendet oder mit den eigenen Händen eine Sichtbarriere errichtet, versucht eine angemessene Distanz wiederherzustellen.

magische Weltverwandlungen Im Internet kursieren zahllose Clips, in denen Zuschauer heimlich dabei gefilmt wurden, wie sie die berühmte Bluthochzeit in der dritten Staffel von „Game of Thrones“ verfolgen, bei der Robb Stark (Richard Madden) und seine Anhängerschaft völlig unerwartet umgebracht werden: Die Zuschauer halten sich die Hände vor den Mund, ziehen sich Decken über den Kopf oder verstecken das Gesicht hinter einem Kissen. Im Angesicht des Grauens hilft manchmal nur die Flucht – ein Entrinnen, das sich im Medium des Films aber nicht durch Weglaufen kenntlich macht, sondern durch ein visuelles Auf-Abstand-Bringen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre hat einmal geschrieben, Emotionen seien nichts anders als eine magische Transformation der Welt. Für den emotional erfassten Zuschauer beinhaltet diese Magie aber nicht nur eine Veränderung der erlebten Distanz zum Film, sondern auch eine Transformation seines Leibes: Mit einem Mal treten bestimmte Körperregionen in den Vordergrund, die

Fotos: Claudius Beutler, Berlin

in david Finchers „Fight Club“ (1999) tritt ein namenloser Protagonist einer geheimloge bei, in der sich die mitglieder gegenseitig die gesichter zu brei schlagen. Der von Edward Norton gespielte Held, ein entfremdeter Jedermann unserer modernen Konsumgesellschaft, versucht so auf drastische Weise, seinem emotionslos-grauen Büroalltag zu entfliehen und seinen Körper wieder einmal richtig zu spüren. Der Film wurde nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil er ein Lebensgefühl zeitdiagnostisch auf den Punkt brachte. Der Filmkritiker Michael Althen beschrieb dies folgendermaßen: „Wir leben zwischen Fernbedienungen und Airbags, Mikrowellen und Handys und all den anderen Annehmlichkeiten, die dafür sorgen, dass unseren Körpern allmählich die Erfahrung abhandenkommt.“ Nun tritt nicht jeder gleich einem „Fight Club“ bei, aber viele Menschen verschwinden, wie Althen, zur Kompensation des emotionalen Erfahrungsmangels im Kino. Man geht sicher nicht zu weit mit der Behauptung, dass das Kino auch mehr als 120 Jahre nach seiner Erfindung ein privilegierter Ort des Sich-Selbst-Spürens in modernen Gesellschaften ist: ein dunkelfaszinierender Raum, in dem unser weitgehend ruhiggestellter Körper emotional in Bewegung gerät. Das soll nicht bedeuten, dass Kino nicht viel mehr als eine große Emotionsmaschine sei. Aber das ist es eben auch: eine Dunkelkammer der Gefühle.


„Wie genau es sich eigentlich anfühlt, einen Film als bewegend zu erleben oder ihn mit Spannung zu verfolgen, dafür fehlen uns meist die Worte.“

„Mit einem Mal treten bestimmte Körperregionen in den Vordergrund, die im Moment zuvor noch völlig unbemerkt waren.“


kIno Zuschauer-Gefühle

im Moment zuvor noch völlig unbemerkt waren. Beim stillen Weinen schießen Tränen in die Augen und laufen warm die Wangen herunter. Im Ekel macht sich ein flaues Gefühl im Magen breit, manchmal auch ein Würgegefühl im Hals. Beim Lachen wird der Körper durch die stakkatoartige Aus- und Einatmung regelrecht durchgeschüttelt. In Momenten purer Schönheit – etwa in Terrence Malicks „In der Glut des Südens“ (1978), Wong Kar-wais „In the Mood for Love“ (2000) oder Bo Widerbergs „Elvira Madigan“ (1967) – läuft einem vielleicht ein milder Schauder den Rücken herunter. Und wer hat sich als Kind nicht mit hochrotem Kopf im Kinosessel gewunden, weil er eine Sexszene neben seinen Eltern verfolgen musste (vgl. dazu den Artikel „Scham im Kino“, in FD 04/14)?

mal möchte man im kino tänzeln In seiner schier unerschöpflich detaillierten Phänomenologie des Leibes hat der Kieler Philosoph Hermann Schmitz immer wieder darauf hingewiesen, dass sich affektives Betroffensein vor allem um die Komponente „eng-weit“ dreht. Und so weiten oder verengen sich das körperliche Erleben des Zuschauers und sein Bezug zur Welt auch im Kino, je nach Genre und Film. Nach einem beglückenden „Feelgood Movie“ wie „Du sollst mein Glücksstern sein“ (1952) oder „Ein Herz und eine Krone“ (1953) möchte man geradezu aus dem Kino tänzeln und die Welt umarmen, so leicht, locker und weit fühlt man sich. In der Freude fühlen wir uns aufgerichtet und scheinbar um viele Kilo leichter, obwohl wir natürlich kein Gramm Gewicht weniger auf die Waage bringen. Auch hier driften die objektiv-beobachtbare und die subjektiverlebte Welt auseinander. Ganz anders geht es Zuschauern, die sich von einem Film wie „Dancer in the Dark“ (2000) oder „12 Years a Slave“ (2013) zutiefst betroffen fühlen. Sie trotten aus dem Saal, den Kopf gesenkt, Blicke vermeidend und Gesprächen aus dem Weg gehend. Die Welt fühlt sich düsterer und enger an, der Leib schwerer. Oder denken wir an Momente der Angst: Starr im Sessel sitzend, die Finger in die Armlehne krallend, kaum zu atmen wagend fühlen wir uns geradezu in unserem Körper

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eingeschnürt – ein Gefühl, auf das auch die Herkunft des Wortes verweist: Die Etymologie von „Angst“ wurzelt in „eng“, „Beklemmung“ und „bedrängend“. Und auch hierfür hat unsere Alltagssprache ein Sensorium: Thriller und Action-Filme werden deshalb oft als „packend“ oder „fesselnd“ beschrieben. Nicht zuletzt der Begriff „Spannung“ selbst enthält einen klaren Hinweis darauf, dass der Körper angespannt ist. Der buchstäbliche Seufzer der Erleichterung, wenn der Atem-beraubende Höhepunkt eines nachtdunklen Horrorfilms dem taghellen Happy-End weicht, bringt die magische Transformation der Welt im Umschlagen von einer Emotion in die nächste vielleicht am besten zum Ausdruck. Und so wie sich das Erleben von Nähe und Distanz und Enge und Weite in emotionalen Momenten verändert, so magisch transformiert sich auch unser Erleben der Zeit. Wen es am Ende von „Carrie“ (1976) oder „Freitag, der 13.“ (1980) vor Erschrecken schier aus dem Kinosessel katapultiert, der weiß, wie sich Plötzlichkeit anfühlt: Die Zeit schnurrt zusammen und explodiert geradezu im Jetzt. Die amüsant-rasanten Dialoge einer Screwball-Komödie von Howard Hawks oder den Coen-Brüdern lassen die Zeit wie im Flug vergehen. Die Verächter der Slow-Cinema-Filme von Béla Tarr, Tsai Ming-liang oder Lav Diaz werden hingegen, frei nach Alfred Kerr, seufzen: Als ich nach drei Stunden auf die Uhr geschaut habe, waren gerade einmal 20 Minuten vergangen. Ein kurz- und ein langweiliger Film mögen objektiv exakt gleich lang dauern – unser subjektives Zeit-Erleben ist in beiden Fällen radikal verschieden. Damit haben wir noch ein weiteres Indiz dafür, dass unser Erleben um ein Vielfaches reicher ist, als es messende Instrumente abzubilden vermögen. All das zeigt: Auch wenn sich das emotionale Erleben im Kino eher am Rand der Aufmerksamkeit abspielt und wir nur selten darüber reflektieren – wir sind sehr wohl in der Lage, uns durch Beschreibungen sprachlich zu vergegenwärtigen, wie sich Emotionen im Kino anfühlen. Phänomenologische Beschreibungen helfen, uns klarer darüber zu werden, was wir im Sinne Sartres vielleicht so ausdrücken könnten: In der magischen Transformation der Welt der Emotionen steckt ein wichtiger Grund für die Magie des Kinos. •

Julian hanich der autor dieses Beitrags, Julian hanich, lehrt filmwissenschaft an der universität Groningen. er forscht dort vor allem zur Phänomenologie des emotionalen erlebens im Kino. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen die Monografien „cinematic emotion in horror films and Thrillers: The aesthetic Paradox of Pleasurable fear“ (2010) und „The audience effect: On the collective cinema experience“ (2017).

Claudius Beutler die fotografien, die den artikel von Julian hanich als eigenständiges visuelles Segment begleiten, stammen vom fotografen und filmemacher Claudius Beutler (geb. 1986 in Berlin). sie entstanden vornehmlich für den neuen Bildband „die Schönheit des Betrachters. eine fotografische annäherung im dialog mit filmschaffenden“, gemeinsam herausgegeben von clauius Beutler und Johanna Niermann (Verlag edition text+kritik, München 2017, ca. 200 s., 30,00 eur). aus einer Verlagsmitteilung: „Was passiert eigentlich vor der leinwand in einem dunklen Kinosaal? In den Gesichtern der Zuschauer lassen sich vielfältige emotionen ablesen, die von claudius Beutler fotografisch festgehalten wurden. Dieser Band begibt sich auf eine fotografische entdeckungsreise, um die große Bandbreite an emotionen in den Gesichtern von Zuschauern einzufangen. In Verbindung mit mehreren kurzen essays und im Dialog mit zahlreichen filmschaffenden wie andreas Dresen, Götz spielmann oder christian Petzold, die von den herausgebern interviewt wurden, entwickeln sich so neue, gleichermaßen subjektive wie persönliche sichtweisen auf das Kino und den Zuschauer im Kinosaal.”


„Die Etymologie von „Angst“ wurzelt in „eng“, „Beklemmung“ und „bedrängend“. Und auch hierfür hat unsere Alltagssprache ein Sensorium: Thriller und Action-Filme werden deshalb oft als „packend“ oder „fesselnd“ beschrieben.“

„In der magischen Transformation der Welt der Emotionen steckt ein wichtiger Grund für die Magie des Kinos.“


AkteuRe in memoriAm

Roland Gräf 13.10.1934-11.5.2017

»Das Haus am Fluss« (1984/85)

„Das konnte mir niemand mehr nehmen.“ Gräf und seine etwa gleichaltrigen Kamerakollegen Günter Ost, Claus Neumann, Jürgen Brauer, wenig später auch Roland Dressel trugen wesentlich dazu bei, dass die DEFA Mitte der 1960er-Jahre in der ästhetischen Moderne ankam: „Sich nicht in den Vordergrund drängen, die Dinge so fotografieren, dass sie selbst sprechen, das war einer unserer Grundsätze.“ Um 1970, nicht zuletzt inspiriert durch Filme der tschechischen Neuen Welle, wechselte Gräf zur Regie. Bis 1991 inszenierte er zehn Filme, sozial und psychologisch genaue Plädoyers für Toleranz, für den Blick hinter die äußere Hülle eines Charakters. Für glatte Helden hatte Gräf nur leisen Spott übrig; er liebte die Eigenwilligen, die Zweifler und Zerrissenen. So wie den Meister Achilles (in „Bankett für Achilles“, 1975) aus Bitterfeld, der sich als Rentner nicht aufs Altenteil setzt, sondern blaue Blumen in der vergifteten Landschaft pflanzt. Oder den schüchternen Landschullehrer Pötsch (in „Märkische Forschungen“, 1981), der auf historische Wahrheit pocht, gegen politisch motivierte Manipulation der Geschichte. Oder den Puppenspieler Fußberg (in „Fariaho“, 1984), einen skeptischen Außenseiter der ostdeutschen Aufbauzeit. Oder den Dichter Hans Fallada (in „Fallada – letztes Kapitel“, 1988), der in den ersten Friedensjahren nach der Nazi-Diktatur an Drogen und Alkohol zugrunde geht. Gräf suchte nach Quellen der Humanität, er reflektierte

über das Glück und den Schmerz, das Individuelle gegen Konformität und Opportunismus zu bewahren, die selbst erkannte Wahrheit gegen die große Gleichmacherei. Dass seine Filme immer auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und Verzweiflung balancierten, wundert nicht. Nach „Der Tangospieler“ (1990, geehrt mit dem Bundesfilmpreis) hätte er gern so weitergemacht. Er wurde mit mehreren Stoffen bei Fördergremien und dem neuen Babelsberger Chef Volker Schlöndorff vorstellig, doch das Interesse an den Geschichten eines der wichtigsten ostdeutschen Autorenfilmer tendierte gegen Null. Gräfs Stimme, die notwendig gewesen wäre für die Selbstverständigung über das Woher und Wohin im neuen Deutschland, verstummte – so wie die fast aller seiner DEFA-Kollegen. „Das ging mit ziemlicher Brutalität über die Bühne“, resümierte er, „es hatte etwas von Kolonisierung.“ Gräf wurde Lehrer an seiner alten Filmhochschule, gründete die DEFA-Stiftung mit, setzte sich für den Zusammenhalt des überlieferten Filmstocks ein. Im Herbst 2016 veröffentlichte er den Fotoband „Meine Last Picture Show“ (vgl. FD 6/17), Erkundungen einer Landschaft, ihrer Bewohner und auch der eigenen Seelenlage. Ein Abschiedsbuch, so wie einer seiner liebsten Sätze: „Melancholie ist eine sanfte Rebellion.“ Ralf Schenk Lesetipp: Ralf Schenk, „Zerrissene Helden. Zum 70. Geburtstag des Regisseurs Roland Gräf“. In: FILMDIENST 21/2004.

Fotos: fd-Archiv/DEFA-Stiftung

Roland Gräf, geboren als dritter Sohn eines thüringischen Holzarbeiters, gehörte 1954 zum ersten Studentenjahrgang der Potsdamer Filmhochschule. Die jungen, ungestümen Filmemacher saugten begierig auf, was die Welt an großem Kino zu bieten hatte: Eisenstein und Dowshenko, die sowjetischen, polnischen und ungarischen Filme der Tauwetter-Ära; vor allem aber den italienischen Neorealismus, der zum ästhetischen Rüstzeug unbedingt dazugehörte. Dessen Prinzipien, raus aus den Ateliers, rein ins Leben, sollten auch für Babelsberg gelten. Roland Gräf fand den bei der DEFA praktizierten flächig ausgeleuchteten UfaStil überholt und sah auch die formal ambitionierten, streng nach optischem Drehbuch gebauten expressionistischen Bilder anderer DEFA-Kameraleute eher misstrauisch. So wagte er sich auf fotografisches Neuland. Am deutlichsten manifestierte sich das in Jürgen Böttchers „Jahrgang 45“ (1966), den Gräf prägte: mit Zeit und Raum fürs spielerische Detail und wie getupft wirkenden, aphoristischen Motiven aus dem Berliner Alltag. Dass der Film verboten wurde, schmerzte den jungen Kameramann; später erinnerte er sich auch anderer Gefühle. Er hatte den Film ja erst einmal machen können und wusste, was er zu leisten imstande war:

»Der tangospieler« (1990)

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»Jahrgang 45« (1966, Regie: Jürgen Böttcher)

»Märkische Forschungen« (1981)


KrITIKEN Neue fIlMe „Ich bin schwanger.“ Mit diesem Satz fängt alles an. Drei einfache, bedeutsame Worte. Die Kamera fokussiert auf Mildreds Gesicht, im Halbdunkel und in Großaufnahme. Getrennt durch einen Schnitt erscheint dann ihr Gesprächspartner, Richard, auf der Leinwand. Auch er im Close-up. Mit ausdrucksloser, undurchsichtiger Mimik und tief in den Höhlen sitzenden Augen starrt er vor sich hin. Nachdenklich? Niedergeschlagen? Entsetzt? Gerührt? Es dauert eine Weile, bis er plötzlich auflacht und nuschelt, das sei gut, richtig gut. Die Cutterin Julie Monroe schneidet dann wieder hart zu Mildred zurück, die überrascht und forschend zu Richard hinüberspäht. Erst als sich auch auf ihrem Gesicht ein befreiendes Lächeln ausbreitet, löst sich die Anspannung, und die Montage überwindet die Segregation der beiden Liebenden, zeigt sie in einer harmonischen Totalen einträchtig nebeneinander auf der Veranda sitzend. Sie sehen einander an. Er reicht ihr die Hand. Sie ergreift die seine. Das war’s. Nach rund zwei Minuten ist die Liebesgeschichte von Jeff Nichols im Grunde zu Ende erzählt. Das heißt, sie wäre es, wenn sie nicht im Jahr 1958 in Virginia spielen würde, einem der 24 US-Bundesstaaten, in denen „Mischehen“ zwischen Schwarzen und Weißen damals noch verboten waren. So dauert es im Kino zwei Stunden, bis Mildred und Richard Loving, die schwarze Frau und der weiße Mann, endlich unbehelligt von Polizei, Richtern und Rassengesetzen miteinander leben dürfen. In Wirklichkeit hat es neun lange Jahre gedauert. „Loving“ basiert auf einem realen Fall, der die USA so nachhaltig veränderte, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofes in der Causa Loving vs.

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Loving Drama von Jeff Nichols um eine „Mischehe“

Virginia vom 12. Juni 1967 bis heute jährlich am „Loving Day“ gefeiert wird. Wenige Tage vor dem deutschen Bundesstart des Films jährt sich dieses Urteil zum 50. Mal. Jeff Nichols, einer der spannendsten und eigenwilligsten Filmemacher des zeitgenössischen US-Kinos, erzählt die Geschichte der Lovings recht nah an den bekannten Fakten in ruhigen, unaufgeregten, aber nie nostalgisch überzuckerten Bildern. Er zeigt, wie mitten in der Nacht die Polizei die Tür aufbricht, ins Schlafzimmer des Paares platzt, den beiden mit Taschenlampen ins Gesicht leuchtet, sie anherrscht aufzustehen und getrennt voneinander in Gefängniszellen sperrt. Richard kommt nach einer Nacht wieder frei, Mildred wird erst nach mehreren Tagen entlassen. Dass die beiden in Washington, D.C. geheiratet haben, hilft ihnen nicht weiter. Die Ehe wird in Virginia nicht anerkannt. Ein Richter verurteilt sie zu einer einjährigen Haftstrafe, die unter der Auflage ausgesetzt wird, dass sie Virginia verlassen und in den nächsten 25 Jahren nicht mehr gemeinsam dorthin zurückkehren. Richard, ein Bauarbeiter, und Mildred, die gerade erst 18 geworden ist, fügen sich und ziehen nach Washington, in ei-

nen ärmlichen Stadtteil, in dem sie sich nie zu Hause fühlen. Als einige Jahre später eines ihrer mittlerweile drei Kinder von einem Auto angefahren wird, schreibt Mildred einen Brief an den Generalbundesanwalt Robert F. Kennedy, der das Schreiben an die Bürgerrechtsbewegung „American Civil Liberties Union“ weiterleitet. Zwei junge, ambitionierte, aber unerfahrene Anwälte, Bernard Cohen und Phil Hirschkop, nehmen sich des Falles an und bringen ihn über mehrere Instanzen bis vor den Obersten Gerichtshof. „Loving“ ist ein Glücksfall des US-Gegenwartskinos, weil er gleich mehrere Grenzen überwindet. Formal verknüpft Nichols die geduldige Erzählweise des Independentfilms mit klassischen Genreelementen. Ein Kamerablick auf Lackschuhe genügt, um zu demonstrieren, dass die Anwälte aus einer anderen Welt als die Lovings stammen. Dass diese beiden Welten aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, offenbart eine differenzierte Perspektive, die für Nichols wie den Film charakteristisch ist. Zwar legt der Film den institutionalisierten Rassismus in den USA der 1950er- und 1960erJahre offen, aber „Loving“ ist kein Film, der Wunden aufreißt, es ist einer, der Brücken schlägt.

Und das gilt nicht nur in der Rassenproblematik. In diesem Film treffen mit den wohlmeinenden, aber auch karriereorientierten Anwälten aus der Stadt und den bescheidenen, ungebildeten Menschen vom Lande Protagonisten diesund jenseits eines kulturellen Grabens aufeinander, der die USA bis heute durchzieht. Nichols ergreift keine Partei. Er verheimlicht nicht, dass das Ehepaar Loving für die ehrgeizigen Anwälte vor allem Mittel zum Zweck ist. Sie wollen unbedingt eine Grundsatzentscheidung vor dem Obersten Gerichtshof herbeiführen und wiegen ihre Klienten deshalb in trügerischer Sicherheit. Wenn sie verhaftet würden, verspricht Cohen dem Ehepaar, würden die beiden Anwälte sie sofort wieder aus dem Gefängnis herausholen. Nachdem die Lovings gegangen sind, fragt ihn Hirschkop, ob ihm klar sei, dass er das nicht garantieren könne, woraufhin Cohen nickt. Dennoch charakterisiert Nichols die beiden keineswegs als skrupellos oder hinterhältig, vielmehr als Idealisten, die sich eine Menge vorgenommen haben, dabei aber auch an sich selbst denken. Auf der anderen Seite aber macht Nichols auch klar, dass die begrenzte Perspektive von Richard Loving zu kurz


Neue fIlMe KrITIKEN greift. Ihm geht es nur darum, mit seiner Frau und Familie unbehelligt zusammenleben zu können. Weiter denkt er nicht. Diese Herangehensweisen prallen beispielhaft aufeinander, als sich die Lovings entscheiden, der Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof fernzubleiben. Cohen kann das kaum fassen. Er ist ganz berauscht von der historischen Chance, die sich ihnen vor dem Supreme Court bietet. Ob er den Richtern nichts ausrichten solle, fragt er Richard Loving. Der wortkarge Eigenbrötler antwortet im Film mit jenem simplen, schönen Satz, den er den Anwälten auch in Wirklichkeit mit auf den Weg gab: „Sagen Sie dem Richter, ich liebe meine Frau.“ Stefan Volk

BeweRtuNG DeR FILmKOmmISSION

Die Liebe von Mildred und Richard Loving verstieß 1958 gegen die Segregationsgesetze des US-Bundesstaats Virginia, die eine Ehe zwischen dem weißen Bauarbeiter und der afroamerikanischen 18-Jährigen verboten. Erst 1967 wurde ihre Verbindung mit der Aufhebung des Verbots so genannter Mischehen legalisiert. Das still in sich schwingende, souverän und differenziert ausbalancierte Drama erzählt den realen „Fall“ nahe an den bekannten Fakten. Dabei schwebt über der von zwei grandiosen Hauptdarstellern getragenen Inszenierung stets die Zuversicht, dass sich die Dinge zum Besseren ändern. – Sehenswert ab 14.

LOVING. Scope. USA/Großbritannien 2017 Regie: Jeff Nichols Darsteller: Joel Edgerton (Richard Loving), Ruth Negga (Mildred Jeter Loving), Marton Csokas (Sheriff Brooks), Nick Kroll (Bernie Cohen), Michael Shannon Länge: 124 Min. | Kinostart: 15.6.2017 Verleih: UPI | FSK: ab 6; f FD-Kritik: 46 731

Die vergessene Armee Doku über NVA-Veteranen Zu DDR-Zeiten war Bernd L. Offizier der Grenztruppen, später arbeitete er bei der Volkspolizei am Prenzlauer Berg. In „Die vergessene Armee“ von Signe Astrup sieht man ihn in Flip-Flops über den Alexanderplatz schlappen und ein wenig nach dem Rechten sehen. Zwei Polizisten meldet er eine „kleine Gefahrenquelle“ in Form eines leicht hochstehenden Kanaldeckels. „Ich hab’ ein gutes Auge“, bekennt Bernd L. nicht ohne Stolz. „Det glob ich Ihnen, ham wir aber auch“, so die lakonische Antwort der beiden Streifenpolizisten. Im realen Berufsleben ist der Ex-Offizier als Müllmann tätig. Bernd L. zählt wie die anderen Protagonisten des Films zu der Gruppe ehemaliger NVA-Soldaten, die nicht in die Armee des einstigen Klassenfeindes, die Bundeswehr, integriert wurden. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins verbindet Bernd L. mit anderen Veteranen, die das Andenken an die DDR-Armee kultivieren. Die in Berlin lebende dänische Dokumentaristin Astrup wurde über diese klandestine Form der Erinnerungskultur durch eine Zeitungsmeldung aufmerksam. Eine Feier zum 55. Jahrestag der NVA-Gründung im Tierpark Friedrichsfelde hatte 2011 eine Welle der Empörung ausgelöst. Etwa 100

ehemalige Offiziere versammelten sich in der mit DDR-Fahnen und anderen Devotionalien geschmückten Cafeteria, um die Vergangenheit ein Stück weit wiederzubeleben. Astrup, die durch den OffKommentar und ihre Interviewfragen stark präsent ist, sich buchstäblich in den Film hineinspricht, hat sich über einen Zeitraum von fünf Jahren Zutritt zu dieser Männergemeinschaft verschafft. Ihr Status als Außenstehende und ihre relative Unvoreingenommenheit sind dabei so hilfreich wie schwierig. Sie öffnen durchaus viele Türen. Die ehemaligen NVA-Angehörigen laden sie in ihre Wohnungen ein und geben bereitwillig Auskunft: über ihr schwieriges Verhältnis zur Bundesrepublik, ihr DDR-Bild, ihre Gefühle angesichts des Systemwechsels etc. Die Filmemacherin ist zugegen, wenn Bernd L. zum ersten Mal seine Stasi-Akte sichtet und von der Ausspähung durch einen ehemaligen Freund erfährt. Sie ist dabei, wenn der Traditionsverband NVA militärische Zeremonielle abhält und die Gräber früherer Vorgesetzter oder Namensgeber besucht. Sie ist auch dabei, wenn die Vereinsmitglieder bei der Sichtung von Christian Petzolds DDR-Drama „Barbara“ ihr kollektives „Angekotzt-Sein“ zum Ausdruck bringen; ehemalige Offiziere

des Fallschirm-Bataillons haben als Statisten im Film mitgewirkt, was zu schweren Selbstvorwürfen führt. Im Einzelnen sind diese Beobachtungen aufschlussreich, doch es fehlt dem Film jegliche Systematik. Aus der Vielzahl der Erzählstränge ergibt sich kein Bild von der Geschichte und Funktionsweise der NVA; vieles bleibt schlicht nebulös. Zwar werden viele Themenfelder angerissen, vom Kameradschaftskult über das Selbstverständnis der NVA als friedliche Armee bis hin zur Schuldfrage bei der Grenzsicherung, doch sie bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Es überwiegt ein fahriger Einblick in die Gedächtniskultur der Veteranen und ihre obskur anmutenden Re-Enactments. Esther Buss

BeweRtuNG DeR FILmKOmmISSION

Mit dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung wurde auch die Nationale Volksarmee aufgelöst. Manche Mitglieder der ausrangierten Streitkräfte haben sich bis heute nicht mit dem Ende der DDR abgefunden und kultivieren innerhalb obskurer Kameradschaften militärische Zeremonien und andere Rituale. Der Dokumentarfilm beobachtete fünf Jahre lang Angehörige der „vergessenen Armee“ und bietet in einer Mischung aus Naivität und Offenheit aufschlussreiche Einblicke in die verdrängte Welt der NVA-Veteranen. An vielen Stellen lässt er jedoch eine Systematik oder historisches Verständnis vermissen. – Ab 16.

Deutschland 2016 Regie: Signe Astrup Länge: 88 Min. | Kinostart: 8.6.2017 Verleih: Salzgeber | FSK: ab 6; f FD-Kritik: 46 732

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kritiken DvD/Blu-Ray/InteRnet

Die Fiktion beginnt unmittelbar an den engen Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Bei echten Kriminalfällen aus den Nachrichten fiebert die Öffentlichkeit oft mit, als wären es spannende Geschichten. Man beginnt Rollen zuzuweisen, fiktionalisiert Menschen und Ereignisse, castet Helden und Schurken. In ihrem interessanten Dokumentarfilm nimmt sich die australische Filmemacherin Kitty Green dieses Phänomens an. Statt aus dem unaufgeklärten Mord an der sechsjährigen Schönheitskönigin JonBenét Ramsey im Jahr 1996 eine weitere „True Crime“-Story zu pressen, geht die Gestaltung auf Distanz zum Geschehen. Die Regisseurin erfindet (ähnlich wie Robert Greenes „Kate Plays Christine“, 2016) einen Spielfilm über das Verbrechen und lässt Einwohner aus Boulder, dem Heimatort der Ramseys, für die verschiedenen Rollen vorsprechen. Die Protagonisten – JonBenét, ihre Eltern, ihr Bruder, der örtliche Polizeichef, ein Weihnachtsmann-Darsteller – zersplittern in viele Versionen ihrer selbst. Jump Cuts verwandeln einen potenziellen Polizeichef in den nächsten, lassen ihn 20 Jahre altern, färben seine Haare, verformen sein Gesicht, ohne seine Funktion zu verändern.

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Casting JonBenet Der Mord an einer Kinder-Schönheitskönigin als Stoff für einen Dokumentarfilm zwischen Fiktion und Realität Weil Darsteller stets jenen Menschen zu ergründen versuchen, der sie im Film werden wollen, offenbaren die Laiendarsteller im Rahmen der Probeaufnahmen ihre eigene Sichtweise dessen, was in der Mordnacht geschehen ist. Das Verbrechen wird zur Projektionsfläche ihrer eigenen Ängste und Sorgen, die jeweiligen Verlust- und Gewalterfahrungen werden damit abgeglichen. Die Abschweifungen, Anekdoten und Tiraden der Vorsprechenden offenbaren, dass jedes partikuläre Ereignis große Teile der menschlichen Erfahrung in sich tragen kann. Mit der Tragödie eines anderen konfrontiert, wird jeder zum Schauspieler: Man stellt sich vor, wie man selbst in dieser Situation handeln würde, und formt seine Erlebnisse zu Haltungen, Gesten und einer Figur. Aus den Einzelperspektiven entsteht so ein Realitätenmosaik, der hilflose Versuch einer Antwort auf unsere heute

immer feingliedrigere MosaikRealität. Der Film zeigt die Weltsicht der Befragten und die Subjektivität ihrer Positionen auf, ohne sie bloßzustellen. Ein Beispiel: Schönheitswettbewerbe für Kinder werden (auch in „Casting JonBenet“) als Wunscherfüllung für die Eltern kritisiert. Eltern leben durch ihre Töchter ihre eigenen Rampenlichtfantasien aus, oder, so wird es JonBenéts Mutter Patsy vorgeworfen, strecken künstlich die eigene dahinschwindende Jugendzeit. Im Film kommt dieser Vorwurf ausgerechnet von Interviewten, die nur wenige Szenen zuvor noch tief in die Traumata und das Seelenleben der Ramseys eingetaucht waren. Diese Widersprüche werden nicht kommentiert oder durch humoristische „GotchaJournalismus“-Schnitte hervorgehoben, sondern lediglich am Rand als der menschliche Grundzustand zu Kenntnis genommen, den sie darstellen.

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verlaufen in „Casting JonBenet“ wie die zwischen Meer und Küste: Unter der Gischt verschwimmend, den Gezeiten gleich vor- und zurückgedrängt. Spricht die Figur oder der Darsteller? Wo beginnt und endet eine Rolle? Konsequenterweise beantwortet der Film keine einzige Frage, sondern genügt sich in seinem Facettenaugen-Blick auf die Welt. „Casting JonBenet“ präsentiert Schrödingers Tathergang und eröffnet Möglichkeitsmatrizen – vielleicht aber auch nur ein Achselzucken in Spielfilmlänge. Wie der Film selbst weiß: Beides könnte wahr sein. – Sehenswert ab 16. Lucas Barwenczik

CAStinG JOnBenet USA/Australien 2017 regie: Kitty Green Länge: 81 Min. Anbieter: Netflix FD-kritik: 44 754


KrITIKEN fernseh-tipps

SA

20.15-22.00 3sat Ich bin Ingrid Bergman R: Stig Björkman Hommage an die schwedische Schauspielerin Schweden 2015 Sehenswert ab 14

20.15-21.45 Das Erste Chuzpe – Klops braucht der Mensch! R: Isabel Kleefeld Komödie um jüdisch-polnische Familie Deutschland 2015 Ab 14 20.15-23.00 ProSieben Die Insel R: Michael Bay Science-Fiction-Thriller um Menschen als „Materiallager“ USA 2005 Ab 16 20.15-22.55 SAT.1 Harry Potter und der Orden des Phönix R: David Yates Fünfter Teil des Zauberer-Epos USA 2007 Sehenswert ab 12 20.15-21.50 SUPER RTL Chicken Run – Hennen rennen R: Peter Lord, Nick Park Animationsspaß aus dem Hause Aardman USA 2000 Sehenswert ab 12

SAMSTAG 10. Juni 22.00-23.40 3sat Stromboli R: Roberto Rossellini Neorealistischer Filmklassiker Italien 1949 Sehenswert ab 16 23.00-01.00 ZDF Miami Vice R: Michael Mann Rasanter Thriller um Drogenfahnder USA 2006 Ab 16 23.10-01.05 Servus TV Todesangst R: Tobias Lindholm In der Gewalt von Piraten Dänemark 2012 Ab 16 01.00-02.55 ZDF Roter Drache R: Brett Ratner Prequel zu „Das Schweigen der Lämmer“ USA 2001 Ab 16 02.25-02.35 rbb Fernsehen Oskarreif R: Robin Polák Videotheken-Mitarbeiter „verbessert“ Drehbuch Deutschland 2015 Ab 16

20.15-21.50 zdf_neo 28 Tage R: Betty Thomas Sandra Bullock auf Entzugskur USA 1999 Ab 14

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02.40-05.08 Das Erste Into the Wild R: Sean Penn Die Geschichte eines Aussteigers USA 2007 Ab 16

21.50-23.25 zdf_neo Good Kill – Tod aus der Luft R: Andrew Niccol Kriegsdrama um US-Drohnenpiloten USA 2014 Ab 16

02.55-04.35 ZDF Rächer der Unterwelt R: Robert Siodmak Film-noir-Thriller mit Burt Lancaster USA 1947 Ab 16

3sat

Ingrid Bergman „Ich habe nichts bereut“, notierte die Schauspielerin Ingrid Bergman im Rückblick auf ihr bewegtes Leben. Der Regisseur Stig Björkman widmete der 1982 verstorbenen Schauspielerin anlässlich des 100. Geburtstags 2015 eine Dokumentation, die erhellende Einblicke in ihre Persönlichkeit gibt. Zusammen mit Bergmans Kindern Pia Lindström, Roberto, Isabella und Ingrid Rossellini präsentiert er einen Film, der über gängige „Das war ihr Leben“-Filme hinausgeht. Isabella Rossellini hat erstmals das private Archiv ihrer Mutter zur Verfügung gestellt, Eintragungen aus ihren Tagebüchern, Fotografien, Briefe und vor allem private 16mm-Aufnahmen. Die fast schon professionellen „Home Movies“ wechseln sich mit differenzierten Einsichten der Kinder wie auch von Ingrid Bergman selbst ab. Ihre Tagebucheintragungen werden in der deutschen Fassung von Nina Hoss eingesprochen, mit viel Emphase, Ehrlichkeit und bisweilen auch Bitternis. Unterstützt wird das virtuos komponierte audiovisuelle Tagebuch von der Filmmusik Michael Nymans. 3sat flankiert die Doku mit der Ausstrahlung eines ihrer schönsten Filme: „Stromboli“ (1949) von Roberto Rossellini, in den sich die Schauspielerin während der Dreharbeiten verliebte und dafür ihre Ehe mit dem Arzt Petter Lindström beendete – was vor allem in den USA für einen Skandal sorgte, ihre Karriere aber langfristig nicht schädigte. 20.15-22.00 Ich bin Ingrid Bergman 22.00-23.40 Stromboli

10. Juni, 02.55-04.35

21.00-23.10 Servus TV Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa R: Lasse Hallström Sensibles Kleinstadt-Porträt USA 1993 Sehenswert ab 14

Filmdienst 12 | 2017

10. Juni, 20.15-23.40

ZDF

Rächer der Unterwelt Es beginnt mit zwei Killern, die in einem Diner auf den „Schweden“ (Burt Lancaster), einen früheren Boxer, warten, ihn schließlich in seiner Pension aufspüren und erschießen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Ein mustergültiger Einstieg in einen Film noir, den Regisseur Robert Siodmak und seine Drehbuchautoren Anthony Veiller, John Huston und Richard Brooks von Ernest Hemingways Erzählung „The Killers“ übernahmen. Während Hemingway damit bereits am Ende war, geht es in „Rächer der Unterwelt“ freilich nun erst los: Ein Versicherungsdetektiv (Edmond O’Brien) deckt die Hintergründe der Tat auf, die mit der Liaison zwischen dem „Schweden“ und einem verführerischen Gangsterliebchen (Ava Gardner) mehrere Jahre zuvor zusammenhängen. Stilsicher inszeniert Siodmak den Abstieg eines Mannes, der sich mit dem Verbrechen einlässt und sich aus den Fallstricken nicht mehr befreien kann.


fernseh-tipps KrITIKEN

SO

SONNTAG 11. Juni

10.15-11.55 mdr Vaya con dios R: Zoltan Spirandelli Märchenhafte Komödie um drei Mönche Deutschland 2001 Ab 14 20.15-22.05 arte Charade R: Stanley Donen Exzellente Krimikomödie USA 1963 Sehenswert ab 16 20.15-22.45 Disney Channel 20.000 Meilen unter dem Meer R: Richard Fleischer Trickreiche Verne-Verfilmung USA 1954 Ab 14

20.15-22.30 TELE 5 Tootsie R: Sydney Pollack Komödie um Geschlechterrollen USA 1982 Ab 14 22.45-00.15 mdr Pfarrer werden R: Chris Wright, Stefan Kolbe Differenziertes Bild angehender Pfarrer Deutschland 2014 Sehenswert ab 14 23.45-01.15 BR FERNSEHEN Sein Name war Franziskus (1) R: Liliana Cavani Biografie des Franz von Assisi Italien/Deutschland 2015 Ab 12

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

00.35-01.58 Das Erste Das Leben vor meinen Augen R: Vadim Perelman Intensives Trauma-Drama USA 2007 Ab 14 01.15-02.55 BR FERNSEHEN Der veruntreute Himmel R: Ernst Marischka Neffe täuscht fromme Magd BRD 1958 Sehenswert ab 10 02.00-04.00 Das Erste Nokan – Die Kunst des Ausklangs R: Yôjirô Takita Berührende Trauer-Reflexion Japan 2008 Sehenswert ab 16

11.-17. Juni

Das Erste/WDR Fernsehen/BR FERNSEHEN//ARD alpha u.a.

ARD-Themenwoche: Woran glaubst du? Der Titelfrage der ARD-Themenwoche bringt es auf den Punkt: Glauben ist etwas zutiefst Individuelles, eine seelische Kraft, sich innerlich auf das auszurichten, von dem man Entscheidendes erwartet: Glück, Heil, Gesundheit oder auch nur einen Sieg für seine Mannschaft beim nächsten Bundesligaspiel. Woran hängt das Herz? Von wem oder was erhofft man sich Beistand, Fügung, ein gutes Schicksal? Die Antwort darauf fällt mannigfach aus und ist mit herkömmlichen religiösen Begriffen längst nicht mehr beschreibbar. Im umfangreichen Programm der Themenwoche fallen insbesondere auch eine Reihe von Spiel- und Dokumentarfilmen auf, die mit ihren Mitteln das Feld aktueller Grundüberzeugungen ausloten, die Martin Luther einst vor dem Reichstag in Worms den denkwürdigen Satz ausrufen ließen: Hier stehe ich, ich kann nichts anders. 11.6., 20.15-21.45, Das Erste Tatort - Level X 12.6., 00.00-01.40, WDR Fernsehen Den Menschen so fern 13.6., 22.30-00.00, BR FERNSEHEN Erleuchte uns – Vom Aufstieg und Fall eines Selbsthilfe-Guru 13.6., 00.00-01.30, BR FERNSEHEN Woran glaubst du? – Kurzfilmnacht 14.6., 20.15-21.45, Das Erste Atempause 16.6., 20.15-21.45, Das Erste Die Konfirmation 16.6., 20.15-21.45, ARD alpha Gastarbeiter Gottes

11.Juni, 20.15-21.45

Das Erste

Tatort - Level X „Kann nicht jemand das Internet einfach abschalten?“, seufzt Kommissariatsleiter Schnabel an einer Stelle des neuen Dresden-„Tatorts“, nachdem ein brisantes Video den Ermittlungen der Kommissarinnen Henni Sieland und Karin Gorniak eine neue, dramatische Wendung gegeben hat. Ausgangspunkt des Falls ist der Tod eines Internetstars. Der junge Simson hat als so genannter Prankster, der seine Streiche filmt und per App live im Netz präsentiert, viele Fans, aber auch einige Feinde. Welcher von denen steckt dahinter, als Simson vor laufender Kamera ein tödlicher Schuss trifft? Um den Fall zu klären, müssen sich die Ermittlerinnen u.a. in die Geschäftsstrukturen, die hinter dem Internet-Idol stehen, vertiefen. Dass sich die Ängste rund um die Durchdigitalisierung unseres Lebens in kriminalistischen Stoffen gut verarbeiten lassen, nutzt der „Tatort“ von Gregor Schnitzler als Steilvorlage. Formal fällt er mit der Einbindung diverser Screens und Textnachrichten zwar recht bieder aus, unterhält als Krimi-Drama über menschliche Kollateralschäden der allgegenwärtigen Vernetzung aber passabel. Das Drehbuch von Richard Kropf arbeitet sich u.a. an einer Jugendkultur ab, deren Weltbild sich aus dem Web und den sozialen Netzwerken speist, für die Internet-Stars zentrale Identifikationsfiguren sind und das eigene Selbstwertgefühl auf der ständigen Interaktion mit einer virtuellen Community fußt. fkl

11. Juni, 20.15-23.00

arte

Ein Abend mit Cary Grant „Jeder will Cary Grant sein. Sogar ich“, erklärte der britische Schauspieler mit dem unwiderstehlichen Lächeln einmal – ein Bonmot, mit dem er treffend auf die Unterschiede zwischen seinem Leinwand-Image und seinem wahren Wesen aufmerksam machte. Das unerschütterliche Selbstbewusstsein, das er mit seinem einzigartigen Charme versah, war ihm nur auf der Leinwand eigen, während er im Privatleben zahlreiche Krisen durchmachte. Im Dokumentarfilm „Cary Grant – Der smarte Gentleman aus Hollywood“ (22.05-23.00) von Mark Kidel werden unter Rückgriff auf Grants unveröffentlichte Autobiografie einige dieser Schattenseiten dargelegt, so etwa das kindliche Trauma der Trennung von der Mutter und eine LSD-Therapie in späteren Jahren, die ihm tatsächlich gegen seine Ängste half. Neben Filmausschnitten sind in der Dokumentation auch Amateurfilme von Grant zu sehen, bei denen er seine Umwelt, aber auch Unbekannte festhielt. Vor diesem Einblick in ein wechselhaftes Leben präsentiert arte mit „Charade“ (20.15-22.05) einen der beliebtesten Grant-Klassiker, in dem der seinerzeit knapp 60-Jährige der fragilen Audrey Hepburn seine starken Schultern leiht und den Altersunterschied gekonnt mit Selbstironie – etwa einem Duschgang in voller Bekleidung – ausgleicht.

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