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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur
C I T YG U I D E
Kinobesuch in Brüssel
DIE BELGISCHE METROPOLE BIETET HISTORISCHES, KURIOSES UND SURREALES
DE
€ 4,50 | www.filmdienst.de 66. Jahrgang | 6. Juni 2013
12|2013
Julie Delpy In „Before Midnight“ trifft die französische Aktrice erneut auf Ethan Hawke
LITERATUR
Neues über Hitchock
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT
• Von „A“ wie Alien bis „Z“ wie Zombie: 2013 kommt eine Flut an Science-Fiction-Stoffen ins Kino. • Welche Trends prägen das Genre? Und: Wie zukunftfähig ist die aktuelle Blüte?
das FILmFestIvaL In cannes
Soderbergh, Redford, Ozon, Kechiche, die Coen-Brüder, Lanzmann... Die Höhepunkte des diesjährigen Festivals
40
Seiten Fernsehbeilage
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FilmDienSt 12 | 2013
alle Filme im TV vom 8.6. bis 21.6. Das Extraheft Alle Filme im TV 40 Seiten Extra-Heft: Kritiken 80.000 Film-
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THE BIG EASY 16.6. Bayern 3
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VERDAMMT, WIR LEBEN NOCH! 12.6. EinsFestival
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ERIK, DER WIKINGER 17.6. SWR HANNAH 21.6. arte
chichten Subtile Reise- und Liebesges Nichts als Gespenster Animationsfilmspaß esserlich Turbulenter Ich - Einfach unverb Land-Art-Doku and Tides Betörende Fluss der Zeit - Rivers
[13.6. ARTE] [12.6.
ZDF]
[18.6. RBB ]
Ich - Einfach unverbesserlich Animationsfilmspaß 12.6. ZDF Nichts als Gespenster Einfühlsamer Episodenfilm 13.6. ZDF Fluss der Zeit | Doku 18.6. RBB
So modebewusst wie in „men in Black 3“ sind nur die wenigsten aliens. Ein Blick auf Trends im Science-FictionGenre. S. 10
Julie Delpy ist nicht nur im Schauspieler„paarlauf“ mit lebensgefährte Ethan Hawke erfolgfreich, sondern auch als Regisseurin.
Kino 10
Akteure
BLICK ZURÜCK NACH VORN Seit „Avatar“ sind Aliens, Klone, Riesenroboter und Raumschiffe auf dem Vormarsch. In den nächsten Monaten erobern sie nahezu jede Leinwand. Ein Überblick über die fantastische Welt des Science-Fiction-Films. Von Felicitas Kleiner + Sci-Fi-Games und neue Serien
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FD-CITYGUIDE (II): BRÜSSEL KURIOUS BIS SURREAL Unterwegs im „Petit Paris“ zwischen Justizpalast und Atomium. Mit wenigen Kinos, aber einer überragenden Cinemathek und zahlreichen Filmfestivals präsentiert die europäische Hauptstadt ihre cinephile Seele. Ihr berühmtestes Wahrzeichen, den Manneken Pis, kann dabei durchaus mal in ein Dracula-Kostüm gesteckt werden. Von Marguerite Seidel
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DAS „FALSCHE“ UND DAS „RICHTIGE“ LEBEN Seit 18 Jahren kabbeln sich Julie Delpy und Ethan Hawke in der „Before“-Trilogie von Richard Linklater. Ein Doppelporträt zum Kinostart von „Before Midnight“. Von Josef Schnelle + Julie Delpys Ausflüge ins Regiefach
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HITCHCOCK ZUM LESEN Ein altes Filmbuch, fundiert neu aufbereitet: Erich Rohmer und Claude Chabrols Standardwerk über den Meister des Grauens. + weitere Literatur-Tipps. Von Horst Peter Koll
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AN VERHEISSUNGSVOLLEN ORTEN Anne Wilds ungewöhnliche Familiengeschichte „Schwestern“ eröffnet am 13. Juni das Festival des Deutschen Films. Ein Gespräch mit der Regisseurin über die Sinnsuche ihrer Figuren und das Finden von Bildern. Von Horst Peter Koll
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IN MEMORIAM Die Hollywood-Diva Deanna Durbin und der deutsche Autorenfilmer Peter Sehr sind gestorben. Zwei Nachrufe.
Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4
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S. 48
Was hat eine MarienErscheinung mit dem arabischen Frühling zu tun? Der Dokumentarfilm „Die Jungfrau, die Kopten und ich“ (S. 39) enthüllt die Zusammenhänge.
y m rt e e h, s n.
Neue Filme
Film-Kunst
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Titel: Picture Alliance/Mary Evans Picture Library. S. 4/5: Sony Pic./Filmfestspiele Cannes/Alamode/Arsenal/Universal/Kinostar
PARIS & ICH Cannes, die 66. Die Internationalen Filmfestspiele an der Croisette schlugen den Bogen zwischen Glamour auf dem roten Teppich und anspruchsvoller Filmkunst auf der Leinwand. Eine Nachlese aus dem Wettbewerb und den Nebensektionen. Von Josef Lederle, Margret Köhler und Andrea Dittgen
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Before Midnight [6.6.]
Während das Franchise-Kino zum sechsten Mal „Fast & Furious“ über die Leinwand jagt, geht es im europäischen Arthouse kultiviert ans Eingemachte. Etwa in „Ihr werdet Euch noch wundern“ von Altmeister Alain Resnais.
Berberian Sound Studio [13.6.] Clara und das Geheimnis der Bären [6.6.] Fast & Furious 6 [23.5.] Fuck for Forest [13.6.] Hangover Part III [30.5.] Ihr werdet euch noch wundern [6.6.] Die Jungfrau, die Kopten und ich [13.6.] Olympus Has Fallen [13.6.]
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s. IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN
KInotIPP der katholischen Filmkritik
S. 40 OBEN IST ES STILL [13.6.] Drama von Nanouk Leopold
Schaulaufen anlässlich der Premiere von „Jimmy P.“
41 46 45 47 47 47
Orania [13.6.]
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Tango libre [13.6.] The Place Beyond the Pines [13.6.]
s. FAST & FURIOUS 6
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Seelen [13.6.]
s. ORANIA
Snitch - Ein riskanter Deal [6.6.] Das wundersame Leben des Timothy Green [9.5.]
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MAGISCHE MOMENTE Roberto Rossellini holte den Hollywood-Star Ingrid Bergman nach Italien. Dort drehte das Paar Mitte der 1950erJahre einen bis heute ergreifenden Film über eine Ehe in der Krise - vor der Vulkanlandschaft des Vesuvs und den Ruinen Pompejis: „Reise in Italien“ („Viaggio in Italia“). Von Rainer Gansera
Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über den Kampf zwischen Franchiseund Konzeptfilmen (S. 27):
Der KinoSommer 2013 wird zum Härtetest. Kritiken und Anregungen?
RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum
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Das „falsche“ und das „richtige“ Leben Mit „Before Midnight“ beendet Richard Linklater seine Trilogie um die Französin Céline und den Amerikaner Jesse. Gespielt werden die beiden erneut von Julie Delpy und Ethan Hawke. Ein Doppelporträt. Von Josef Schnelle
Auch in Richard Linklaters philosophischem Animationsfilm „Waking Life“ begegnet man „seinem“ Paar Céline und Jesse
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Urlaubsstimmung in „Before Midnight“
Delpy-Hawke
Z
unächst trafen sie sich im Zug nach Wien und verbrachten eine ganze Nacht miteinander, immer nur redend, über die Liebe, über das Leben. Das war im Jahr 1994. Endgültig zueinander fanden die Französin Céline und der Amerikaner Jesse in „Before Sunrise“, dem ersten Film der Trilogie des amerikanischen Regisseurs Richard Linklater dann aber noch nicht. Gleichwohl war es eine außerordentliche Begegnung – in einer kleinen Episode von Linklaters philosophischem Animationsfilm „Waking Life“ konnte man sie sieben Jahre später noch einmal nachschmecken. Es sollten dann insgesamt fast zehn Jahre vergehen, bevor Céline und Jesse in „Before Sunset“ erneut aufeinandertrafen, wieder zufällig, diesmal in Paris. Der 1994 begonnene Dialog der beiden war unterbrochen von anderen Beziehungen – aber noch nicht auserzählt im Film aus dem Jahr 2004, an dessen Ende alles offen blieb. Weitere neun Jahre später nehmen die beiden ihr Gespräch in „Before Midnight“ wieder auf. Vor der Kulisse Griechenlands ist es nun „erwachsen“ geworden. Es dreht sich erneut um die kleinen und die großen Beziehungsunfälle und um den Kitt, der eine langjährige Beziehung zusammenhält. Man sagt, Liebe sei ein langer, immerwährender Dialog mit Nähe und Ferne und allem, was sonst noch dazugehört. Richard Linklater, Julie Delpy und Ethan Hawke haben ihre filmische Konversation zum Thema Liebe inzwischen über knapp zwei Jahrzehnte hinweg geführt. Zwischendurch sind die beiden Schauspieler immer wieder ihre eigenen Wege gegangen, um dann wieder in einer neuen „Before“- Episode zusammenzufinden. Sie sind dabei gealtert, aufgeblüht, verblasst und schließlich weise geworden. Nur François Truffaut hat im Spielfilm mit seinem Antoine-Doinel-Zyklus von „Sie küssten und sie schlugen ihn“ bis zu „Liebe auf der Flucht“ etwas Ähnliches gewagt: Er gestaltete das Le-
ben seiner Figur sogar über einen vergleichbaren Lebenszeitraum. So eine Vorgehensweise hat Folgen: Das „falsche“ und das „richtige“ Leben der Figuren und Schauspieler scheinen zu verschmelzen. Jesse wird gespielt von Ethan Hawke, Céline von Julie Delpy. Als sich die beiden erstmals in „Before Sunrise“ im Zug trafen, konnte man das noch für einen harmlos-heiteren (und gelegentlich zu verschwatzten) Spaß halten. Damals rühmte die eine Kritikerfraktion die Leichtigkeit des Films, die andere empfand ihn als belanglos. In jedem Fall aber waren die beiden Schauspieler definitiv ins Scheinwerferlicht gerückt. Zum Beispiel Ethan Hawke, der bereits als 14-Jähriger erste Rollen übernommen hatte und dessen Vorname von John Waynes Figur aus „Der schwarze Falke“ stammen soll. 1989 hatte er mit nur 19 Jahren Filmgeschichte (mit-)geschrieben: als erster der Schüler, die für Robin Williams in „Der Club der toten Dichter“ auf die Pulte steigen und Walt Whitmans Gedicht „O Captain! My Captain!“ rezitieren. Der Film von Peter Weir ist bis heute Ethan Hawkes kommerziell erfolgreichster Werk geblieben. In „Reality Bites – Voll das Leben“ verkörperte er 1994 die Generation X, demonstrierte seine Sicht des Erwachsenwerdens und kassierte einen „MTV-Award“ in der Kategorie „Best Kiss“, gemeinsam mit Winona Ryder. In der Anti-Utopie „Gattaca“ (1997) spielte einen natürlich gezeugten Menschen, der eine Gesellschaft genetisch perfekter Individuen infiltriert, in „Training Day“(2001) – einem seiner wenigen „echten“ Mainstream-Filme – einen ratlosen jungen Cop an der Seite von Denzel Washington. Das Wiedersehen mit Julie Delpy in „Before Sunset“ im Jahr 2004 muss Hawke dann wie ein Erholungsurlaub vorgekommen sein; gemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Filmpartnerin durfte er am Buch mitarbeiten, was den beiden sogar „Oscar“-Nominierung in der Kategorie Drehbuch einbrachte.
AKteuRe
TRILOGIE DER TAG E S Z E I T E N beFore sunrIse (1994)
Blutjung sind die Pariserin Céline und der Amerikaner Jesse, als sie sich im Zug begegnen. Wien dient als gemeinsamer Ausstiegspunkt, zu dem sich Céline von Jesse überreden lässt. Fasziniert voneinander und von der Spontaneität der Situation lassen sie sich durch Wien treiben, küssen sich im Riesenrad des Praters und geben sich am nächsten Morgen das Versprechen, sich in sechs Monaten wiederzusehen.
beFore sunset (2004)
Neun Jahre nach Wien treffen sich Jesse als erfolgreicher Schriftsteller und die Umweltaktivistin Céline zufällig in Paris. Wegen des Todes ihrer Großmutter musste Céline das Wiedersehen damals platzen lassen, nun befinden sich beide in neuen Partnerschaften Dass sie eigentlich zusammengehören, lässt sich nicht verhehlen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wird eine Liebe weitererzählt, die nur noch auf ihre Fortsetzung wartete.
beFore mIdnIGht (2013)
Julie delpy auf den spuren von woody allen Julie Delpy, 1969 in Paris geboren, hatte bereits zuvor Erfahrungen mit den großen Vertretern des europäischen Autorenkinos sammeln können: mit Jean-Luc Godard, Volker Schlöndorff und Krzysztof Kieslowski – mit letzterem in „Drei Farben: Weiß“ (1993). Ethan Hawke verlegte sich derweil aufs Theater, seine, wie er sagte, „erste Liebe“. Er gründete in Manhattan eine Theater-
Süße Zwillingstöchter, ein Sommerurlaub in Griechenland und die anstehende Entscheidung des Wohnorts, bei der Céline beruflich zurückstecken müsste, damit Jesse seinen Sohn aus erster Ehe näher sein kann. Mit Anfang 40 teilen Jesse und Céline seit Jahren ihr Leben, entsprechend aufgeladen sind ihre Gespräche, die trotz aller Streitigkeiten von der Romantik ihrer Beziehung erzählen.
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Delpy-Hawke
kompagnie, spielte viel Tschechow und schrieb zwei Romane, „Hin und weg“ und „Aschermittwoch“. Bei der Verfilmung von ersterem unter dem Titel „The Hottest State“ führte er 2007 auch Regie – allerdings nicht sehr erfolgreich. Delpy trieben ernsthaftere Ambitionen als Regisseurin um, schließlich hatte sie ein Regiestudium an der Filmhochschule in New York abgeschlossen. Ab 2006 spielte sie fast nur noch in ihren eigenen Filmen die Hauptrolle. Ihr Debüt vor und hinter der Kamera war die Komödie „2 Tage in Paris“ und wurde als moderne französische „Screwball-Comedy“ gelobt. Wie dieser Film beschäftigte sich auch die Fortsetzung „2 Tage in New York“ (2011) mit den kulturellen Unterschieden zwischen Frankreich und Amerika. Woody Allen hätte das Thema auch nicht besser präsentieren können. Merkwürdig vereinzelt im Regiewerk von Julie Delpy nimmt sich „Die Gräfin“ (2009) aus, die Verfilmung des Lebens der ungarischen „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory, die im 16. Jahrhundert jungen Mädchen buchstäblich das Blut auspresste, um für sich selbst die „ewige Jugend“ zu bewahren. Das blutrünstige Genrestück war seinerzeit umstritten, doch der Mut der Regisseurin wurde gelobt. Von solcher Drastik ist Linklaters „Before Midnight“ weit entfernt. Jesse und Céline waren vor neun Jahren tatsächlich zusammengeblieben, sind inzwischen längst miteinander verheiratet und haben zwei Töchter, Zwillinge, mit denen sie nun ihren Urlaub in Griechenland verbringen. Erneut drehen sich ihre Gespräche um die großen Fragen in einem gemeinsam verbrachten Leben: Warum sind sie überhaupt noch zusamJulie Delpy men? Was liegt noch vor ihnen? Die Leichtigkeit der Anfänge ist inzwischen ein wenig der gestrengen Betrachtung gewichen. Aber ist es im Leben nicht immer so? Ethan Hawke und Julie Delpy werden als Schauspieler und Filmkünstler jetzt wieder jeweils ihre eigenen Wege gehen. Aber vielleicht treiben sie in neun oder zehn Jahren wieder gemeinsam die Illusionsmaschine Kino an. Der vierte Film der Serie hieße dann womöglich „Before Darkness“ und würde sich mit den letzten Fragen des Lebens beschäftigen. Es mag den beiden Schauspielern nicht immer gefallen, aber Richard Linklaters „Trilogie der Tageszeiten“ hat sie auf ewig miteinander verbunden.
„Wir greifen auf uns selbst zurück und hoffen, dass sich die Figuren real anfühlen.
“
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Was liegt noch vor ihnen? Céiine und Jesse im Griechenland-Urlaub
Julie Delpy dreht „2 Tage Paris“
Nahrung für Auge und Ohr: Julie Delpy und ihre filmischen Seitensprünge
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eit nunmehr 18 Jahren spielen sich Julie Delpy als Céline und Ethan Hawke Jesse in Richard Linklaters „Before“-Trilogie die Bälle zu. Immer wieder leicht, wie improvisiert wirkt es, wenn die beiden ihre kleinen Neurosen über Eltern, Liebe, Leben und den eigenen Nachwuchs auspacken, in Wien, Paris und nun in Griechenland. Was uns Linklater, Delpy und Hawke bis heute im Neunjahrestakt präsentierten, ist eine liebenswerte bilaterale Völkerverständigung zwischen einer lebensfrohen Französin und einem bodenständigen Amerikaner auf europäischem Boden ein durchschlagendes Erfolgskonzept. Warum es also nicht auf die eigenen Regiearbeiten anwenden? Als geborene Pariserin mit RegieStudium in New York und Wohnsitz in Los Angeles muss der CultureClash für Julie Delpy ohnehin täglich Brot sein. So verwundert es kaum, dass sie sich als Französin Marion in den Filmen „2 Tage Paris“ (2006) und „2 Tage New York“ (2011), ihren beiden köstlichen Komödien in Eigenregie, erneut mit Amerikanern „verkuppelte“ – und dabei gleich mal die eigenen Eltern als Filmeltern engagierte. Mit Jack (Adam Sand-
berg) unternahm Marion eine Stippvisite bei ihrer kauzigen Laissez-faire-Familie in deren eigentlichem Habitat. Den zwei Tagen in Paris folgten fünf Jahre später zwei Tage in New York, als Marions Familie zum Gegenschlag blies und sich in der New Yorker Wohnung von Marions neuem Freund Mingus (Chris Rock) einpflanzte, mit dem die Französin mittlerweile eine Patch-Work-Familie gegründet hat. Charmant, aber ungehöriger als in Linklaters Trilogie präsentieren sich die kleinen Schlagabtäusche auf kulturellen, kulinarischen und emanzipatorischen Schlachtfeldern, die sich Marion und Anhang mit Jack und später mit Mingus liefern. Julie Delpys Filme in den Gassen und Galerien der Metropolen und in der Tradition von Woody Allen sind Nahrung für Auge und Ohr. Dabei kopieren sie Linklaters Filme nicht einfach, sondern wirken eher wie kleine Ergänzungen, in denen Delpy durch Marion all das sagen, fühlen und durchleben konnte, was ihr zum Wohle der Langzeitbeziehung mit Jesse verwehrt blieb. häg
8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e The Place Beyond the Pines Thriller-Drama
[start 13.6.]
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inHalT
Thema und Gehalt der erz채hlten Geschichte.
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Die Leistungen der Schauspieler.
Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte
Ihr werdet euch noch wundern
Vexierspiel zwischen Film und Theater
[start 6.6.]
Orania
Dokumentarfilm
[start 13.6.]
Before Midnight von Richard Linklater [stARt 6.6.] Die Jungfrau, die Kopten und ich von Namir Abdel Messeeh Oben ist es still von Nanouk Leopold [stARt 13.6.]
S. 38 [stARt 13.6.]
S. 39 S. 40
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im Kino
Ihr werdet euch noch wundern [6.6.]
Eurydike revisited
In Alain Resnais’ neuem Film durchdringen sich Bühne und Film Schon der Vorspann zeugt von der Durchdringung heterogener Formen, einer Mischung aus Soap und Historienstück: antike Darstellungen von Orpheus und Eurydike vor rosa-blauem Wolkenhimmelkitsch. Mit einer Vorführung in Wiederholung und Vermischung von Schauspieler- und Figurenidentität geht es seltsam weiter. 13 Schauspieler, die mit ihrem richtigen Namen vorgestellt werden – darunter etwa Sabine Azéma und Pierre Arditi, Darsteller, die seit Jahrzehnten für das Kino von Alain Resnais stehen – erhalten einen Anruf mit der Todesnachricht des gefeierten Theaterautors Antoine d’Anthac und eine Einladung, sich in dessen feudalem Landhaus
einzufinden. Man sieht sie jeweils im Halbprofil, den Telefonhörer am Ohr, abwechselnd am linken und rechten Bildrand. Wenn die Schauspieler im Anschluss nacheinander den Salon von Antoine betreten, die Zugluft der geöffneten Tür dabei immer wieder ein paar Herbstblätter ins Innere weht und im Hintergrund die Sicht auf eine gemalte Landschaft eröffnet wird, haben sich Film und Theater schon längst gegenseitig durchdrungen. Die Tür stellt in „Ihr werdet euch noch wundern“ ein wiederkehrendes Motiv dar: ein Portal in eine andere, auch ästhetische Wirklichkeit. Die meisten Übergänge von einer in die andere Kunst- und Darstellungsform sind jedoch fließend
und unsichtbar, das erst erzeugt den wahren Schwindel in Resnais’ Film. Die versammelten Freunde haben alle zu verschiedenen Zeiten in Antoines Stück „Eurydike“ mitgewirkt (das Drehbuch basiert im Übrigen auf Jean Anouilhs Eurydike-Modernisierung von 1941) und sollen nun die auf Video aufgezeichnete Inszenierung einer jungen Theatertruppe begutachten. Während also der Film ständig Formen des Bühnenhaften, Künstlichen einbaut, dringt mit der Videoaufzeichnung etwas (Medien) fremdes ein. Das Theaterstück, das der Regisseur Bruno Podalydès ohne Einmischungen von Resnais inszeniert hat, folgt einer gänzlich anderen Ästhetik. Das Setting ist weitaus weniger gesetzt und artifiziell – ein Fabrikgebäude, alte Ölfässer stehen herum, die Schauspieler tragen moderne Alltagskleidung – die Kamera ist bewegt und konterkariert die visuelle Präzision des Resnais’schen Scope. VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU Frankreich/Deutschland 2012 Regie: Alain Resnais Buch: Alain Resnais, Laurent Herbiet Kamera: Eric Gautier musik: Mark Snow Schnitt: Hervé de Luze Darsteller: Mathieu Amalric (M. Henri), Denis Podalydès (Antoine), Handwerk
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InHalt
Films. Dabei wird die eine Form durch die andere eingerahmt: die Videoleinwand nämlich ist in die marmorne Wand eingelassen, der wiederum ein bewegliches Landschaftsbild als Vorhang dient. Allmählich nimmt das EurydikeStück Besitz von den Schauspielern – und dem Film. Haben sie den Text anfangs noch verhalten mitgesprochen – als erinnerten Text, noch leicht zeitverzögert – gehen sie nun ganz in ihrer Rollenidentität auf. Die Sprache wird zu neuem Leben erweckt und löst sich von der Reproduktion; aus dem Zitat wird ein gelebter (oder einfach nur brillant gespielter) Affekt. Der Text scheint dabei permanent zu zirkulieren: zwischen Leinwand und Publikum, aber durch die Mehrfachbesetzung einiger Rollen auch unter Antoines Mitstreitern. Orpheus und Eurydike gibt es etwa in drei verschiedenen Altersklassen, manche Rollen dagegen nur einmal. Auf diese Weise steht Mathieu Amalric, der den Kellner spielt, plötzlich in einer doppelten Inszenierung, einmal mit Lambert Wilson, ein anderes Mal mit Pierre Arditi. Schöne Verwirrung entsteht auch durch das räumliche Spiel. So ist Hippolyte Girardot (Dulac), Anny Duperey (Mutter), Michel Piccoli (Vater), Lambert Wilson (Orpheus), Andrzej Seweryn (Marcellin) länge: 115 Min. FSK: o. A.; f Verleih: Alamode Kinostart: 6.6.2013 FD-Kritik: 41 746 darsteller
Fotos: Jeweilige Verleiher
neue Filme
Fotos: Jeweilige Verleiher
das Haus von Antoine mit den Schauplätzen des Stücks aufs Merkwürdigste verbunden und die Schauspieler finden sich von einem Moment auf den anderen plötzlich auf einem Bahnsteig, in einer Wartehalle oder in einem Hotelzimmer wieder. Eine Übung in Dekonstruktion ist „Ihr werdet euch noch wundern“ dennoch nicht, auch wenn Resnais sicherlich keinen Stein auf dem anderen lässt. Wenn etwa Eurydike fürchtet, dass Orpheus sie ansieht und damit dem Tod weiht, schraubt sich das Spiel der Schauspieler zu höchster Intensität hoch. Nur Verlass ist darauf nicht. Was hinter der Tür – oder nach dem nächsten Schnitt, dem nächsten Atemzug – wartet, ist ungewiss: „Vous n’avez encore rien vu.“ Sie haben noch nichts gesehen. Esther Buss
BEWERTunG DER FilmKommiSSion Nach dem Tod eines Theaterautors versammeln sich 13 Schauspieler in seinem Haus, um sich die „Eurydike“-Aufzeichnung einer jungen Truppe anzusehen. Während des Screenings verstricken sich die Trauergäste, die zu verschiedenen Zeiten alle einmal selbst in einer der vielen „Eurydike“-Inszenierungen des Toten mitgewirkt haben, zunehmend in dem Stoff, wobei sich Darsteller- und Rollenidentität ebenso vermischen wie Fiktion und Wirklichkeit, Leben und Tod. Ein brillanter Film von Alain Resnais über Nachbarschaften und Differenzen von Film und Theater. – Sehenswert ab 16.
Fast & FurIous 6 [23.5.]
Die ganz große Sause
Eine Schippe Eskalation: Action jenseits der Schwerkraft „Harder, Better, Faster, Stronger“, so lautet der Titel eines bereits etwas älteren Tracks der aktuellen Band der Stunde: Daft Punk. Und so könnte auch – mit ein paar verzeihlichen Abstrichen beim „Better“ – das Motto des Adrenalin-Benzin-Franchise „Fast & Furious“ lauten. Härter die Action, besser die Effekte, schneller die Geschwindigkeit der Fahrzeuge und des Erzählens, aufgepumpter die Oberkörper der beiden männlichen Protagonisten und „tougher“ die Ladies. Gemäß der Überwältigungslogik der mega-erfolgreichen Filmreihe wird stets eine Schippe „Eskalation“ draufgelegt – und dabei zugleich doch immer noch
die Erinnerung an die Anfänge gewahrt, als man noch ein B-Movie über illegale Autorennen in Kalifornien war. Nach dem sensationellen Coup von Rio sehen sich die Helden aus „F&F5“ inzwischen als Privatleute in alle Himmelsrichtungen zerstreut und vorerst ihrer Heimat beraubt. Sie sind zwar ihrer finanziellen Sorgen ledig, aber Geld ist für Menschen mit derart ausgeprägtem und dauernd artikuliertem Familiensinn eben nicht alles. Doch zum Glück gibt es ja noch ehemalige Soldaten von Spezialkommandos wie Owen Shaw, die zu Superterroristen mutiert sind, was dazu führt, dass sich die multikulturell
Scope. USA 2013
länge: 131 Min.
Regie: Justin Lin
FSK: ab ab 12; f Verleih: Universal (teils O.m.d.U.) FD-Kritik: 41 747
Darsteller: Vin Diesel (Dominic Toretto), Paul Walker (Brian O’Conner) Handwerk
InHalt
Ausführliche Kritiken zu jedem Film Online unter www.filmdienst.de
darsteller
bunt durchmischte Truppe von virtuosen Temposündern just von dem Superbullen anwerben lässt, der in „F&F5“ noch der bissigste Antipode war, um Owen das Handwerk zu legen. Nachdem die Helden zunächst einmal kräftig einstecken müssen, um ihren Widersachern dann geläutert gegenüberzutreten, nimmt der Film Fahrt auf und lässt bei schwindelerregenden Stunts auf der Straße, in der Luft und dazwischen die Gesetze der Schwerkraft außer Acht. Obwohl dabei die Fetzen fliegen und beide Teams reichlich Blutzoll zahlen müssen, geht das Ganze im Vergleich zu den aktuell gerne nostalgisch in Erscheinung tretenden Filmen wie „Drive“, „Jack Reacher“, „Parker“ oder „Killing Them Softly“ erstaunlich, ja geradezu herausfordernd und Popcornkino-kompatibel unblutig über die Bühne. – Ab 16 Ulrich Kriest
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